Das mit Moral, Gesellschaft und so weiter, was du damals vorgebracht hast, kann natürlich nicht zählen; du hast hoffentlich selbst nie daran geglaubt. Du bist also vermutlich indifferent. Aber immerhin kannst du dich ja noch von der ganzen Sache zurückziehen, falls du nichts aufs Spiel setzen willst.
Mein Weg wird jedoch nicht zurück oder vorbei, sondern mitten hindurch führen. Das muß so sein. Auch Reiting wird nicht von der Sache lassen, denn auch für ihn hat es einen besonderen Wert, einen Menschen ganz in seiner Hand zu haben und sich üben zu können, ihn wie ein Werkzeug zu behandeln. Er will herrschen und würde dir es gerade so machen wie Basini, wenn die Gelegenheit zufällig dich träfe. Für mich handelt es sich jedoch noch um mehr. Fast um eine Verpflichtung gegen mich selbst; wie soll ich dir nur diesen Unterschied zwischen uns klar machen? Du weißt, wie sehr Reiting Napoleon verehrt: halte nun dagegen, daß der Mensch, welcher mir vor allen gefällt, mehr irgendeinem Philosophen und indischen Heiligen ähnelt. Reiting würde Basini opfern und nichts als Interesse dabei empfinden. Er würde ihn moralisch zerschneiden, um zu erfahren, worauf man sich bei solchen Unternehmungen gefaßt zu machen hat. Und wie gesagt, dich oder mich geradeso gut wie Basini und ohne daß es ihm im geringsten nahe ginge. Ich dagegen habe geradeso gut wie du diese gewisse Empfindung, daß Basini schließlich und endlich doch auch ein Mensch sei. Auch in mir wird etwas durch eine begangene Grausamkeit verletzt. Aber gerade darum handelt es sich! Förmlich um ein Opfer! Siehst du, auch ich bin an zwei Fäden geknüpft. An diesen einen, unbestimmten, der mich in Widerspruch zu meiner klaren Überzeugung an eine mitleidige Tatlosigkeit bindet, aber auch an einen zweiten, der zu meiner Seele hinläuft, zu innersten Erkenntnissen, und mich an den Kosmos fesselt. Solche Menschen wie Basini, sagte ich dir schon früher, bedeuten nichts – eine leere, zufällige Form. Die wahren Menschen sind nur die, welche in sich selbst eindringen können, kosmische Menschen, welche imstande sind, sich bis zu ihrem Zusammenhange mit dem großen Weltprozesse zu versenken. Diese verrichten Wunder mit geschlossenen Augen, weil sie die gesamte Kraft der Welt zu gebrauchen verstehen, die in ihnen gerade so ist wie außer ihnen. Aber alle Menschen, die bis dahin dem zweiten Faden folgten, mußten den ersten vorher zerreißen. Ich habe von schauerlichen Bußopfern erleuchteter Mönche gelesen, und die Mittel der indischen Heiligen sind ja auch dir nicht ganz unbekannt. Alle grausamen Dinge, die dabei geschehen, haben nur den Zweck, die elenden nach außen gerichteten Begierden abzutöten, welche, ob sie nun Eitelkeit oder Hunger, Freude oder Mitleid seien, nur von dem Feuer abziehen, das jeder in sich zu erwecken vermag.
Reiting kennt nur das Außen, ich folge dem zweiten Faden. Jetzt hat er in den Augen aller einen Vorsprung, denn mein Weg ist langsamer und unsicherer. Aber mit einem Schlage kann ich ihn wie einen Wurm überholen. Siehst du, man behauptet, die Welt bestünde aus mechanischen Gesetzen, an denen sich nicht rütteln lasse. Das ist ganz falsch, das steht nur in den Schulbüchern! Die Außenwelt ist wohl hartnäckig, und ihre sogenannten Gesetze lassen sich bis zu einem gewissen Grade nicht beeinflussen, aber es hat doch Menschen gegeben, denen das gelang. Das steht in heiligen, vielgeprüften Büchern, von denen die meisten nur nichts wissen. Von dorther weiß ich, daß es Menschen gegeben hat, die Steine und Luft und Wasser durch eine bloße Regung ihres Willens bewegen konnten und vor derem Gebete keine Kraft der Erde fest genug war. Aber auch das sind erst die äußerlichen Triumphe des Geistes. Denn wem es ganz gelingt, seine Seele zu schauen, für den löst sich sein körperliches Leben, das nur ein zufälliges ist; es steht in den Büchern, daß solche direkt in ein höheres Reich der Seelen eingingen.»
Beineberg sprach völlig ernsthaft, mit verhaltener Erregung. Törleß hielt noch immer fast ununterbrochen die Augen geschlossen; er fühlte Beinebergs Atem zu sich herüberdringen und sog ihn wie ein beklemmendes Betäubungsmittel ein. Indessen beendete Beineberg seine Rede:
«Du kannst also sehen, worum es sich mir handelt. Was mir einredet, Basini laufen zu lassen, ist von niederer, äußerlicher Herkunft. Du magst dem folgen. Für mich ist es ein Vorurteil, von dem ich los muß wie von allem, das von dem Wege zu meinem Innersten ablenkt.
