zur Besserung zu geben, und meinten, daß man nicht gleich wegen eines kleinen Fehltrittes ein Menschenschicksal aus seiner Bahn stoßen dürfe. Um so mehr – und das betonten sie wie billig ganz besonders – als man es hier noch nicht mit fertigen Menschen zu tun habe, sondern erst mit weichen, in der Entwicklung begriffenen Charakteren. Man müsse Basini gegenüber wohl für jeden Fall Ernst und Strenge herauskehren, stets aber auch ihm mit Wohlwollen entgegentreten und ihn zu bessern suchen.
Dies erhärteten sie durch eine ganze Reihe von Beispielen, die Törleß wohlbekannt waren. Denn er erinnerte sich genau, daß viele in den ersten Jahrgängen, wo es die Direktion noch liebte, drakonische Sitten herauszukehren, und dem Taschengelde enge Grenzen zog, sich oft nicht enthalten konnten, Glücklichere von den gefräßigen Kleinen, die sie alle miteinander nun einmal waren, um einen Teil ihres Schinkenbrotes oder dergleichen zu betteln. Auch er selbst war nicht immer frei davon geblieben, wenn er auch seine Scham dahinter versteckte, daß er auf die boshafte, übelwollende Direktion schimpfte. Und nicht nur den Jahren, sondern auch den sowohl ernsten als gütigen Ermahnungen seiner Eltern dankte er es, daß er allmählich gelernt hatte, solche Schwächen mit Stolz zu vermeiden.
Aber all das verfehlte heute seine Wirkung.
Er mußte ja einsehen, daß seine Eltern in vieler Beziehung recht hatten, auch wußte er, daß es kaum möglich sei, so von fernher ganz richtig zu urteilen; ihrem Briefe schien jedoch etwas viel Wichtigeres zu fehlen.
Das war das Verständnis dafür, daß da etwas Unwiderrufliches geschehen sei, etwas, das unter Menschen eines gewissen Kreises nie geschehen dürfe. Das Staunen und die Betroffenheit fehlten. Sie sprachen, als ob es eine gewohnte Sache wäre, die man mit Takt, aber ohne viel Aufhebens erledigen müsse. Ein Makel, der so wenig schön, aber so unausweichlich ist wie die tägliche Notdurft. Von einer persönlicheren, beunruhigten Auffassung so wenig eine Spur wie bei Beineberg und Reiting.
Törleß hätte sich auch dies gesagt sein lassen können. Stattdessen zerriß er aber den Brief in kleine Stückchen und verbrannte ihn. Es geschah zum erstenmal in seinem Leben, daß er sich eine solche Pietätlosigkeit zuschulden kommen ließ.
In ihm war eine der beabsichtigten entgegengesetzte Wirkung ausgelöst worden. Im Gegensatze zu der schlichten Auffassung, die man ihm vortrug, war ihm mit einem Male wieder das Problematische, Fragwürdige von Basinis Vergehen eingefallen. Er sagte sich kopfschüttelnd, daß man darüber noch nachdenken müsse, obwohl er sich über das Warum keine genaue Rechenschaft geben konnte …
Am merkwürdigsten war es, wenn er mehr mit Träumen als mit Überlegungen dem nachging. Dann erschien ihm Basini verständlich, alltäglich, mit klaren Konturen, so wie ihn seine Eltern und seine Freunde sehen mochten: und im nächsten Augenblicke verschwand er und kam wieder, immer wieder, als eine kleine, ganz kleine Figur, die zeitweilig vor einem tiefen, sehr tiefen Hintergrunde aufleuchtete …
Da wurde Törleß einmal während der Nacht – es war sehr spät und alle schliefen schon – wachgerüttelt.
An seinem Bette saß Beineberg. Das war so ungewöhnlich, daß er sofort ahnte, es müsse sich um etwas Besonderes handeln.
«Steh auf. Aber mach keinen Lärm, damit uns niemand bemerkt; wir wollen hinaufgehen, ich muß dir etwas erzählen.»
Törleß kleidete sich flüchtig an, nahm seinen Mantel um und schlüpfte in die Hausschuhe …
Oben stellte Beineberg mit besonderer Sorgfalt alle Hindernisse wieder her, dann bereitete er Tee.
Törleß, welchem der Schlaf noch in den Gliedern lag, ließ sich von der goldgelben, duftenden Wärme mit Behagen durchströmen. Er lehnte sich in eine Ecke und machte sich klein; er erwartete eine Überraschung.
Endlich sagte Beineberg: «Reiting betrügt uns.»
