Robert Musil

Gesammelte Werke


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er; der war im Zorne der größten Niedertracht fähig, und Törleß’ Schimpf und Auflehnung schienen ihn tief verletzt zu haben. Und Beineberg? Er hatte ausgesehen, als zitterte er unter einem jahrelang verhaltenen Hasse, … und das doch nur, weil er sich vor Törleß böse blamiert hatte.

      Doch je tragischer sich die Ereignisse über seinem Kopfe zusammenzogen, desto gleichgültiger und mechanischer erschienen sie Törleß. Er hatte vor den Drohungen Angst. Das ja; aber weiter nichts. Die Gefahr hatte ihn mitten in das Wirbeln der Wirklichkeit gezogen.

      Er legte sich zu Bett. Er sah Beineberg und Reiting weggehen und den müden Schritt Basinis vorbeischlürfen. Aber er ging nicht mit.

      Doch marterten ihn schreckliche Vorstellungen. Zum ersten Male dachte er wieder mit einiger Innigkeit an seine Eltern. Er fühlte, daß er diesen ruhigen, gesicherten Boden brauche, um das zu festigen und auszureifen, was ihm bisher nur Verlegenheiten gebracht hatte.

      Was aber war das? Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken und über die Ereignisse zu grübeln. Nur eine leidenschaftliche Sehnsucht fühlte er, aus diesen wirren, trubelnden Verhältnissen herauszukommen, eine Sehnsucht nach Stille, nach Büchern war in ihm. Als sei seine Seele schwarze Erde, unter der sich die Keime schon regen, ohne daß man noch weiß, wie sie herausbrechen werden. Das Bild eines Gärtners drängte sich ihm auf, der jeden Morgen seine Beete begießt, mit gleichmäßiger, zuwartender Freundlichkeit. Dieses Bild ließ ihn nicht los, seine zuwartende Sicherheit schien alle Sehnsucht auf sich zu sammeln. Nur so darf es kommen! Nur so! fühlte Törleß, und über alle Angst und alle Bedenken sprang die Überzeugung hinweg, daß er alles daransetzen müsse, diesen Seelenzustand zu erreichen.

      Nur über das, was zunächst zu geschehen habe, war er sich noch nicht klar. Denn vor allen Dingen wurde durch diese Sehnsucht nach friedlicher Vertiefung sein Abscheu vor dem bevorstehenden Intrigenspiel nur noch verstärkt. Auch hatte er wirkliche Angst vor der ihm auflauernden Rache. Sollten die beiden wirklich versuchen, ihn vor der Klasse anzuschwärzen, so würde ihn die Gegenarbeit einen ungeheuren Aufwand an Energie kosten, um den es ihm gerade jetzt leid tat. Und dann, – selbst wenn er nur an diesen Wirrwarr, an dieses jedes höheren Wertes bare Sichstoßen mit fremden Absichten und Willenskräften dachte, überlief ihn ein Ekel.

      Da fiel ihm ein Brief ein, den er lange vorher von zu Hause erhalten hatte. Es war die Antwort auf einen von ihm an die Eltern gerichteten, in dem er damals, so gut es gehen mochte, von seinen sonderbaren Seelenzuständen berichtet hatte, bevor noch die Episode mit der Sinnlichkeit eingetreten war. Es war wieder eine recht hausbackene Antwort, voll rechtschaffener, langweiliger Ethik gewesen und riet ihm, Basini zu bewegen, daß er sich selbst stelle, damit dieser unwürdige, gefährliche Zustand seiner Abhängigkeit ein Ende finde.

      Diesen Brief hatte Törleß später wieder gelesen, als Basini nackt neben ihm auf den weichen Decken der Kammer lag. Und es hatte ihm eine besondere Lust bereitet, diese schwerfälligen, einfachen, nüchternen Worte auf der Zunge zergehen zu lassen, während er sich dachte, daß seine Eltern wohl durch das allzu Taghelle ihres Daseins blind gegen das Dunkel seien, in dem seine Seele augenblicks wie eine geschmeidige Raubkatze kauerte.

      Heute aber langte er ganz anders nach dieser Stelle, als sie ihm wieder einfiel.

      Eine angenehme Beruhigung breitete sich über ihn, als hätte er die Berührung einer festen, gütigen Hand gefühlt. Die Entscheidung war in diesem Augenblick gefallen. Ein Gedanke war in ihm aufgeblitzt, und er hatte ihn bedenkenlos ergriffen, gleichsam unter dem Patronate seiner Eltern.