Gerade daß es mir schwer fällt, Basini zu quälen, – ich meine, ihn zu demütigen, herabzudrücken, von mir zu entfernen, – ist gut. Es erfordert ein Opfer. Es wird reinigend wirken. Ich bin mir schuldig, täglich an ihm zu lernen, daß das bloße Menschsein gar nichts bedeutet, – eine bloße äffende, äußerliche Ähnlichkeit.»
Törleß verstand nicht alles. Er hatte nur wieder die Vorstellung, daß sich eine unsichtbare Schlinge plötzlich zu einem greifbaren, tödlichen Knoten zusammengezogen habe. Beinebergs letzte Worte klangen in ihm nach: «Eine bloße äußerliche, äffende Ähnlichkeit», wiederholte er sich. Das schien auch auf sein Verhältnis zu Basini zu passen. Bestand nicht der sonderbare Reiz, den dieser auf ihn ausübte, in solchen Gesichten? Einfach darin, daß er sich nicht in ihn hineindenken konnte und ihn daher stets wie in unbestimmten Bildern empfand? War nicht, als er sich vorhin Basini vorgestellt hatte, hinter dessen Gesicht ein zweites, verschwimmendes gestanden? Von einer greifbaren Ähnlichkeit, die sich doch an nichts anknüpfen ließ?
So kam es, daß Törleß, statt daß er über die ganz sonderbaren Absichten Beinebergs nachgedacht hätte, von den neuen, ungewöhnlichen Eindrücken halb betäubt, versuchte, über sich selbst klar zu werden. Er erinnerte sich an den Nachmittag, bevor er von Basinis Vergehen erfahren hatte. Da waren diese Gesichte eigentlich auch schon dagewesen. Es hatte sich immer etwas gefunden, womit seine Gedanken nicht fertig werden konnten. Etwas, das so einfach und so fremd erschien. Er hatte Bilder gesehen, die doch keine Bilder waren. Vor jenen Hütten, ja selbst als er mit Beineberg in der Konditorei saß.
Es waren Ähnlichkeiten und unüberbrückbare Unähnlichkeiten zugleich. Und dieses Spiel, diese geheime, ganz persönliche Perspektive hatte ihn erregt.
Und nun riß ein Mensch dies an sich. All das war nun in einem Menschen verkörpert, wirklich geworden. Dadurch ging die ganze Sonderbarkeit auf diesen Menschen über. Dadurch rückte sie aus der Phantasie ins Leben und wurde bedrohlich …
Die Aufregungen hatten Törleß ermüdet, seine Gedanken ketteten sich nur mehr lose aneinander.
Ihm blieb nur die Erinnerung, daß er diesen Basini nicht loslassen dürfe, daß dieser bestimmt sei, auch für ihn eine wichtige und bereits unklar erkannte Rolle zu spielen.
Dazwischen schüttelte er verwundert den Kopf, wenn er an Beinebergs Worte dachte. Auch der …?
Er kann doch nicht dasselbe suchen wie ich, und doch fand gerade er die richtige Bezeichnung dafür …
Törleß träumte mehr als er dachte. Er war nicht mehr imstande, sein psychologisches Problem von Beinebergs Phantastereien zu unterscheiden. Er hatte schließlich nur das eine Gefühl, daß sich die riesige Schlinge immer fester um alles zusammenziehe.
Das Gespräch fand keine Fortsetzung. Sie löschten das Licht aus und schlichen vorsichtig in ihren Schlafsaal zurück.
Die nächsten Tage brachten keine Entscheidung. Es gab in der Schule viel zu tun, Reiting wich vorsichtig jedem Alleinsein aus, und auch Beineberg ging einer erneuten Aussprache aus dem Wege.
So geschah es, daß sich während dieser Tage wie ein in seinem Lauf gehemmter Strom das Geschehene tiefer in Törleß eingrub und seinen Gedanken eine unwiderrufliche Richtung gab.
Mit der Absicht, Basini zu entfernen, war es dadurch endgültig vorbei. Törleß fühlte sich jetzt zum ersten Male voll auf sich selbst konzentriert und vermochte an gar nichts anderes mehr zu denken. Auch Božena war ihm gleichgültig geworden; was er für sie empfunden hatte, wurde ihm zu einer phantastischen Erinnerung, an deren Stelle nun der Ernst getreten war.
Freilich schien dieser Ernst nicht weniger phantastisch zu sein.
Von seinen Gedanken beschäftigt, war Törleß allein im Parke spazieren gegangen. Es war um die Mittagszeit, und die Spätherbstsonne legte blasse Erinnerungen über Wiesen und Wege. Da Törleß in seiner Unruhe keine Lust zu weiterem Spaziergange hatte, umschritt er bloß das Gebäude und warf sich am Fuße der fast fensterlosen Seitenmauer in das fahle, raschelnde Gras. Über ihm spannte sich der Himmel, ganz in jenem verblichenen, leidenden Blau, das dem Herbste eigen ist, und kleine, weiße, geballte Wölkchen hasteten darüber hin.
Törleß lag lang ausgestreckt am Rücken und blinzelte unbestimmt träumend zwischen