Robert Musil

Gesammelte Werke


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Schwäche und Sinnlichkeit ein wunderseliges Gefühl in ihrer Liebe. Und einmal, – als sie gerade wieder zu dem Unbekannten hinübergesehen hatte und diese schattenhafte Preisgabe ihres Willens, ihrer Härte und Unantastbarkeit empfand, – stand plötzlich, hell über ihrer Vergangenheit ein Schein wie über einer unsagbaren, fremd geordneten Weite; es war ein sonderbares Zukunftsgefühl, als ob dieses längst Verflossene noch lebte. Im nächsten Augenblick aber war es nur mehr ein verlöschender Streif des Verstehens im Dunkel und nur in ihrem Innern schwang etwas nach, irgendwie als ob es die noch nie gesehne Landschaft ihrer Liebe gewesen wäre, von riesigen Dingen erfüllt und leise sausend, verwirrt und fremd, sie wußte nicht mehr wie und fühlte sich zagend und weich in sich gehüllt, voll sonderbarer, noch nicht faßbarer, von dorther kommender Entschlüsse.

      Und sie mußte an seltsam von den übrigen abgeschnittene Tage denken, die wie eine Flucht abseits liegender Zimmer einer in den andern mündend vor ihr lagen, und hörte dazwischen jeden Huftritt der Pferde, der sie – hilflos in das belanglos Gegenwärtige der durch die Umstände bedingten Nachbarschaft in diesem Schlitten geschlagen – dem näher trug, und fügte sich mit übereiltem Lachen in irgendein Gespräch und war in ihrem Innern groß und verästelt und vor Unübersehbarkeit machtlos wie mit lautlosem Tuch überspannt.

      In der Nacht dann war sie aufgewacht; wie von Schellengeklingel. Sie fühlte plötzlich, daß es schneite. Sie sah gegen das Fenster; weich und schwer wie eine Mauer stand es in der Luft. Sie schlich auf den Zehen, mit bloßen Füßen hin. Es geschah alles rasch hintereinander, dunkel kam ihr dabei vor, daß sie ihre nackten Füße wie ein Tier auf den Boden setzte. Dann starrte sie, nah und stumpf, in das dicke Gegitter der Flocken. Sie tat dies alles, wie man im Schlaf auffährt, mit dem engen Raum eines Bewußtseins, das wie eine kleine unbewohnte Insel herauftaucht. Es war ihr, als stünde sie sehr weit fort von sich. Und mit einemmal fiel ihr ein und die Betonung fiel ihr ein, mit der er gesagt hatte: wir werden hier eingeschneit werden.

      Da versuchte sie sich zu besinnen und kehrte sich um. Eng lag das Zimmer hinter ihr und es war noch etwas Sonderbares in dieser Enge, wie ein Käfig oder wie Geschlagenwerden. Claudine zündete eine Kerze an und leuchtete über die Dinge; es begann langsam der Schlaf von ihnen abzufließen und sie waren noch, als hätten sie nicht genau in sich zurückgefunden, – Schrank, Kasten, Bett und doch etwas zu viel oder zu wenig, ein Nichts, ein rauhes, rieselndes Nichts; blind und eingefallen standen sie in der kahlen Dämmerung des flackernden Lichts, auf Tisch und Wänden lag noch ein endloses Gefühl von Staub und wie barfuß darüber gehen Müssen. Das Zimmer mündete auf einen schmalen, holzgedielten, weißgetünchten Gang; sie wußte, wo die Stiege heraufkam, hing in einem Ring aus Draht eine trübe Lampe, sie warf fünf helle, schwankende Kreise an die Decke, dann verrann ihr Licht wie Spuren schmierig tastender Hände auf dem Kalk der Wände. Wie eine Wache vor einer sonderbar erregten Leere waren diese fünf hellen, sinnlos schwankenden Kreise … Ringsum schliefen fremde Menschen. Claudine fühlte eine plötzliche phantastische Hitze. Sie hätte leise schreien mögen, wie Katzen schreien vor Angst und Begierde, wie sie so dastand, aufgewacht in der Nacht, während lautlos der letzte Schatten ihres seltsam empfundenen Tuns in die schon wieder glatten Wände ihres Innern schlüpfte. Und plötzlich dachte sie: wenn er nun käme und einfach zu tun versuchte, was er doch sicher wollte …

      Sie wußte nicht, wie sie erschrak. Wie eine heiße Kugel rollte etwas über sie hin; minutenlang war nichts als dieses seltsame Erschrecken und dahinter jene peitschengerade, schweigsame Enge. Dann machte sie den Versuch, sich den Menschen vorzustellen. Aber es gelang nicht; sie fühlte bloß den vorsichtig vorgedehnten, tierhaften Schritt ihrer Gedanken. Nur zuweilen sah sie etwas von ihm, wie es in Wirklichkeit war, seinen Bart, sein eines leuchtendes Auge … Dann empfand sie Ekel. Sie fühlte, daß sie niemals mehr einem fremden Menschen gehören könnte. Und gerade da, gerade zugleich mit diesem Abscheu ihres, geheimnisvoll nur nach dem einen sehnsüchtigen, Körpers vor jedem andern, fühlte sie – wie in einer zweiten, tiefern Ebene – ein Hinabbeugen, ein Schwindeln, vielleicht eine Ahnung von menschlicher Unsicherheit, vielleicht ein Bangen vor sich, vielleicht nur ein unfaßbares, sinnloses, versuchendes dennoch jenen andern Herbeiwünschen und es floß ihre Angst durch sie wie die sengende Kälte, die eine zerstörende Lust nah vor sich hertreibt.

