schwieg. Er fand es ganz selbstverständlich, daß er nun gehen könne, und niemand hinderte ihn daran.
Als er draußen war, sahen sich die Zurückgebliebenen verdutzt an.
Der Direktor neigte unschlüssig den Kopf hin und her. Der Klassenvorstand fand als erster das Wort. «Ei, dieser kleine Prophet wollte uns wohl eine Vorlesung halten. Aber der Kuckuck mag aus ihm klug werden. Diese Erregung! Und dabei dieses Verwirren ganz einfacher Dinge!»
«Rezeptivität und Spontaneität des Denkens,» sekundierte der Mathematiker. «Es scheint, daß er zu großes Augenmerk auf den subjektiven Faktor aller unserer Erlebnisse gelegt hat und daß ihn das verwirrte und zu seinen dunklen Gleichnissen trieb.»
Nur der Religionslehrer schwieg. Er hatte aus den Reden Törleß’ so oft das Wort Seele aufgefangen und hätte sich gerne des jungen Menschen angenommen.
Aber er wußte doch nicht recht, wie es gemeint war.
Der Direktor jedoch machte der Situation ein Ende. «Ich weiß nicht, was eigentlich in dem Kopfe dieses Törleß steckt, jedenfalls aber befindet er sich in einer so hochgradigen Überreizung, daß der Aufenthalt in einem Institute für ihn wohl nicht mehr der geeignete ist. Für ihn gehört eine sorgsamere Überwachung seiner geistigen Nahrung, als wir sie durchführen können. Ich glaube nicht, daß wir die Verantwortung weiter tragen können. Törleß gehört in die Privaterziehung; ich werde in diesem Sinne an seinen Vater schreiben.»
Alle beeilten sich, diesem guten Vorschlage des ehrlichen Direktors beizupflichten.
«Er war wirklich so eigentümlich, daß ich beinahe glaube, er hat Anlage zum Hysteriker,» sagte der Mathematiker zu seinem Nachbar.
Zu gleicher Zeit mit dem Briefe des Direktors traf ein solcher von Törleß bei seinen Eltern ein, in welchem er sie um seine Herausnahme bat, weil er sich in dem Institute nicht mehr auf seinem Platze fühle.
Basini war mittlerweile strafweise entlassen worden. In der Schule ging alles den gewohnten Gang.
Es war beschlossen, daß Törleß von seiner Mutter abgeholt werde. Er nahm gleichgültigen Abschied von seinen Kameraden. Beinahe begann er schon ihre Namen zu vergessen.
In die rote Kammer war er nie mehr hinaufgestiegen. Das schien alles weit, weit hinter ihm zu liegen.
Seit Basinis Entfernung war es tot. Fast so, als ob dieser Mensch, der alle diese Beziehungen an sich gekettet hatte, sie nun auch mit sich fortgenommen hätte.
Etwas Stilles, Zweifelndes war über Törleß gekommen, aber die Verzweiflung war weg. «Es waren wohl nur jene heimlichen Sachen mit Basini, die sie so gesteigert hatten,» dachte er sich. Sonst schien ihm gar kein Grund vorzuliegen.
Aber er schämte sich. So wie man sich am Morgen schämt, wenn man in der Nacht – von einem Fieber gepeinigt – aus allen Winkeln des dunklen Zimmers furchtbare Drohungen sich emportürmen sah.
Sein Verhalten vor der Kommission; es kam ihm ungeheuer lächerlich vor. Soviel Aufhebens! Hatten sie nicht recht gehabt? Wegen einer solch kleinen Sache! Jedoch es war etwas in ihm, das dieser Beschämung den Stachel nahm. «Gewiß gebärdete ich mich unvernünftig,» überlegte er, «jedoch scheint das Ganze überhaupt wenig mit meiner Vernunft zu tun gehabt zu haben.» Das war nämlich jetzt sein neues Gefühl. Er hatte die Erinnerung an einen fürchterlichen Sturm in seinem Inneren, zu dessen Erklärung die Gründe, die er jetzt noch in sich dafür vorfand, beiweitem nicht ausreichten. «Also mußte es wohl etwas viel Notwendigeres und Tief erliegendes gewesen sein,» schloß er, «als was sich mit Vernunft und Begriffen beurteilen läßt. …»
Und das, was vor der Leidenschaft dagewesen war, was von ihr nur überwuchert worden war, das Eigentliche, das Problem, saß fest. Diese wechselnde seelische Perspektive je nach Ferne und Nähe, die er erlebt hatte. Dieser unfaßbare Zusammenhang, der den Ereignissen und Dingen je nach unserem Standpunkte plötzliche Werte gibt, die einander ganz unvergleichlich und fremd sind …
Dies und alles andere, – er sah es merkwürdig klar und rein – und klein. So wie man es eben am Morgen sieht, wenn die ersten reinen Sonnenstrahlen den Angstschweiß getrocknet haben und Tisch und Schrank und Feind und Schicksal wieder in ihre natürlichen Dimensionen zurückkriechen.
