hoch wie Blech, und sie suchte den Klang sich vorzustellen, mit dem sie in der geschlechtlichen Erregung zerbrochen in die Tiefe gleiten mußte, dann wieder zogen ungeschickte Bewegungen ihr Empfinden in seltsamen Windungen nach sich und einen olympisch Lächerlichen suchte sie wie eine Frau zu fühlen, die an ihn glaubte … Ein Fremdes, mit dem ihr Leben nichts gemeinsam hatte, richtete sich nach und überhängend groß vor ihr auf, wie ein zottiges, einen betäubenden Geruch ausströmendes Tier; ihr war, als hätte sie eben nur mit der Peitsche hineinschlagen gewollt und gewahrte, plötzlich gehemmt und ohne es zu durchschauen, ein Spiel vertrauter Abstufungen in einem irgendwie dem ihren ähnlichen Gesicht.
Da dachte sie heimlich: «Wir, Menschen wie wir könnten vielleicht selbst mit solchen Menschen leben …» Es war ein eigentümlich quälender Reiz, eine dehnende Lust des Gehirns, etwas wie eine dünne gläserne Scheibe lag davor, an die sich ihre Gedanken schmerzhaft preßten, um jenseits in eine ungewisse Trübe zu starren; es freute sie, den Menschen dabei klar und unverdächtig in die Augen zu blicken. Dann versuchte sie, sich ihren Mann entfremdet, wie von dorther gesehen, vorzustellen. Es gelang ihr, sehr ruhig an ihn zu denken; es blieb ein wunderbarer, unvergleichlicher Mensch, aber ein Unwägbares, vom Verstand nicht zu Fassendes war von ihm geschwunden und er erschien ihr etwas blaß und nicht so nahe; manchmal vor dem letzten Anstieg einer Krankheit steht man in solch einer kühlen, beziehungslosen Helligkeit. Doch da fiel ihr ein, wie sonderbar es sei, daß sie ähnliches wie das, womit sie jetzt spielte, irgendwann einmal wirklich erlebt haben konnte, daß es eine Zeit gab, wo sie ihren Mann sicher und ohne von einer Frage beunruhigt zu werden so empfunden hätte, wie sie ihn sich jetzt einzubilden suchte, und es kam ihr mit einemmal alles ganz seltsam vor.
Man geht täglich zwischen bestimmten Menschen oder durch eine Landschaft, eine Stadt, ein Haus und diese Landschaft oder diese Menschen gehen immer mit, täglich, bei jedem Schritt, bei jedem Gedanken, ohne Widerstand. Aber einmal bleiben sie plötzlich mit einem leisen Ruck stehen und stehn ganz unbegreiflich starr und still, losgelöst, in einem fremden, hartnäckigen Gefühl. Und wenn man auf sich zurücksieht, steht ein Fremder bei ihnen. Dann hat man eine Vergangenheit. Aber was ist das? fragte sich Claudine und fand plötzlich nicht, was sich geändert haben konnte.
Sie wußte auch in diesem Augenblick, daß nichts einfacher ist als die Antwort, man selbst sei es, der sich geändert habe, aber sie begann einen sonderbaren Widerstand zu fühlen, die Möglichkeit dieses Vorgangs zu begreifen; und vielleicht erlebt man die großen, bestimmenden Zusammenhänge nur in einer eigentümlich verkehrten Vernunft, während sie nun bald die Leichtigkeit nicht verstand, mit der sie eine Vergangenheit, die einst so nah um sie gewesen war wie ihr eigener Leib, als fremd empfinden konnte, bald wieder die Tatsache ihr unfaßbar erschien, daß überhaupt je etwas anders gewesen sein mochte als jetzt, fiel ihr ein, wie das ist, wenn man manchmal etwas in der Ferne sieht, fremd, und dann geht man hin und an einer gewissen Stelle tritt es in den Kreis des eigenen Lebens, aber der Platz, wo man früher war, ist jetzt so eigentümlich leer, oder man braucht sich bloß vorzustellen, gestern habe ich dies oder jenes getan: irgendeine Sekunde ist immer wie ein Abgrund, vor dem ein kranker, fremder, verblassender Mensch zurückbleibt, man denkt bloß nicht daran, – und plötzlich erschien ihr in einer schlagschnellen Erhellung ihr ganzes Leben von diesem unverstehbaren, unaufhörlichen Treubruch beherrscht, mit dem man sich, während man für alle andern der gleiche bleibt, in jedem Augenblick von sich selbst loslöst, ohne zu wissen warum, dennoch darin eine letzte, nie verbrauchte bewußtseinsferne Zärtlichkeit ahnend, durch die man tiefer als mit allem, was man tut, mit sich selbst zusammenhängt.
