Robert Musil

Gesammelte Werke


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Luft und führte den Satz nicht zu Ende und sagte nach einer Weile: «… wie lange mag dieser Kranz dort hängen? Ob die Luft es spürt? Wie lebt er?» Sonst sagte sie nichts und wußte auch nicht, warum sie dies sagte; der Ministerialrat lächelte. Ihr war, als stünde alles in Metall gegraben und noch zitternd von dem Druck der Stichel.

      Sie stand neben diesem Menschen und während sie fühlte, daß er sie ansah und was immer an ihr bemerken mochte, ordnete sich in ihrem Innern etwas und lag hell und weit wie Feld neben Feld unter den Augen eines kreisenden Vogels.

      Dieses Leben blau und dunkel und mit einem kleinen, gelben Fleck … was will es? Dieses Locken der Hühner und leise Aufschlagen der Körner, durch das es plötzlich wie der Schlag einer Stunde geht, … zu wem spricht es? Dieses Wortlose, das sich in die Tiefe hineinfrißt und nur manchmal durch den engen Spalt weniger Sekunden in einem Vorübergehenden heraufschießt und sonst tot bleibt, … was soll es? Sie blickte es an, mit schweigenden Augen und spürte die Dinge, ohne sie zu denken, bloß wie Hände manchmal auf einer Stirn ruhn, wenn nichts mehr sagbar ist.

      Und dann hörte sie alles nur mehr mit einem Lächeln. Der Ministerialrat glaubte, die Maschen seines Gewebes sorgfältig enger um sie zu ziehn, sie ließ ihn gewähren. Es war ihr nur, während er redete, wie wenn man zwischen Häusern geht, in denen Menschen sprechen, in das Gefüge ihres Nachdenkens schob sich zuweilen ein zweites und zog ihre Gedanken mit sich, dahin, dorthin, sie folgte ihm freiwillig, tauchte dann für eine Weile wieder in sich selbst auf, halb, dämmernd, versank, so ein leise durcheinanderfließendes Gefangennehmen war es.

      Dazwischen spürte sie, als ob es ihr eigenes Gefühl wäre, wie dieser Mensch sich liebte. Die Vorstellung seiner Zärtlichkeit für sich erregte sie leise sinnlich. Es war ein Stillwerden darum, wie wenn man in einen Bezirk trat, in dem stumme, andre Entscheidungen gelten. Sie fühlte sich von dem Ministerialrat gedrängt und fühlte sich nachgeben, aber es kam nicht darauf an. Es saß bloß etwas in ihr wie ein Vogel auf einem Ast und sang.

      Sie aß leicht zur Nacht und ging früh schlafen. Es war alles schon ein wenig tot für sie, keine Sinnlichkeit mehr. Trotzdem wachte sie nach kurzem Schlummer auf und wußte, er sitzt unten und wartet. Sie nahm ihre Kleider und zog sich an. Stand auf und kleidete sich an, nichts sonst; kein Gefühl, kein Gedanke, nur ein fernes Bewußtsein von Unrechtem, vielleicht auch, als sie fertig war, ein nacktes, nicht genügend geschütztes Gefühl. So kam sie hinunter. Das Zimmer war leer, Tische und Stühle hatten etwas nachtwach ungefähr Ragendes. In einer Ecke saß der Ministerialrat.

      Sie hatte irgendetwas im Gespräch gesagt, vielleicht: ich fühle mich allein oben; sie wußte, in welcher Weise er es mißverstehen mußte. Nach einer Weile faßte er ihre Hand; sie stand auf. Zögerte. Dann lief sie hinaus. Sie fühlte, daß sie es wie eine dumme kleine Frau tat und es war ihr ein Reiz. Auf der Treppe hörte sie Schritte ihr folgen, die Stufen ächzten, sie dachte plötzlich irgend etwas sehr Fernes, sehr Abstraktes und ihr Körper zitterte dabei um sie wie ein Tier, das in einem Wald verfolgt wird.

      Der Ministerialrat sagte dann, als er bei ihr im Zimmer saß, beiläufig dies: Nicht wahr du liebst mich? Ich bin zwar kein Künstler oder Philosoph aber ein ganzer Mensch, ich glaube, ein ganzer Mensch. Und sie antwortete: «Was ist das, ein ganzer Mensch?» «Sonderbar fragst du,» ereiferte sich der Ministerialrat, aber sie sagte: «Nicht so, ich meine, wie sonderbar, daß man einen gern hat, eben weil man ihn gern hat, seine Augen, seine Zunge, nicht die Worte sondern den Klang …»

      Da küßte sie der Ministerialrat: «So also liebst du mich?»

      Und Claudine fand noch die Kraft zu entgegnen: «Nein, ich liebe, daß ich bei Ihnen bin, die Tatsache, den Zufall, daß ich bei Ihnen bin. Man könnte bei den Eskimos sitzen. In Hosen aus Fell. Und hängende Brüste haben. Und das schön finden. Gäbe es denn nicht auch andere ganze Menschen?»

      Aber der Ministerialrat sagte: «Du irrst dich. Du liebst mich. Du kannst dir bloß noch nicht Rechenschaft darüber geben und gerade das ist das Zeichen der wahren Leidenschaft.»

      Unwillkürlich, wie sie ihn so sich über sie breiten fühlte, zögerte etwas in ihr. Aber er bat sie: «Oh, schweig.»

