er zu Veronika gesagt: es ist Gott; er war furchtsam und fromm, es war lange her und war sein erster Versuch, das Unbestimmbare, das sie beide fühlten, fest zu machen; sie glitten in dem dunklen Haus aneinander vorbei; aufwärts, abwärts, aneinander vorbei. Aber wie er es aussprach, war es ein entwerteter Begriff und sagte nichts von dem, was er meinte.
Was er meinte aber, war damals vielleicht nur etwas wie jene Zeichnungen, die sich manchmal in Stein bilden, – niemand weiß, wo das lebt, worauf sie deuten, und wie es in seiner vollen Wirklichkeit sein mag, – an Mauern, in Wolken, in wirbelndem Wasser, was er meinte, war vielleicht nur das unbegreiflich Hergekommene von etwas noch Abwesendem wie jene seltenen Mienen in Gesichtern, die gar nicht mit diesen, sondern mit irgendwelchen anderen, plötzlich jenseits alles Gesehenen vermuteten Gesichtern zusammenhängen, waren kleine Melodien mitten in Geräuschen, Gefühle in Menschen, ja es gab in ihm Gefühle, die, wenn seine Worte sie suchten, noch gar keine Gefühle waren, sondern nur als hätte sich etwas in ihm verlängert, mit den Spitzen sich schon hineintauchend, benetzend, seine Furcht, seine Stille, seine Schweigsamkeit, wie die Dinge manchmal sich verlängern, an fieberhellen Frühlingstagen, wenn ihre Schatten über sie hinauskriechen und so still und nach einer Richtung bewegt stehen wie Spiegelbilder im Bach.
Und er sagte oft zu Veronika, daß es wirklich nicht Furcht sei oder Schwäche, was in ihm war, sondern nur so, wie Angst manchmal bloß das Rauschen um ein noch nie gesehenes und noch nicht gesichtetes Erlebnis ist, oder wie man manchmal ganz bestimmt und ganz unverständlich weiß, daß Angst etwas von einer Frau an sich haben oder Schwäche einmal ein Morgen in einem Landhaus sein werde, um das die Vögel schrillen. Er war in dieser seltsamen Verfassung, daß solche halbe, unausdrückbare Bildungen in ihm entstanden.
Einmal aber sah Veronika ihn an, mit ihren großen still gesträubten Augen, – sie saßen ganz allein in einem der halbdunklen Säle, – und fragte: «Also ist etwas auch in dir, das du nicht klar fühlen und verstehen kannst, und du nennst es bloß Gott, außer dir und als Wirklichkeit gedacht, von dir, als ob es dich dann bei der Hand nähme? Und es ist vielleicht das, was du nie Feigheit oder Weichheit nennen willst; als eine Gestalt gedacht, die dich unter die Falten ihres Kleides nehmen könnte? Und du bedienst dich bloß für irgendwelche Richtungen gleichsam ohne Gerichtetes, für irgendwelche Bewegungen gleichsam ohne Bewegtes, für Gesichte, die in dir nie bis zu wirklichem Leben emporsteigen, solcher Worte wie Gott, weil sie in ihren dunklen Kleidern aus einer andern Welt dahingehen mit der Sicherheit von Fremden aus einem großen, wohlgeordneten Staate, wie Lebendige? Sag, weil wie Lebendige und weil du es um jeden Preis als wirklich fühlen möchtest?»
«Dinge sind es,» meinte er, «hinter dem Horizont des Bewußtseins, Dinge, die sichtbar hinter dem Horizont unseres Bewußtseins vorbeigleiten, oder eigentlich nur ein fremdgespannter, unerforschlicher, vielleicht möglicher neuer Horizont des Bewußtseins, plötzlich angedeutet, in dem noch keine Dinge stehen.» Ideale seien es, meinte er schon damals, nicht Trübungen oder Zeichen irgendeiner seelischen Ungesundheit, sondern Ahnungen eines Ganzen, irgendwoher verfrüht und gelänge es, sie richtig zusammenzufügen, stünde splitternd wie von einem Schlage etwas da, von den feinsten Verästlungen der Gedanken bis außen in die Wipfel der Bäume empor, und wäre in der kleinsten der Gebärden wie der Wind in den Segeln. Und er sprang auf und machte eine große Bewegung fast körperlichen Verlangens.
Und sie sagte damals darauf eine lange Weile nichts und dann antwortete sie: «Auch in mir ist etwas, … siehst du: Demeter …» und stockte und es geschah danach zum erstenmal, daß sie von Demeter sprachen.
