Robert Musil

Gesammelte Werke


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hat er «Jetzt!» geflüstert und an die Tasche mit dem gleichen Gefühl gegriffen, als müßte er eine Rede halten und könnte sich an kein Wort erinnern. Aber er hatte es wieder sein lassen, und während die Zeit fortschreitet, sucht er sich jetzt von neuem aufzureizen, indem er an seine Frau und seine Kinder denkt, die unschuldig leiden werden, wenn man ihn deklassiert; er spielt aufgeregt mit seinen Händen, und eigentlich spielen seine Hände mit ihm, denn in ihnen steckt noch das, was sie nicht ausgeführt haben, während er sich in seiner Unruhe unversehens statt nach der Ruhe des Todes nach der Ruhe erster Urlaubstage sehnt, wo man aus dem, was heute noch Heute ist, wie aus zu lange getragenen Kleidern steigt.

      Sein Widersacher dagegen weiß, was er will, viel besser: er will den Beruf, dem sie beide angehören, von einem «Schädling» säubern, und er tut es mit Plan und Nachdruck, indem er für die ehrenrührigen Vorwürfe, durch die er die Anklage erzwungen hat, den Wahrheitsbeweis führt. Er ist unerschütterlich. Auch er hat zwar nicht mehr den frischen Haß wie am Morgen des ersten Tags, und es beschleicht ihn zuweilen eine Verwunderung darüber, daß er sich auf etwas eingelassen habe, was ihm sonst fern liegt; aber sein lange gesammelter Vorrat an Beweisen ist nicht zu erschöpfen und quillt hinter jedem Einwand von selbst nach, und der ungewohnt würdige Zustand, worin er sich befindet, indem er seinen Beruf gegen einen «Unwürdigen» verteidigt, verleiht ihm ein gewisses Sonntagsgefühl, wenn auch vielleicht nur ein Sonntagsabendgefühl, wo man schon ganz gern an die kommenden frischen Wochentage denkt. Auch die Stimmung im Zuhörerraum, der zum großen Teil von Menschen eingenommen wird, die beruflich mit den beiden Kämpfenden verbunden sind, ist ähnlich. Sie ist beinahe beklommen. Mit jeder Schändlichkeit, die angeprangert wird, wird die Würde spannender, die man erst jetzt fühlt, wo man sie verletzt sieht; die Leute sitzen ruhig und empört, fühlen sich zu ihrer Empörung berechtigt, aber da diese mit jeder halben Stunde höher steigt, wird ihnen so unberechenbar zumute, wie wenn man den Boden nicht mehr unter sich sieht. Der «Nichtswürdige» fühlt es; auch die Auffassung des Richters ist kaum noch zu ändern. Er sieht seinen Widersacher vor dem Fenster als einen festgeschlossenen Körper stehn und haßt ihn bis in den Mund, leistet aber kaum noch Widerstand. In diesem Augenblick ist keiner im Saal, der nicht der Meinung wäre, die nächste und letzte halbe Stunde werde das vollenden; das Verfahren erinnert irgendwie an die letzten Manöver, die ein Dampfer macht, um an einer Brücke anzulegen, worauf nicht anderes folgen kann als das Überwerfen und Festmachen der Seile und das Hinüberschieben des Stegs. Auch der Geächtete ist davon überzeugt und fühlt, daß es nun für alles, was er tun könnte, zu spät sei.

      Und gerade da springt der Augenblick aus der Reihe, brechen sechs Augenblicke, sechs Schüsse aus. Ein wirbelndes Zeitstück. Niemand weiß mehr, wie es sich losgerissen hat, nachdem es vorbei ist. Der Unentschlossene, die ausgeschossene Pistole in der Hand, befindet sich stumm in einer Stellung, als fürchte er Schläge von dem, der unter seinen Schüssen zusammengebrochen ist; plötzlich aber wendet er sich mit erhobener Waffe dem Richtertisch zu und ruft zweimal: «Herr Richter, es ist zu spät, es ist zu spät!» Der Richter stiert der Pistole entgegen und brüllt: «Legen Sie das fort!» Endlich gelingt es auch den Wachebeamten, ihre Sohlen vom Boden zu lösen und sich auf den Mörder zu stürzen. Als sie ihn erreichen und an den Schultern packen, sinkt er aber in sich zusammen, und man muß ihn erst eine Weile auf einer Bank sitzen lassen, wo er stumm vor sich hin stiert, ehe man ihn abführen kann. Der Tote liegt mit dem Gesicht zur Erde und hat unter sich eine kleine Blutlache. Die Zuhörer sind über die Bänke gesprungen und umgeben ihn; einer von ihnen sucht immer wieder dem Leichnam den Kopf zu heben, Blut rieselt ihm über die Finger; aber als der Mörder ab-und vorbeigeführt wird, läßt er den Kopf fallen, springt auf, stürzt zwei Schritte hinterdrein und schreit: «Mörder!» Ein zweiter bleibt hocken, aber er hebt die Hände mit gespreizten Fingern und schreit auch «Mörder!» Und auch aus anderen beginnt der ungewöhnliche Zustand, in dem sie sich schon vorher befunden haben, zu schrein, minutenlang, nachdem ihn die Schüsse zerrissen haben.

      Der Mörder aber beginnt bei dieser scheinbar höchst zwecklosen Feststellung plötzlich zu zittern, und es fangen Tränen an ihm aus den Augen zu laufen, was in den Zustand aller etwas Natürliches zurückbringt, so daß sie sich nun rasch ernüchtern.