Und während noch dieses Gefühl in seiner bloßgelegten Tiefe klar in ihr schimmerte, war ihr, als ob die Sicherheit, die oben ihr Leben trug, wie ein Kreisen um sie, mit einemmal es wieder nicht mehr trüge, und es teilte sich in hundert Möglichkeiten, schob sich wie verschiedener Leben hintereinandergelagerte Kulissen auseinander und in einem weißen, leeren, unruhigen Raum dazwischen tauchten die Lehrer wie dunkle, ungewisse Körper auf, sanken suchend, sahen sie an und stellten sich schwer auf ihren Platz. Sie fühlte eine eigentümlich traurige Lust, hier mit ihrem unnahbaren Lächeln der fremden Dame, in ihr Aussehen verschlossen, vor ihnen sitzend, bei sich selbst nur ein Zufälliges zu sein, nur durch eine wechselbare Hülle von Zufall und Tatsache, die sie umfing, von ihnen getrennt zu sein. Und während ihr das Gespräch hurtig und nichtssagend von den Lippen sprang und leblos behend wie ein Faden dahinlief, begann sie langsam der Gedanke zu verwirren, daß sie – wenn sich der Dunstkreis eines dieser Menschen um sie geschlossen haben würde – auch das, was sie dann täte, wirklich wäre, als wäre diese Wirklichkeit nur etwas Bedeutungsloses, das zuweilen durch die gleichgültig geformte Öffnung eines Augenblicks heraufschießt, unter der man, sich selbst unerreicht, in einem Strom von niemals Wirklichem dahinfließt, dessen einsamen, weltfernzärtlichen Laut keiner hört. Ihre Sicherheit, dieses in liebender Angst an jenen Einen Geklammertsein, erschien ihr in diesem Augenblick als etwas Willkürliches, Unwesentliches und bloß Oberflächliches im Vergleich mit einem vom Verstand kaum mehr zu fassenden Gefühl von unwägbarem durch dieses Einsamsein in einer letzten, geschehensleeren Innerlichkeit Zueinandergehören.
Und das war der Reiz, als ihr jetzt plötzlich der Ministerialrat einfiel. Sie begriff, daß er sie begehrte und daß bei ihm wirklich werden sollte, was hier noch ein Spiel mit Möglichkeiten war.
Einen Augenblick lang schauderte etwas in ihr und warnte sie; das Wort Sodomie fiel ihr ein; soll ich Sodomie treiben …?! Aber dahinter war die Versuchung ihrer Liebe: damit du im Wirklichen fühlen mußt, ich, ich unter diesem Tier. Das Unvorstellbare. Damit du dort nie mehr hart und einfach an mich glauben kannst. Damit ich dir ungreifbar und versinkend wie ein Schein werde, kaum daß du mich losläßt. Nur ein Schein, das ist, du weißt, ich bin nur etwas in dir, nur etwas durch dich, nur solange du mich festhältst, sonst irgend etwas, Geliebter, so seltsam vereint … Und es faßte sie eine leise untreue Abenteurertraurigkeit, jene Wehmut der Handlungen, die man nicht ihrer selbst halber sondern tut, um sie getan zu haben. Sie fühlte, daß der Ministerialrat jetzt irgendwo stand und auf sie wartete. Es dünkte sie, daß der eingeengte Gesichtskreis um sie sich schon mit seinem Atem füllte, und die Luft nahe bei ihr nahm seinen Geruch an. Sie wurde unruhig und begann sich zu verabschieden. Sie fühlte, daß sie auf ihn zugehen werde und die Vorstellung des Augenblicks griff ihr kalt an den Leib, wo es geschehen sein würde. Es war, als ob sie etwas packte und zu einer Tür zerrte, und sie wußte, diese Tür wird zufallen, und wehrte sich und lauschte doch schon mit vorgestreckten Sinnen voraus.
Als sie dem Menschen begegnete, stand er für sie nicht mehr am Anfang einer Bekanntschaft, sondern unmittelbar vor dem Hereinbruch. Sie wußte, daß inzwischen auch er über sie nachgedacht und sich einen Plan zurechtgelegt hatte. Sie hörte ihn sagen: «Ich habe mich damit abgefunden, daß Sie mich zurückweisen, aber nie wird Sie ein Mensch so selbstlos verehren wie ich.» Claudine antwortete nicht. Seine Worte kamen langsam, nachdrücklich; sie fühlte, wie es sein müßte, wenn sie wirken würden. Dann sagte sie: «Wissen Sie, daß wir wirklich eingeschneit sind?» Es erschien ihr alles so, wie wenn sie es schon einmal erlebt hätte; ihre Worte schienen in den Spuren von Worten steckenzubleiben, die sie früher einmal gesprochen haben mußte. Sie achtete nicht auf das, was sie tat, sondern auf den Unterschied, daß das, was sie jetzt tat, Gegenwart war und irgendein Gleiches Vergangenheit; dieses Willkürliche, diesen zufälligen, nahen Hauch von Gefühl darüber. Und sie hatte eine große, unbewegte Empfindung von sich, über der Vergangenheit und Gegenwart wie kleine Wellen sich wiederholten.
Nach einer Weile sagte der Ministerialrat plötzlich: «Ich fühle, daß etwas in Ihnen zögert. Ich kenne dieses Zögern. Jede Frau steht einmal in ihrem Leben davor. Sie schätzen Ihren Mann und wollen ihm gewiß nicht weh tun und verschließen sich darum. Aber eigentlich müßten Sie sich wenigstens für Augenblicke davon freimachen und auch den großen Sturm erleben.» Wiederum schwieg Claudine. Sie fühlte, wie er ihr Schweigen mißdeuten mußte, aber es tat ihr eigenartig wohl. Daß es etwas in ihr gab, das sich nicht in Handlungen ausdrücken ließ und von Handlungen nichts erleiden konnte, das sich nicht verteidigen konnte, weil es unter dem Bereich der Worte lag, das um verstanden zu werden geliebt werden mußte, wie es sich selbst liebte, etwas das sie nur mit ihrem Mann gemeinsam hatte, empfand sie stärker bei diesem Schweigen; so war es eine innere Vereinigung, während sie die Oberfläche ihres Wesens diesem Fremden überließ, der sie verunstaltete.
In solcher