er hat, soweit es mich angeht, recht damit. Ich habe einmal einen Freund besessen, welcher Physiker war, und lasse mir gerne von meinen Freunden erklären, was sie eigentlich treiben. Der sagte mir nun, daß jedes seiner so sonderbar tätowierten Zeichen, die er Mathematik nennt, ihm eine allgemeine Formel ganz kurz aufschreiben hilft, aus der er wann immer und mühelos alle nur möglichen Einzelfälle ablesen kann, mit denen er einzeln nie zu Ende käme. Das lasse ich mir gefallen. Aber was sind allgemeine Sätze wert, die einen vor jedem besonderen Fall nur hindern? Und von dieser zweiten Art sind alle Sätze, aus denen Manni seine «Verantwortung für das Allgemeine» bezieht.
Meine Liebe, diese Frage ist für uns Frauen von großem Interesse. Manni sagt: «Du sollst nicht töten». Aber ich habe ihn nur mit vieler Mühe von der Vorstellung abgebracht, daß ein Mann den «Räuber seiner Ehre» nicht töten dürfe, wenn er ihn in flagranti erwische. Ihn zu überzeugen, ist mir überhaupt nicht gelungen; glücklicherweise sind die «Edelverbrecher aus Leidenschaft und Ehre» im Jahrzehnt vor dem Krieg einfach aus der Mode gekommen, und das half mir. Dafür litt Manni dann im Krieg wieder fürchterlich an Philosophie. Wir hatten unlängst einen netten jungen Menschen zu Tisch, der nicht lang vorher in eine sogenannte Skandalaffaire verwickelt gewesen war, das heißt, er war mit einer etwas albernen Frau und ihrem Geld verreist, hatte das Geld mit Einwilligung der Frau «arbeiten», die Frau aber dann ohne ihre Einwilligung «sitzen» lassen, für beides gab es also genügende Gründe, aber im Augenblick der Lösung war die Sache noch unaufgeklärt und geriet leider Gottes in die Zeitungen. «Eigentlich sollte man einem solchen Menschen nicht die Hand geben», sagte deshalb Manni, nachdem dieser bei uns zu Mittag gegessen hatte. «Aber er hat doch dir nichts getan», erwiderte ich. «Im Gegenteil, du hast mit ihm ein sehr vorteilhaftes Geschäft abgeschlossen.» «Ja,» sagte Manni, «er hat nicht mir geschadet; aber selbst, wenn er meinem Feind geschadet hätte, dürfte ich eigentlich nicht darüber hinwegsehn, sofern ich die gleiche Handlung mir gegenüber verachten würde!»
«Aber die gleiche Handlung dir gegenüber ist ja in diesem Fall von vornherein ausgeschlossen!»
«Handle stets so,» sagte Manni, «daß dein persönliches Handeln allgemeines Gesetz sein könnte …»
«Aber es kann gar nicht Gesetz sein» – ich – «denn dazu gehört ein zufälliges Zusammentreffen dieses Geldes, dieser Umstände, dieser Frau und dieses Mannes, und zumindest der letzte ist ein netter, eigenartiger Junge und läuft nicht in der zu einem Gesetz nötigen Vielzahl von Exemplaren umher!» Da bekam Manni seinen «allgemeinen Kopf» und legte den Fall in lauter allgemeine und unbestreitbare Gesetze auseinander, eins immer größer als das andre; aber zusammensetzen aus ihnen konnte er ihn nicht. Es ist bei den Männern immer so. Sie können wundervoll beweisen, daß etwas Eigentum oder daß es Diebstahl ist, daß einer ein Spion oder daß er ein Held, daß ein andrer ein Kraftmensch oder daß er ein Rohling ist: wenn es sich aber um das entweder entweder oder oder handelt, dann schwindeln sie wie die Frauen. Sie setzen die Welt aus lauter allgemeinen Regeln zusammen und müssen nachträglich lauter Ausnahmen zulassen, damit die Sache stimmt. Manni fordert, daß der Staat mehr für die christliche Gesinnung tue, aber er selbst geht nie in eine Kirche und hat lauter jüdische Geschäftsfreunde; er findet es schön, daß wir in einer modernen und demokratischen Zeit leben, aber er möchte es um keinen Preis missen, daß es darin Hoheiten, Fürsten, Grafen, Eminenzen und dergleichen gibt; er verehrt das Große im Leben, aber er weiß, daß der Lebensquell im dunkelsten Winkel kocht, wo mit knüppeldickem Egoismus geheizt wird; er sagt, daß nur noch die Generale an die Möglichkeit eines Krieges glauben, während er nicht an die Generale glaube, aber für alle Fälle läßt er die Generale gewähren: meine Liebe, es ist eine schwierige Welt, die der Männer, in der jede Behauptung mehrfach durchstrichen, aber keine ausgelöscht ist. Ich bin überzeugt, ohne die Ausnahmen wäre diese Welt überhaupt längst stecken geblieben, und wäre ohne sie nicht einen Tag lebensfähig; sie regt sich recht eigentlich vom Bösen und benutzt die Tugenden bloß als Hemmung, ohne sich das einzugestehn. Ich bin auch, unter uns gesagt, überzeugt, daß der große Männerkrieg bloß deshalb ausbrach, weil sie sich in ihrem Frieden nicht mehr auskannten; sie haben sich direkt aus diesem Frieden in jenen Krieg geflüchtet. Und wenn ich bedenke, was nachher in der ganzen Welt geschah, – wie man zum Beispiel die längste Zeit die Drückeberger und Schieber verachtete, um schließlich in ihnen kluge und erfolgreiche Männer zu sehn, – will es mir scheinen, daß wir weniger durch unsre Unmoral zuschanden geworden sind, als durch unsre Moral, welche zwischen Himmel und Hölle niemals auf der Erde sitzt.