      Er blieb wach liegen, bis die drei zurückkamen. Dann wartete er, bis er an den gleichmäßigen Atemzügen hörte, daß sie schliefen. Nun riß er hastig ein Blatt aus seinem Notizbuche und schrieb bei dem ungewissen Lichte der Nachtlampe in großen, schwankenden Buchstaben darauf:

      «Sie werden dich morgen der Klasse ausliefern, und es steht dir Fürchterliches bevor. Der einzige Ausweg ist, daß du dich selbst dem Direktor anzeigst. Zu Ohren würde es ihm ja auch ohnedies kommen, nur daß man dich vorher noch halbtot prügeln würde.

      Schiebe alles auf R. und B. und schweige von mir.

      Du siehst, daß ich dich retten will.»

      Diesen Zettel steckte er dem Schlafenden in die Hand.

      Dann schlief auch er, von der Aufregung erschöpft, ein.

      Den nächsten Tag schienen Beineberg und Reiting noch als Frist Törleß gewähren zu wollen.

      Mit Basini wurde es jedoch Ernst.

      Törleß sah, wie Beineberg und Reiting zu einzelnen hingingen, und wie sich dort um sie herum Gruppen bildeten, in denen eifrig geflüstert wurde.

      Dabei wußte er nicht, ob Basini seinen Zettel gefunden habe, denn ihn zu sprechen fand sich keine Gelegenheit, da sich Törleß beobachtet fühlte.

      Anfangs hatte er überhaupt Angst, daß es sich auch schon um ihn handle. Aber er war nunmehr im Angesichte der Gefahr von ihrer Widerwärtigkeit so gelähmt, daß er alles an sich hätte herankommen lassen.

      Später erst mischte er sich zaghaft, gefaßt, daß sich augenblicks alle gegen ihn kehren würden, unter eine der Gruppen.

      Aber man bemerkte ihn gar nicht. Es galt vorläufig erst Basini.

      Die Aufregung wuchs. Törleß konnte es beobachten. Reiting und Beineberg mochten wohl noch Lügen hinzugetan haben. …

      Erst lächelte man, dann wurden einige ernst, und böse Blicke glitten an Basini vorbei, endlich brütete es wie ein dunkles, heißes, von finsteren Gelüsten schwangeres Schweigen über der Klasse.

      Zufällig war ein freier Nachmittag.

      Alle versammelten sich hinten bei den Kästen; dann wurde Basini vorgerufen.

      Beineberg und Reiting standen wie zwei Bändiger zu seinen Seiten.

      Das probate Mittel des Entkleidens machte, nachdem man die Türen verschlossen und Posten ausgestellt hatte, allgemeinen Spaß.

      Reiting hielt ein Päckchen Briefe von Basinis Mutter an diesen in seiner Hand und begann vorzulesen.

      «Mein gutes Kind …»

      Allgemeines Gebrülle.

      «Du weißt, daß ich von dem wenigen Gelde, über das ich als Witwe verfüge …»

      Unflätiges Lachen, zügellose Scherze flattern aus der Masse auf. Reiting will weiterlesen. Plötzlich stößt einer Basini. Ein anderer, auf den er dabei fällt, stößt ihn halb im Scherze, halb in Entrüstung zurück. Ein dritter gibt ihn weiter. Und plötzlich fliegt Basini, nackt, mit von der Angst aufgerissenem Munde, wie ein wirbelnder Ball, unter Lachen, Jubelrufen, Zugreifen aller im Saale umher, – von einer Seite zur andern, – stößt sich Wunden an den scharfen Ecken der Bänke, fällt in die Knie, die er sich blutig reißt, – und stürzt endlich blutig, bestaubt, mit tierischen, verglasten Augen zusammen, während augenblicklich Schweigen eintritt und alles vordrängt, um ihn am Boden liegen zu sehen.

      Törleß schauderte. Er hatte die Macht der fürchterlichen Drohung vor sich gesehen.

      Und immer noch wußte er nicht, was Basini tun werde.

      In der nächsten Nacht sollte Basini an ein Bett gebunden werden, und man hatte beschlossen, ihn mit Florettklingen durchzupeitschen.

      Aber zur allgemeinen Verwunderung erschien schon am frühen Morgen der Direktor in der Klasse. In seiner Begleitung der Klassenvorstand und zwei Lehrer. Basini wurde von der Klasse entfernt und in ein eigenes Zimmer gebracht.

      Der Direktor aber hielt eine zornige Ansprache wegen der zutage getretenen Roheiten und ordnete eine strenge Untersuchung an.

      Basini hatte sich selbst gestellt.

      Jemand mußte ihn von dem ihm Bevorstehenden verständigt haben.

      Gegen Törleß schöpfte niemand Verdacht. Er saß still und in sich gekehrt, als ginge ihn das Ganze gar nichts an.

      Nicht einmal Reiting und Beineberg suchten in ihm den Verräter. Ihre Drohungen gegen ihn hatten sie selbst nicht ernst genommen; sie hatten sie, um ihn einzuschüchtern, um ihre Überlegenheit fühlbar zu machen, vielleicht