      Quer durch Charlottenburg

[27. März 1932]Höfe am Kurfürstendamm

      Noch ist in den Straßen das einzige in Baumhöhe schwebende Grün das der Verkehrsampeln, und das hat etwas Vorjähriges, beinahe Geisterhaftes, wenn es lebhaft vor drei wartenden Wagen flattert, als stürmten noch ihrer hundert dahin. Sehr herbstlich sind auch die roten Blätter, auf denen geschrieben steht, daß Haus an Haus Wohnungen zu vermieten sind. Aber in den Höfen der zackigen Wohnburgen merkt man den Frühling an der Mauerkrätze. In großen Stücken ist der Bewurf von den Hauswänden abgeblättert, es hat ausgesehen wie ein fressender Ausschlag, und nun scheint die Sonne in die Wunden. Bloß die Kamine, die brüderlich am Dach stehen, haben noch ihre Farbe aus guten Zeiten, und an diesem weißlichen Ziegelrot merkt man, wenn die Sonne darauf scheint, wie fest das Blau des Himmels in den letzten Wochen geworden ist. Sinkt dann der Blick aus diesem Spiel der Weiten die Wände hinab, so sind sogar die abgeblätterten Flecke an den Mauern imstande, ein blühendes Leben vorzutäuschen, das sich entfaltet.

Tiergartenrand

      Die Farbe des frühen Frühlings ist braun, in unzähligen Abstufungen von der farbblinden Fahlheit des Grases bis zum strahlenden Braun des Wassers. Nur die nackten Äste der Trauerweiden setzen scharfe, peitschendünne grüne Striche in die Natur. Ein roter Fleck, er ist nichts als der rot gestrichene Kopf eines Holzpfostens, wirkt zwischen schütterem Gebüsch wie ein blühender Strauch, ein aufgebrochenes Blumenbeet: das Herz erschrickt vor ihm, und verrät, daß es voll einer Bereitschaft ist, die der des Schiffchens ähnelt, das «unter Dampf» vor der Schleuse liegt: die gemütliche kleine Kaffeemaschine hat ihren alten Rumpf und den Schornstein mit frischen roten und weißen Streifen bemalt, denn mit jedem beginnenden Frühling macht sie sich auf eine große, fast ein Jahr dauernde Reise, obwohl diese ein Jahr wie das andere bloß zwischen Charlottenburg und Stralau hin und her führt.

Charlottenburger Schloß

      Als der junge Schaffner an der Frage, wo wir aussteigen sollen, Fremde in uns zu erkennen glaubt, gibt er uns den freundlichen Rat: «Versäumen Sie nicht, das Mausoleum zu besichtigen: der Reflex dort ist wundervoll, das ist der schönste Reflex von Berlin!» Ich glaube, daß in dieser Auskunft das Wesen aller Berühmtheit und Sehenswürdigkeit in engster Verdichtung beschlossen liegt.

      Jedoch wollen wir nicht das Mausoleum wiedersehen, sondern den Park, und vor dem hängt ein Zettel: «Wegen Unpassierbarkeit der Wege heute geschlossen.» Wochenlang hat es kein Unwetter gegeben, und augenblicklich fühlt man sich in das Jahrhundert einer achtsamen Obrigkeit zurückversetzt, die den Bürger vor Gefahren schützt, die verborgen irgendwo auf ihn lauern, da auch das Auge, so weit es reicht, die Wege bloß in schönster Ordnung sieht. In solchen Fällen macht der heutige Mensch einen Umgehungsversuch. Der führt zunächst am Kaiser Friedrich-Denkmal vorbei, wo auf den Steinbänken, einer neben dem anderen, Menschen mit vorgestreckten Beinen und dem Himmel dargebotenen Gesicht sitzen: das Ganze, als ob der Schwung einer Hand Blumen mit lang abgeschnittenen Stengeln über die Bänke gestreut hätte. Weiterhin läßt sich vom Tegeler Weg aus wahrnehmen, daß auch das Innere des Schloßparks so trocken wie eben ist, doch wird nun die Aufmerksamkeit bald nach der anderen Seite abgezogen, wo in eklektisch-romanischem, aber immerhin wuchtigem Baustil ein Landesgericht dräut, mit dem in Stein gemeißelten Spruch über dem Eingang: Suum cuique. Das heißt: Jedem das Seine, und ist ein guter, alter, preußischer, also auch ein sehr gerechter Spruch; löst aber in der Frühlingssonne das Bedenken aus, ob da nicht mancher das Seine, wenn es aus etlichen Gefängnisjahren besteht, gern für weniger hergäbe.

Siemensstadt

      Nachdem man den Unterschied von Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit erwogen hat, befindet man sich auf einem Laubengelände, das, höflich ausgedrückt, nach Kreislauf der Natur riecht; es schimmert aber dafür in allen Farben, die zwischen Rosa und Dunkelblau liegen. Links fließt nahe hinter gewöhnlichen Fabrikhöfen die Spree, rechts ruht der plötzlich breit gewordene Himmel auf den zauswipfligen Bäumen der Heide, gerade voran aber wächst etwas ins Übermenschliche, oder wenigstens ins Übereuropäische, höher als ein Haus, breiter als ein Turm, aufgerichtet über Schienensträngen und Röhrenleitungen: eins der Werkgebäude von Siemensstadt.