Törleß fühlte sich gar nicht erstaunt; er nahm es wie etwas Selbstverständliches auf, daß die Angelegenheit irgendeine solche Fortsetzung finden mußte; ihm war fast, als hätte er nur darauf gewartet. Ganz unwillkürlich sagte er: «Ich habe es mir gedacht!»
«So? Gedacht? Aber bemerkt wirst du wohl kaum etwas haben? Das würde dir gar nicht ähnlich sehen.»
«Allerdings, mir ist nichts aufgefallen; ich habe mich auch weiter nicht darum gekümmert.»
«Aber dafür habe ich gut achtgegeben; ich traute Reiting vom ersten Tage an nicht. Du weißt doch, daß mir Basini mein Geld zurückgegeben hat. Und wovon glaubst du? Aus eigenem? – Nein.»
«Und du glaubst, daß Reiting seine Hand dabei im Spiele hat?»
«Gewiß.»
Im ersten Augenblicke dachte Törleß nichts anderes, als daß sich nun auch Reiting in eine solche Sache verwickelt habe.
«Du glaubst also, daß Reiting ebenso wie Basini …?»
«Wo denkst du hin! Reiting hat einfach von seinem eigenen Gelde das Nötige gegeben, damit Basini seine Schuld bei mir ablösen könne.»
«Dafür sehe ich aber doch keinen rechten Grund.»
«Das konnte ich auch durch lange Zeit nicht. Jedenfalls wird aber auch dir aufgefallen sein, daß sich Reiting von allem Anfang an so kräftig für Basini einsetzte. Du hast ja damals ganz recht gehabt; es wäre wirklich das natürlichste gewesen, wenn der Kerl hinausgeflogen wäre. Aber ich habe damals absichtlich nicht für dich gestimmt, weil ich mir dachte: ich muß doch sehen, was da alles noch mit im Spiele ist. Ich weiß zwar wirklich nicht genau, ob er damals schon ganz klare Absichten hatte oder nur zuwarten wollte, nachdem er Basinis ein für allemal versichert war. Jedenfalls weiß ich, wie es heute steht.»
«Nun?»
«Warte, das ist nicht so rasch erzählt. Du kennst doch die Geschichte, die vor vier Jahren im Institute stattgefunden hat?»
«Welche Geschichte?»
«Nun, die gewisse!»
«Nur beiläufig. Ich weiß bloß, daß es damals wegen irgendwelcher Schweinereien einen großen Skandal gegeben hat und daß eine ganze Anzahl deswegen strafweise entlassen werden mußte.»
«Ja, das meine ich. Ich habe näheres darüber einmal auf Urlaub von einem aus jener Klasse erfahren. Sie haben einen hübschen Burschen unter sich gehabt, in den viele von ihnen verliebt waren. Das kennst du ja, denn das kommt alle Jahre vor. Die aber haben damals die Sache zu weit getrieben.»
«Wieso?»
«Nun, … wie …?! Frag doch nicht so dumm! Und dasselbe tut Reiting mit Basini!»
Törleß verstand, worum es sich zwischen den beiden handelte, und er fühlte in seiner Kehle ein Würgen, als ob Sand darinnen wäre.
«Das hätte ich nicht von Reiting gedacht.» Er wußte nichts Besseres zu sagen. Beineberg zuckte die Achseln.
«Er glaubt uns betrügen zu können.»
«Ist er verliebt?»
«Gar keine Spur. So ein Narr ist er nicht. Es unterhält ihn, höchstens reizt es ihn sinnlich.»
«Und Basini?»
«Der?… Ist dir nicht aufgefallen, wie frech er in der letzten Zeit geworden ist? Von mir hat er sich kaum mehr etwas sagen lassen. Immer hieß es nur Reiting und wieder Reiting, – als ob der sein persönlicher Schutzheiliger wäre. Es ist besser, hat er sich wahrscheinlich gedacht, von dem einen sich alles gefallen zu lassen als von jedem etwas. Und Reiting wird ihm versprochen haben, ihn zu schützen, wenn er ihm in allem zu Willen ist. Aber sie sollen sich geirrt haben, und ich werde es Basini noch austreiben!»
«Wie bist du darauf gekommen?»
«Ich bin ihnen einmal nachgegangen.»
«Wohin?»
«Da nebenan auf den Boden. Reiting hatte von mir den Schlüssel zum andern Eingang. Ich bin dann hieher, habe vorsichtig das Loch freigemacht und mich an sie herangeschlichen.»
In die dünne Zwischenwand, welche die Kammer vom Dachboden trennte, war nämlich ein Durchlaß gebrochen, gerade so breit, daß sich ein menschlicher Körper hindurchzwängen konnte. Er sollte im Falle