Johannes begriff anfangs nicht, wozu es überhaupt geschah. Sie sagte, daß sie irgendeinmal an einem Fenster über einem Hühnerhof stand und dem Hahn zusah, sah zu und dachte an nichts und erst allmählich verstand Johannes, daß sie den Hühnerhof in ihrem Haus meinte. Dann kam Demeter und stellte sich neben sie. Und sie begann zu merken, daß sie doch die ganze Zeit über an etwas gedacht hatte, bloß ganz im Dunkeln, und jetzt fing sie an es zu erkennen. Und Demeters Nähe, erzählte sie, – er verstünde wohl, ganz im Dunkeln begann sie all das zu erkennen, – Demeters Nähe half ihr dabei und beengte sie zugleich. Und nach einer Weile wußte sie, daß es der Hahn gewesen war, woran sie gedacht hatte. Aber vielleicht hatte sie gar nichts gedacht, sondern immerzu nur gesehen, und was sie anblickte, war wie ein fremder harter Körper in ihr liegen geblieben, weil kein Gedanke es auflöste. Und es schien sie unbestimmbar an etwas anderes zu erinnern, das sie auch nicht finden konnte. Und je länger Demeter neben ihr stand, desto deutlicher und eigentümlich ängstlich begann sie den leeren gegenwärtigen Umriß dieses Bildes in sich zu fühlen. Und Veronika sah Johannes fragend an, ob er es verstünde. «Es war immer wieder dieses unsagbar gleichgültige Herabgleiten des Tiers,» sagte sie, was sie vor sich sah, heute noch sehe sie es so, wie etwas das ganz einfach vor sich ginge und doch gar nicht zu begreifen sei, dieses unsagbar gleichgültige Herabgleiten und plötzlich von aller Erregung ganz befreit sein und eine Weile wie blöd und empfindungslos dastehn und wie mit den Gedanken irgendwo fern, in einem schalen, verwesten Licht. Dann meinte sie: «Manchmal, an toten Nachmittagen, wenn ich mit der Tante spazierenging, lag es so über dem Leben; ich glaubte es empfinden zu können und mir war, als strahlte die Vorstellung dieses üblen Lichts von meinem Magen aus.»
Es trat eine Pause ein, Veronika schluckte nach Worten.
Aber sie kam wieder auf das Gleiche zurück. «Ich sah danach schon von weitem immer wieder eine solche Welle daherkommen,» ergänzte sie, «und über ihn und ihn hinaufwerfen und wieder loslassen.»
Und wieder entstand ein Schweigen.
Aber plötzlich schlichen ihre Worte hindurch, als müßten sie sich in dem großen, finstern Raum geheimnisvoll verbergen, ganz nahe niederkauernd bei Johannes’ Gesicht. «… In solch einem Augenblick packte Demeter meinen Kopf und drückte ihn gegen die Brust hinab, sagte nichts und drückte ihn fest nach abwärts,» flüsterte Veronika; und wieder war danach dieses Schweigen.
Aber Johannes war, als hätte ihn im Dunkeln eine heimliche Hand berührt, und er zitterte, als Veronika fortfuhr: «Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, was mir in diesem Augenblick geschah, mir ahnte plötzlich, Demeter müßte so sein wie der Hahn, in einer schrecklichen, weiten Leere lebend, aus der er plötzlich hervorschoß.» Johannes fühlte, daß sie ihn ansah. Es peinigte ihn, daß sie von Demeter sprach und dabei Dinge sagte, von denen er unklar fühlte, daß sie ihn angingen. Ein unbegreiflich ängstlicher Verdacht stieg in ihm auf, daß Veronika das, was bei ihm abstrakt und an Gott bloß vorbei, wie die gleich leeren Gefühlsrahmen in der Willensunbestimmtheit schlafloser Nächte gespannten Ichgesichte war, in etwas wollen könnte, das er tun sollte. Und es schien ihm, ohne daß er sich wehren konnte, daß ihre Stimme etwas Grausames und Mitleidiges und Lüsternes annahm, als sie fortfuhr: «Ich rief damals: Johannes würde so etwas nie tun! Aber Demeter sagte bloß: Pah Johannes, und steckte die Hände in die Tasche. Und nun – erinnerst du dich? – als du danach zum erstenmal wieder zu uns kamst, wie dich Demeter zur Rede stellte? ‹Die Veronika sagt, daß du mehr bist als ich›, höhnte er dich an, ‹aber du bist ja ein Feigling!› Und du warst damals wohl noch so, daß du dir das nicht sagen lassen konntest, und gabst ihm zurück: ‹Nun das möchte ich sehen.› Und darauf schlug er dich mit der Faust ins Gesicht. Und nun – nicht wahr? – da wolltest du zurückschlagen, aber wie du sein drohendes Antlitz sahst und auch den Schmerz stärker zu fühlen begannst, empfandest du plötzlich eine fürchterliche Angst vor ihm, oh ich weiß, fast eine ergebene, freundliche Angst, und mit einemmal lächeltest du, nicht wahr du wußtest nicht warum, aber du lächeltest und lächeltest, mit einem etwas verzogenen Gesicht, das ich spürte, etwas schüchtern unter seinen zornigen Augen, und doch mit einer so warmen, in dich hineinquellenden Süße und Sicherheit, daß es plötzlich die Beleidigung ausglich und in dich einordnete … Damals sagtest du nachher zu mir, daß du Priester werden wolltest … Da begriff ich plötzlich: nicht Demeter, sondern du bist das Tier …»
Johannes sprang auf. Er verstand nicht. «Wie kannst du so etwas sagen?» rief er, «woran denkst du?!»
Aber Veronika verteidigte sich enttäuscht: «Warum bist du nicht Priester geworden?! Ein Priester hat etwas von einem Tier! Diese Leere, wo andre sich selbst haben. Diese Milde, die man schon an den Kleidern riecht. Diese leere Milde, die das Geschehen einen Augenblick lang aufgehäuft hält, wie ein Sieb, das dann gleich wieder leerläuft. Man müßte