Wenn ich so etwas aber Manni sage, wird er böse wie ein Junge, dessen Schulregeln man widerspricht, und erklärt, daß man mit Mädchen überhaupt nicht spielen könne. Um wieviel klüger sind amouröse Frauen als charaktervolle Männer! Jede letzte Tatsache ist nur die erste von einer neuen Reihe. Jedes allgemeine Gesetz nur ein besonderer Teil eines noch allgemeineren Gesetzes, das bald zur Entfaltung kommen wird. Ein Mann beendet seine Geschichte – wie herrlich! wie abschließend! wie sie den Dingen ein neues Ansehn verleiht! Doch siehe! Da erhebt sich schon auf der anderen Seite ein andrer und zieht einen Kreis um den Kreis, den wir eben erst als die Grenze der Schöpfung gepriesen haben! – Diese Bemerkung ist nicht von mir, aber sie enthält eine vollendete Rechtfertigung der sogenannten Untreue. Und wie genau wissen wir, daß es nicht das gleiche ist, wenn zwei das gleiche tun. Ein Mann kann uns Böses tun und uns durch die Art, die er dabei hat, entzücken, und ein andrer kann uns nur Gutes tun, wird uns aber trotzdem mit Abscheu erfüllen. Immer entscheidet das Ganze, die unaussprechliche Balance, niemals baun wir unsre Rechtfertigung vor uns selbst aus Einheiten und verallgemeinerten Einzelheiten auf. Manchmal habe ich große Lust, Manni darüber einen Vortrag zu halten, aber ich spreche nicht gern mit ihm zu aufrichtig über Moral. Du mußt deshalb verzeihn, wenn ich diesen Brief an dich dazu mißbraucht habe.
Kleine Lebensreise
Das Leben ist voll Wunder.
Bloß sind sie bezahlt und gehören immer schon irgendwem.
Aber in Simmering, da hat ein Steirerwagerl auf der Straße gestanden, mit einem Pony davor, so ein kleines Wagerl mit einem noch kleineren Pferd. Wenn ich ein Pony seh, glaub ich selbst immer, es gehört mir: so bös-freundlich schaun die Augen aus dem Zottelbehang; so klein ist das Ganze, daß man es unter die Hand nehmen kann; und der Schweif ist so prächtig. Weshalb hätten die Sultane sieben Roßschweife, wenn nicht etwas daran wäre?! Und dabei bin ich doch schon ein recht erwachsener Mann. Die Buben aber, die in Simmering plötzlich das Steirerwagerl mit dem kleinen Pferd gesehen haben, waren neun oder zehn Jahre alt und kamen noch dazu gerade aus der Schule. Da begann das Wunder; es war nämlich niemand bei dem Wagen, dem er gehören konnte.
Die Buben sind aufgestiegen, haben die Zügel gelupft, und richtig fing das Pony an zu gehn; auch zu laufen, wenn man schnalzte, und alles vollzog sich so prächtig wie im Märchen. Hunde mußten ausweichen, Fußgänger zur Seite springen, sogar der Schutzmann an der Straßenkreuzung mußte Zeichen geben wie einem richtigen Wagenbesitzer. Sie sind auf den Laaerberg gefahren, dann zur Ostbahn, über den Rennweg in die Nobelstadt hinein, und wie sie schließlich wieder zur Wiese hinter der Simmeringer Waggonfabrik gekommen sind, haben sie das Pferd ausgespannt, und es mußte grasen. Hugh! Wenn gar nichts andres geschehen wäre, als daß das Pferd grasen mußte, so wüßte man schon, daß diese kleinen Diebskerle Märchenbuben aus einem Indianerwigwam waren.
Ist es ihnen langweilig geworden? Sie sind weitergefahren, und in der – Brehmgasse heißt sie, gab’s den unvermeidlichen Streit. Der eine wollte links fahren, und der andere rechts. Danach wollte der eine das Pferd verkaufen, und der andere wollte es nach Hause nehmen. Damit war das Wunder aus. Natürlich kommt alles Übel in der Welt nur davon, daß es links und rechts gibt. Denn entweder wollen alle das gleiche, dann kann es nicht jeder haben, oder der eine will links und der andere rechts, dann ist nur einer der Stärkere. Und schon war auch ein Schutzmann da, der durchschaute, wie es seine Pflicht ist, alles, und heute gehört das Wunder mit dem Pony wieder dem, der es bezahlt hat, und die beiden Buben wurden ihren Eltern und dem Auge der Jugendfürsorge empfohlen.
Die hat es nicht leicht; was soll sie ihnen sagen? Diese beiden Buben sind von einem Ende des Lebens zum andern gefahren. Soll sie ihnen sagen: Der Starke greift zu? Dem Mutigen gehört die Welt? Der Mensch muß aus ganzer Seele handeln? Oder soll sie ihnen sagen: Wenn Ihr