kam ihm aber doch zu Bewußtsein, was er durch diese innerliche Abhängigkeit einbüßte. Er fühlte, daß ihm alles, was er tat, nur ein Spiel war. Nur etwas, das ihm half, über die Zeit dieser Larvenexistenz im Institute hinwegzukommen. Ohne Bezug auf sein eigentliches Wesen, das erst dahinter, in noch unbestimmter zeitlicher Entfernung kommen werde.
Wenn er nämlich bei gewissen Gelegenheiten sah, wie sehr seine beiden Freunde diese Dinge ernstnahmen, fühlte er sein Verständnis versagen. Er hätte sich gerne über sie lustig gemacht, hatte aber doch Angst, daß hinter ihren Phantastereien mehr Wahres stecken könnte, als er einzusehen vermochte. Er fühlte sich gewissermaßen zwischen zwei Welten zerrissen: Einer solid bürgerlichen, in der schließlich doch alles geregelt und vernünftig zuging, wie er es von zu Hause her gewohnt war, und einer abenteuerlichen, voll Dunkelheit, Geheimnis, Blut und ungeahnter Überraschungen. Die eine schien dann die andere auszuschließen. Ein spöttisches Lächeln, das er gerne auf seinen Lippen festgehalten hätte, und ein Schauer, der ihm über den Rücken fuhr, kreuzten sich. Ein Flimmern der Gedanken entstand …
Dann sehnte er sich danach, endlich etwas Bestimmtes in sich zu fühlen; feste Bedürfnisse, die zwischen Gutem und Schlechtem, Brauchbarem und Unbrauchbarem schieden; sich wählen zu wissen, wenn auch falsch – besser doch, als überempfänglich alles in sich aufzunehmen …
Als er in die Kammer getreten war, hatte sich diese innere Zwiespältigkeit, wie stets an diesem Orte, wieder seiner bemächtigt.
Reiting hatte unterdessen zu erzählen angefangen:
Basini war ihm Geld schuldig gewesen, hatte ihn von einem Termin zum andern vertröstet; jedesmal unter Ehrenwort. «Ich hatte ja soweit nichts dagegen», meinte Reiting, «je länger es so ging, desto mehr wurde er von mir abhängig. Ein drei-oder vierfach gebrochenes Ehrenwort ist am Ende doch keine Kleinigkeit? Aber schließlich brauchte ich mein Geld selbst. Ich machte ihn darauf aufmerksam, und er schwor hoch und heilig. Hielt natürlich wieder nicht Wort. Da erklärte ich ihm, daß ich ihn anzeigen würde. Er bat um zwei Tage Zeit, weil er eine Sendung von seinem Vormunde erwarte. Ich aber erkundigte mich einstweilen ein wenig um seine Verhältnisse. Wollte wissen, von wem er etwa noch abhängig sei; man muß doch damit rechnen können.
Was ich erfuhr, war mir nicht gerade angenehm. Er hatte bei Dschjusch Schulden und noch bei einigen anderen. Einen Teil davon hatte er schon gezahlt, natürlich von dem Gelde, das er mir schuldig blieb. Die anderen brannten ihm unter den Nägeln. Mich ärgerte das. Hielt er mich für den Gutmütigsten? Das wäre mir kaum sympathisch gewesen. Aber ich dachte mir: «Abwarten. Es wird sich schon Gelegenheit finden, ihm solche Irrtümer auszutreiben.» Gesprächsweise hatte er mir einmal die Summe des erwarteten Betrags genannt, um mich zu beruhigen, daß diese größer sei als mein Guthaben. Ich fragte nun genau herum und brachte heraus, daß für die Gesamtsumme der Schulden der Betrag beiweitem nicht ausreiche. «Aha,» dachte ich mir, «jetzt wird er es wohl noch einmal probieren.»
Und richtig kam er ganz vertraulich zu mir und bat, weil die andern so sehr drängten, um ein wenig Nachsicht. Ich blieb aber diesmal ganz kalt. «Bettel die andern,» sagte ich ihm, «ich bin nicht gewohnt, nach ihnen zu kommen.» «Dich kenne ich besser, zu dir habe ich mehr Vertrauen», versuchte er. «Mein letztes Wort: Du bringst mir morgen das Geld oder ich lege dir meine Bedingungen auf.» «Was für Bedingungen?» erkundigte er sich. Das hättet ihr hören sollen! Als ob er bereit wäre, seine Seele zu verkaufen. «Was für Bedingungen? Oho! Du mußt mir in allem, was ich unternehme, Gefolgschaft leisten.» «Wenn es weiter nichts ist? Das tue ich gewiß, ich halte von selbst gerne zu dir.» «Oh, nicht nur wenn es dir Vergnügen macht; du mußt ausführen, was immer ich will, – in blindem Gehorsam!» Jetzt sah er mich so schief, halb grinsend und halb verlegen, an. Er wußte nicht, wie weit er sich einlassen könne, wie weit es mir Ernst sei. Er hätte mir wahrscheinlich gerne alles versprochen, aber er mußte wohl fürchten, daß ich ihn nur auf die Probe stelle. Schließlich sagte er daher und wurde rot: «Ich werde dir das Geld bringen.» Mir machte er Spaß, das war so ein Mensch, den ich bisher unter den fünfzig anderen gar nicht beachtet hatte. Er zählte doch nie mit, nicht? Und nun war er mir plötzlich so ganz nahe getreten, daß ich ihn bis ins kleinste sah. Ich wußte gewiß, daß der bereit sei, sich zu verkaufen; ohne viel Aufhebens, wenn nur niemand darum wußte. Es war wirklich eine Überraschung, und es gibt gar nichts Schöneres, als wenn einem ein Mensch plötzlich auf solche Weise offenbar wird, seine bisher unbeachtete Art zu leben plötzlich vor einem liegt wie die Gänge eines Wurms, wenn das Holz entzwei springt …