      Gleichmütig begann einstweilen eine Uhr mit sich selbst irgendwo zu sprechen, Schritte gingen unter ihrem Fenster vorbei und verklangen, ruhige Stimmen … Es war kühl im Zimmer, von ihrer Haut hob sich die Wärme des Schlafs, unbestimmt und widerstandslos schwang sie mit ihr wie in einer Wolke von Schwäche durch die Finsternis hin und her … Sie schämte sich vor den Dingen, die hart und aufgerichtet und längst schon wieder belanglos und sich gleich rings um sie vor sich hinstarrten, während ihr wirr vor Bewußtsein war, daß sie dastand und auf einen Unbekannten wartete. Und doch begriff sie dunkel, daß es nicht jener Fremde war, der sie lockte, sondern nur dieses Dastehn und Warten, eine feinzahnige, wilde, preisgegebene Seligkeit, sie zu sein, Mensch, in ihrem Erwachen zwischen den leblosen Dingen aufgesprungen wie eine Wunde. Und während sie ihr Herz schlagen fühlte, als trüge sie ein Tier in der Brust, – verstört, irgendwoher in sie verflogen, – hob sich seltsam ihr Leib in seinem stillen Schwanken und schloß sich wie eine große, fremde, nickende Blume darum, durch die plötzlich der in unsichtbare Weiten gespannte Rausch einer geheimnisvollen Vereinigung schaudert, und sie hörte leise das ferne Herz des Geliebten wandern, unstet, ruhelos, heimatlos in die Stille klingend wie ein Ton einer über Grenzen verwehten, fremdher wie Sternlicht flackernden Musik, von der unheimlichen Einsamkeit dieses sie suchenden Gleichklangs wie von einer ungeheuren Verschlingung ergriffen, weit über alles Wohnland der Seelen hinaus.

      Da fühlte sie, daß hier sich etwas vollenden sollte, und wurde nicht gewahr, wie lange sie so stand; Viertelstunden, Stunden … die Zeit lag reglos, von unsichtbaren Quellen gespeist, wie ein uferloser See ohne Mündung und Abfluß um sie. Nur einmal, irgendwann, glitt irgendwo von diesem unbegrenzten Horizont her etwas Dunkles durch ihr Bewußtsein, ein Gedanke, ein Einfall, … und wie es an ihr vorbeizog, erkannte sie die Erinnerung darin an lang versunkene Träume ihres früheren Lebens – sie glaubte sich von Feinden gefangen und war gezwungen, demütige Dienste zu tun – und währenddessen begann es schon zu entschwinden und schrumpfte ein und aus der dunstigen Unklarheit der Weite hob sich ein letztesmal, wie gespenstisch klar geknotetes Stangen-und Tauwerk eins nach dem andern darüber hinaus, und es fiel ihr ein, wie sie sich nie wehren gekonnt, wie sie aus dem Schlaf schrie, wie sie schwer und dumpf gekämpft, bis ihr die Kraft und die Sinne schwanden, dieses ganze maßlose, formlose Elend ihres Lebens, … und dann war es vorbei und in der wieder zusammenfließenden Stille war nur ein Leuchten, eine veratmend zurückstreichende Welle, als wäre ein Unsagbares gewesen, … und da kam es jetzt plötzlich von dort über sie – wie einstens diese schreckliche Wehrlosigkeit ihres Daseins hinter den Träumen, fern, unfaßbar, im Imaginären, noch ein zweitesmal lebte – eine Verheißung, ein Sehnsuchtsschimmer, eine niemals gefühlte Weichheit, ein Ichgefühl, das – von der fürchterlichen Unwiderruflichkeit ihres Schicksals nackt, ausgezogen, seiner selbst entkleidet – während es taumelnd nach immer tieferen Entkräftungen verlangte, sie dabei seltsam wie der in sie verirrte, mit zielloser Zärtlichkeit seine Vollendung suchende Teil einer Liebe verwirrte, für die es in der Sprache des Tags und des harten, aufrechten Ganges noch kein Wort gab.

      In diesem Augenblick wußte sie nicht mehr, ob sie nicht eben erst vor ihrem Erwachen zum letztenmal diesen Traum geträumt hatte. Seit Jahren hatte sie ihn vergessen geglaubt und mit einemmal schien seine Zeit ganz nahe hinter ihr zu stehn, wie wenn man sich umkehrt und plötzlich in ein Antlitz starrt. Und ihr wurde so seltsam, als ob in diesem einsam abgesonderten Zimmer ihr Leben in sich selbst zurückliefe wie Spuren in eine verworrene Fläche. Hinter Claudinens Rücken brannte das kleine Licht, das sie angesteckt hatte, ihr Gesicht hielt sie ins Dunkel; und allmählich fühlte sie nicht mehr, wie sie aussah, wie ein absonderliches Loch im Finstern, im Gegenwärtigen erschien ihr ihr Umriß. Und ganz langsam wurde ihr, als sei sie in Wirklichkeit gar nicht hier, wie wenn nur irgend etwas von ihr gewandert und gewandert wäre, durch Raum und Jahre, und wachte nun auf, fern von ihr selbst und verstiegen, und sie stünde in Wirklichkeit immer noch bei jenem versunkenen Traumgefühl … irgendwo … eine Wohnung tauchte auf … Menschen … eine gräßliche, verstrickte Angst … Und dann ein Erröten, ein Weichwerden der Lippen … und plötzlich das Bewußtsein, es wird wieder einer kommen, und ein anderes, vergangenes Gefühl