wie ein endlos glitzernder Faden durch die Welt läuft, schien mitten durch dieses Zimmer zu gehen und schien mitten durch diese Menschen zu gehen und schien plötzlich einzuhalten und steif zu werden, ganz steif und still und glitzernd … und die Gegenstände rückten ein wenig aneinander. Es war jenes Stillstehen und dann leise Senken, wie wenn sich plötzlich Flächen ordnen und ein Kristall sich bildet … Um diese beiden Menschen, durch die seine Mitte lief und die sich mit einemmal durch dieses Atemanhalten und Wölben und Um-sie-lehnen wie durch Tausende spiegelnder Flächen ansahen und wieder so ansahen, als ob sie einander zum erstenmal erblickten …
Die Frau setzte den Tee ab, ihre Hand legte sich auf den Tisch; wie erschöpft von der Schwere ihres Glücks, sank ein jedes in seine Kissen zurück und während sie sich mit den Augen aneinander festhielten, lächelten sie wie verloren und hatten das Bedürfnis nichts von sich zu sprechen; sie sprachen wieder von dem Kranken, von einem Kranken eines Buches, das sie gelesen hatten, und sie begannen gleich mit einer ganz bestimmten Stelle und Frage, als ob sie daran gedacht hätten, obwohl das nicht wahr war, denn sie nahmen damit nur ein Gespräch wieder auf, das sie schon durch Tage in einer sonderbaren Weise festgehalten hatte, so als ob es sein Gesicht verbürge und während es von dem Buche handelte, eigentlich anderswohin sähe; nach einer Weile waren ihre Gedanken denn auch ganz unmerklich über diesen unbewußten Vorwand wieder zu ihnen selbst zurückgekehrt.
«Wie mag ein solcher Mensch wie dieser G. sich wohl selbst sehen?» fragte die Frau und sprach – in Nachdenken versunken, fast nur wie für sich allein – weiter. «Er verführt Kinder, er verleitet junge Frauen, sich selbst zu schänden; und dann steht er da und lächelt und starrt gebannt auf das bißchen Erotik, das irgendwo wie ein schwacher Schein in ihm wetterleuchtet. Glaubst du, daß er unrecht zu handeln meint?»
«Ob er es meint? … Vielleicht; vielleicht nicht,» antwortete der Mann, «vielleicht darf man bei solchen Gefühlen gar nicht so fragen.»
«Ich glaube aber,» sagte die Frau, und jetzt zeigte sich darin, daß sie gar nicht von diesem einen zufälligen Menschen sprach, sondern von irgend etwas Bestimmtem, das für sie bereits hinter ihm dämmerte, «ich glaube, er meint gut zu handeln.»
Die Gedanken liefen nun eine Weile lautlos Seite an Seite, dann tauchten sie – weit draußen – in den Worten wieder auf; es war trotzdem, als hielten sie einander noch schweigend bei den Händen und wäre schon alles gesagt. «… er tut seinen Opfern schlecht, weh, er muß wissen, daß er sie demoralisiert, ihre Sinnlichkeit verstört und in eine Bewegung bringt, die nie mehr an einem Ziel wird ruhen können; … und dennoch, es ist, als ob man ihn dabei lächeln sähe, … ganz weich und bleich im Gesicht, ganz wehmütig und doch entschlossen, voll Zärtlichkeit; … mit einem Lächeln, das voll Zärtlichkeit über ihm und seinem Opfer schwebt … wie ein Regentag über dem Land, der Himmel schickt ihn, es ist nicht zu fassen, in seiner Wehmut liegt alle Entschuldigung, in dem Fühlen, mit dem er die Zerstörung begleitet … Ist nicht jedes Gehirn etwas Einsames und Alleiniges? …»
«Ja, ist nicht jedes Gehirn etwas Einsames?» Diese beiden Menschen, die jetzt wieder schwiegen, dachten gemeinsam an jenen Dritten, Unbekannten, an diesen einen von den vielen Dritten, als ob sie miteinander durch eine Landschaft gingen: … Bäume, Wiesen, ein Himmel und plötzlich ein Nichtwissen, warum alles hier blau und dort voll Wolken ist; … sie fühlten alle diese Dritten um sich stehen, wie jene große Kugel, die uns einschließt und uns manchmal fremd und gläsern ansieht und frieren macht, wenn der Flug eines Vogels eine unverständlich taumelnde Linie in sie hineinritzt. Es war in dem abendlichen Zimmer mit einemmal ein kaltes, weites, mittaghelles Alleinsein.
Da sagte einer von ihnen, und es war, wie wenn man leise eine Geige anstriche: «… er ist wie ein Haus mit verschlossenen Türen. In ihm ist, was er getan hat, vielleicht wie eine weiche Musik, aber wer kann sie hören? Es würde durch sie vielleicht alles zu sanfter Wehmut …»
Und der andere antwortete: «… vielleicht ist er immer wieder mit tastenden Händen durch sich gegangen, um ein Tor zu finden, und steht endlich still und legt nur mehr sein Gesicht an die verdichteten Scheiben und sieht von fern die geliebten Opfer und lächelt …»
Sonst sprachen sie nichts, aber in ihrem selig verschlungenen Schweigen klang es höher und weiter. «… Nur dieses Lächeln holt sie ein und schwebt über ihnen und noch aus der zuckenden Häßlichkeit ihrer verblutenden Gebärden flicht es einen dünnstengligen Strauß … Und zögert zärtlich, ob sie ihn fühlen, und läßt ihn fallen und steigt entschlossen, von dem Geheimnis seines Alleinseins mit bebenden Flügeln getragen, wie ein fremdes Tier in die Wunder volle Leere des Raums.»