      Und Claudine schwieg; nur noch einmal sprach sie; während sie sich entkleideten; sie begann zwecklos zu reden, unpassend, vielleicht wertlos, bloß wie ein schmerzliches Überetwashinstreicheln war es: «… es ist wie wenn man durch einen schmalen Paß tritt; Tiere, Menschen, Blumen, alles verändert; man selbst ganz anders. Man fragt, wenn ich hier von Anbeginn gelebt hätte, wie würde ich über dies denken, wie jenes fühlen? Es ist sonderbar, daß es nur eine Linie ist, die man zu überschreiten braucht. Ich möchte Sie küssen und dann rasch wieder zurückspringen und sehen; und dann wieder zu Ihnen. Und jedesmal beim Überschreiten dieser Grenze müßte ich es genauer fühlen. Ich würde immer bleicher werden; die Menschen würden sterben, nein, einschrumpfen; und die Bäume und die Tiere. Und endlich wäre alles nur ein ganz dünner Rauch … und dann nur eine Melodie … durch die Luft ziehend … über einer Leere …»

      Und noch einmal sprach sie: «Bitte, gehn Sie weg,» sprach sie, «mir ekelt.»

      Aber er lächelte nur. Da sagte sie: «Bitte, geh weg.» Und er seufzte befriedigt: «Endlich, endlich, du liebe, kleine Träumerin, sagst du: Du!»

      Und dann fühlte sie mit Schaudern, wie ihr Körper trotz allem sich mit Wollust füllte. Aber ihr war dabei, als ob sie an etwas dächte, das sie einmal im Frühling empfunden hatte: dieses wie für alle da sein können und doch nur wie für einen. Und ganz fern, wie Kinder von Gott sagen, er ist groß, hatte sie eine Vorstellung von ihrer Liebe.

      Die Versuchung der stillen Veronika

      Irgendwo muß man zwei Stimmen hören. Vielleicht liegen sie bloß wie stumm auf den Blättern eines Tagebuchs nebeneinander und ineinander, die dunkle, tiefe, plötzlich mit einem Sprung um sich selbst gestellte Stimme der Frau, wie die Seiten es fügen, von der weichen, weiten, gedehnten Stimme des Mannes umschlossen, von dieser verästelt, unfertig liegen gebliebenen Stimme, zwischen der das, was sie noch nicht zu bedecken Zeit fand, hervorschaut. Vielleicht auch dies nicht. Vielleicht aber gibt es irgendwo in der Welt einen Punkt, wohin diese zwei, überall sonst aus der matten Verwirrung der alltäglichen Geräusche sich kaum heraushebenden Stimmen wie zwei Strahlen schießen und sich ineinander schlingen, irgendwo, vielleicht sollte man diesen Punkt suchen wollen, dessen Nähe man hier nur an einer Unruhe gewahrt wie die Bewegung einer Musik, die noch nicht hörbar, sich schon mit schweren unklaren Falten in dem undurchrissenen Vorhang der Ferne abdrückt. Vielleicht daß diese Stücke hier dann aneinander sprängen, aus ihrer Krankheit und Schwäche hinweg ins Klare, Tagfeste, Aufgerichtete.

      «Kreisendes!» Nachträglich, in den Tagen einer fürchterlichen Entscheidung zwischen einer mit unsichtbarer Bestimmtheit wie ein dünner Faden gespannten Phantasie und der gewohnten Wirklichkeit, in diesen Tagen einer verzweifelten letzten Anstrengung jenes Unfaßbare in diese Wirklichkeit zu ziehen – und dann des Fallenlassens und sich in das einfach Lebendige wie in einen wirren Haufen warmer Federn Werfens sprach er es an wie einen Menschen. Er sprach in diesen Tagen stündlich mit sich selbst und sprach laut, weil er sich fürchtete. Es hatte sich etwas in ihm gesenkt, mit jener unverständlichen Unaufhaltsamkeit, mit der sich plötzlich irgendwo im Körper ein Schmerz verdichtet und zu einem entzündeten Gewebe wird und als Wirklichkeit weiter wächst und zu einer Krankheit wird, die mit dem milden, zweideutigen Lächeln der Peinigungen den Körper zu beherrschen anfängt.

      «Kreisendes,» flehte Johannes, «daß du doch auch außerhalb meiner wärst!» Und: «daß du ein Kleid hättest, an dessen Falten ich dich halten könnte. Daß ich mit dir sprechen könnte. Daß ich sagen könnte: du bist Gott, und ein kleines Steinchen unter der Zunge trüge, wenn ich von dir rede, um der größeren Wirklichkeit willen! Daß ich sagen könnte: dir befehl ich mich, du wirst mir helfen, du siehst mir zu, mag ich tun was ich will, etwas von mir liegt reglos und mittelpunktsstill, und das bist du.»

      Aber so lag er bloß mit dem Mund im Staub und einem wie ein Kind danach tastenden Herzen. Und wußte bloß, daß er es brauchte, weil er feig war, wußte es. Aber es geschah dennoch, wie um aus seiner Schwäche eine Kraft zu holen, die er ahnte und die ihn lockte, wie sonst nur in der Jugend manchmal etwas gelockt hatte, der mächtige, noch gänzlich antlitzlose