Am nächsten Tage brachte er mir richtig das Geld. Ja mehr als das, er lud mich ein, mit ihm im Kasino etwas zu trinken. Er bestellte Wein, Torte, Zigaretten und bat mich, mir aufwarten zu dürfen – aus «Dankbarkeit», weil ich so geduldig gewesen sei. Mir war nur unangenehm, daß er dabei so furchtbar harmlos tat. So als ob nie zwischen uns ein verletzendes Wort gefallen wäre. Ich deutete darauf hin; er wurde nur noch herzlicher. Es war so, als ob er sich mir entwinden, sich mir wieder gleichsetzen wollte. Er machte sich von nichts mehr wissen, mit jedem zweiten Worte drängte er mir eine Beteuerung seiner Freundschaft auf; nur in seinen Augen war etwas, das sich an mich klammerte, als ob er sich fürchte, das künstlich geschaffene Gefühl der Nähe wieder zu verlieren. Schließlich wurde er mir zuwider. Ich dachte: «glaubt er denn, ich müsse mir das gefallen lassen?» und sann nach, wie ich ihm eins moralisch vor den Kopf geben könnte. Nach etwas recht Verletzendem suchte ich. Dabei fiel mir ein, daß mir Beineberg am Morgen erzählt hatte, ihm sei Geld gestohlen worden. Ganz nebenbei fiel es mir ein. Aber es kehrte wieder. Und es schnürte mir förmlich den Hals zusammen. ‹Es käme doch wunderbar gelegen›;, dachte ich mir und fragte ihn beiläufig, wieviel Geld er denn noch besitze. Die Rechnung, die ich daraufhin anstellte, stimmte. «Wer war denn so dumm, dir trotz allem noch Geld zu borgen?» fragte ich lachend. «Hofmeier.»
Ich glaube, ich zitterte vor Freude. Hofmeier war nämlich zwei Stunden vorher bei mir gewesen, um sich selbst etwas Geld zu entleihen. So war das, was mir vor ein paar Minuten durch den Kopf gefahren war, plötzlich Wirklichkeit geworden. Nicht anders, als wenn du zufällig, scherzend denkst: Dieses Haus sollte jetzt brennen, und im nächsten Augenblick schießt das Feuer schon meterhoch empor …
Ich überschlug rasch noch einmal alle Möglichkeiten; freilich, Gewißheit war ja nicht zu gewinnen, aber mein Gefühl genügte mir. So neigte ich mich denn zu ihm hin und sagte in wirklich liebenswürdigster Weise, so als ob ich ihm ganz sanft ein schlankes, spitzes Stäbchen ins Gehirn hineintriebe: «Schau doch, lieber Basini, warum willst du mich anlügen?» Wie ich das sagte, schienen seine Augen ängstlich im Kopfe zu schwimmen, ich aber fuhr fort: «Du kannst ja vielleicht bald jemandem etwas vormachen, aber gerade ich bin nicht der Richtige. Du weißt doch, Beineberg. …» Er wurde nicht rot und nicht bleich, es schien, als warte er auf Lösung eines Mißverständnisses. «Na, um es kurz zu machen,» sagte ich da, «das Geld, wovon du mir deine Schuld bezahltest, hast du heute nacht aus Beinebergs Schublade genommen!»
Ich lehnte mich zurück, um den Eindruck zu beobachten. Er war kirschrot geworden; die Worte, an denen er würgte, trieben ihm den Speichel auf die Lippen; endlich vermochte er zu sprechen. Es war ein ganzer Guß von Beschuldigungen gegen mich: wie ich mich unterstehen könne, so etwas zu behaupten; was denn eine solche schimpfliche Vermutung auch nur im entferntesten rechtfertige; daß ich nur Streit mit ihm suche, weil er der Schwächere sei; daß ich es nur aus Ärger tue, weil er nach Zahlung seiner Schulden von mir erlöst sei; daß er aber die Klasse anrufen werde, … den Präfekten, … den Direktor; daß Gott seine Unschuld bezeugen möge, und so weiter ins Unendliche. Mir wurde wirklich schon bange, daß ich ihm unrecht getan und ihn unnötig verletzt habe, so hübsch stand ihm die Röte im Gesicht; … wie ein gequältes, wehrloses, kleines Tierchen sah er aus. Aber es litt mich doch nicht, so ohne weiteres beizugeben. So hielt ich denn ein spöttisches Lächeln fest, – eigentlich fast nur aus Verlegenheit, – mit dem ich alle seine Reden anhörte. Hie und da nickte ich dazu und sagte ruhig: «Aber ich weiß es doch.»
Nach einer Weile wurde auch er ruhig. Ich lächelte weiter. Ich hatte ein Gefühl, als ob ich ihn durch dieses Lächeln allein zum Diebe machen könnte, selbst wenn er es noch nicht gewesen wäre. «Und zum Gutmachen», dachte ich mir, «ist auch später immer noch Zeit.»
Wieder nach einer Weile, während deren er mich von Zeit zu Zeit heimlich angesehen hatte,