Auf dieser Einsamkeit fühlten sie das Geheimnis ihres Zuzweienseins ruhen. Es war ein dunkles Gefühl der Welt um sie, das sie aneinanderschmiegte, es war ein traumhaftes Gefühl der Kälte von allen Seiten bis auf eine, wo sie aneinanderlehnten, sich entlasteten, deckten, wie zwei wunderbar aneinandergepaßte Hälften, die, zusammengefügt, ihre Grenze nach außen verringern, während ihr Inneres größer ineinanderflutet. Sie waren manchmal unglücklich, weil sie nicht alles bis ins Letzte einander gemeinsam machen konnten.
«Erinnerst du dich,» sagte plötzlich die Frau, «als du mich vor einigen Abenden küßtest, wußtest du, daß da etwas zwischen uns war? Es war mir etwas eingefallen, im gleichen Augenblick, etwas ganz Gleichgültiges, aber es war nicht du und es tat mir plötzlich weh, daß es nicht du sein mußte. Und ich konnte es dir nicht sagen und mußte erst über dich lächeln, weil du es nicht wußtest und mir ganz nah zu sein glaubtest, und wollte es dir dann nicht mehr sagen und wurde böse auf dich, weil du es nicht selbst fühltest, und deine Zärtlichkeiten fanden mich nicht mehr. Und ich traute mich nicht, dich zu bitten, daß du mich lassen solltest, denn in Wirklichkeit war es ja nichts, ich war dir ja nah in Wirklichkeit, und doch war es, wie ein undeutlicher Schatten war es zugleich, als könnte ich fern von dir und ohne dich sein. Kennst du dieses Gefühl, es stehen manchmal alle Dinge plötzlich zweimal da, voll und deutlich, wie man sie weiß, und dann noch einmal, blaß, dämmernd und erschreckt, als ob sie heimlich und schon fremd der andere anblickte? Ich hätte dich nehmen mögen und in mich zurückreißen … und dann wieder dich wegstoßen und mich auf die Erde werfen, weil es möglich gewesen war …»
«War das damals …?»
«Ja, das war damals, als ich dann plötzlich unter dir zu weinen begann; wie du glaubtest, aus Übermaß der Sehnsucht, mit meinem Fühlen noch tiefer in deines zu dringen. Sei mir nicht bös, ich mußte es dir sagen und weiß nicht warum, es ist ja nur eine Einbildung gewesen, aber sie schmerzte mich so, ich glaube, nur deswegen mußte ich an diesen G. denken. Du …?»
Der Mann im Sessel hatte die Zigarette weggelegt und war aufgestanden. Ihre Blicke klammerten sich aneinander fest, mit jenem gespannten Schwanken der Körper zweier Menschen, die auf einem Seil nebeneinanderstehn. Dann sagten sie nichts, sondern zogen die Läden hoch und sahen auf die Straße hinaus; ihnen war, als lauschten sie auf ein Knistern von Spannungen in sich, die etwas wieder neu formten und zur Ruhe legten. Sie fühlten, daß sie ohneeinander nicht leben konnten und nur zusammen, wie ein kunstvoll in sich gestütztes System, das zu tragen vermochten, was sie wollten. Wenn sie aneinander dachten, erschien es ihnen fast krank und schmerzhaft, so zart und gewagt und unerfaßbar fühlten sie in seiner Empfindlichkeit gegen die kleinste Unsicherheit in seinem Innern ihr Verhältnis.
Nach einer Weile, als sie im Anblick der fremden Welt draußen wieder sicher geworden waren, wurden sie müde und wünschten nebeneinander einzuschlafen. Sie fühlten nichts als einander und doch war es – schon ganz klein und im Dunkel verschwindend – noch ein Gefühl wie nach allen vier Weiten des Himmels.
Am nächsten Morgen fuhr Claudine nach der kleinen Stadt, wo das Institut war, in dem ihre dreizehnjährige Tochter Lilli erzogen wurde. Dieses Kind stammte aus ihrer ersten Ehe, aber sein Vater war ein amerikanischer Zahnarzt, den Claudine – während eines Landaufenthaltes von Schmerzen gepeinigt – aufgesucht hatte. Sie hatte damals vergeblich auf den Besuch eines Freundes gewartet, dessen Eintreffen sich über alle Geduld hinaus verzögerte, und in einer eigentümlichen Trunkenheit von Ärger, Schmerzen, Äther und dem runden weißen Gesicht des Dentisten, das sie durch Tage beständig über dem ihren schweben sah, war es geschehen. Es erwachte niemals das Gewissen in ihr wegen dieses Vorfalls, noch wegen irgendeines jenes ersten, verlorenen Teils ihres