Aber wie da eine leise, grüblerische Müdigkeit zurückbleibt, so war es auch Törleß geschehen. Er wußte nun zwischen Tag und Nacht zu scheiden; – er hatte es eigentlich immer gewußt, und nur ein schwerer Traum war verwischend über diese Grenzen hingeflutet, und er schämte sich dieser Verwirrung: aber die Erinnerung, daß es anders sein kann, daß es feine, leicht verlöschbare Grenzen rings um den Menschen gibt, daß fiebernde Träume um die Seele schleichen, die festen Mauern zernagen und unheimliche Gassen aufreißen, – auch diese Erinnerung hatte sich tief in ihn gesenkt und strahlte blasse Schatten aus.
Er konnte nicht viel davon erklären. Aber diese Wortlosigkeit fühlte sich köstlich an, wie die Gewißheit des befruchteten Leibes, der das leise Ziehen der Zukunft sehen in seinem Blute fühlt. Und Zuversicht und Müdigkeit mischten sich in Törleß …
So kam es, daß er still und nachdenklich auf den Abschied wartete …
Seiner Mutter, die geglaubt hatte, einen überreizten und verwirrten jungen Menschen zu finden, fiel seine kühle Gelassenheit auf.
Als sie zum Bahnhof hinausfuhren, lag rechts von ihnen der kleine Wald mit dem Hause Boženas. Er sah so unbedeutend und harmlos aus, ein verstaubtes Geranke von Weiden und Erlen.
Törleß erinnerte sich da, wie unvorstellbar ihm damals das Leben seiner Eltern gewesen war. Und er betrachtete verstohlen von der Seite seine Mutter.
«Was willst du, mein Kind?»
«Nichts, Mama, ich dachte nur eben etwas.»
Und er prüfte den leise parfümierten Geruch, der aus der Taille seiner Mutter aufstieg.
Vereinigungen
Die Vollendung der Liebe
«Kannst du wirklich nicht mitfahren?»
«Es ist unmöglich; du weißt, ich muß trachten, jetzt rasch zu Ende zu kommen.»
«Aber Lilli würde sich so freuen …»
«Gewiß, gewiß, aber es kann nicht sein.»
«Und ich habe gar keine Lust ohne dich zu reisen …» Seine Frau sagte das, während sie den Tee einschenkte, und sie sah dabei zu ihm herüber, der in der Ecke des Zimmers in dem hellgeblümten Lehnstuhl saß und an einer Zigarette rauchte. Es war Abend und die dunkelgrünen Jalousien blickten außen auf die Straße, in einer langen Reihe anderer dunkelgrüner Jalousien, von denen sie nichts unterschied. Wie ein Paar dunkel und gleichmütig herabgelassener Lider verbargen sie den Glanz dieses Zimmers, in dem der Tee aus einer matten silbernen Kanne jetzt in die Tassen fiel, mit einem leisen Klingen aufschlug und dann im Strahle stillzustehen schien, wie eine gedrehte, durchsichtige Säule aus stroh-braunem, leichtem Topas … In den etwas eingebogenen Flächen der Kanne lagen Schatten von grünen und grauen Farben, auch blaue und gelbe; sie lagen ganz still, wie wenn sie dort zusammengeflossen wären und nicht weiter könnten. Der Arm der Frau aber ragte von der Kanne weg und der Blick, mit dem sie nach ihrem Manne sah, bildete mit ihm einen starren, steifen Winkel.
Gewiß einen Winkel, wie man sehen konnte; aber jenes andere, beinahe Körperliche konnten nur diese beiden Menschen in ihm fühlen, denen es vorkam, als spannte er sich zwischen ihnen wie eine Strebe aus härtestem Metall und hielte sie auf ihren Plätzen fest und verbände sie doch, trotzdem sie so weit auseinander waren, zu einer Einheit, die man fast mit den Sinnen empfinden konnte; … es stützte sich auf ihre Herzgruben und sie spürten dort den Druck, … er richtete sie steif an den Lehnen ihrer Sitze in die Höhe, mit unbewegten Gesichtern und unverwandten Blicken, und doch fühlten sie dort, wo er sie traf, eine zärtliche Bewegtheit, etwas ganz Leichtes, als ob ihre Herzen wie zwei Schwärme kleiner Schmetterlinge ineinanderflatterten …
An diesem dünnen, kaum wirklichen und doch so wahrnehmbaren Gefühl hing, wie an einer leise zitternden Achse,