Robert Musil

Gesammelte Werke


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Einanderstützen, ein Gleichgewicht durch die beständige Bewegung nach vorwärts. Ein Hand in Hand laufen, aber manchmal kam, mitten darin, doch, plötzlich, diese Versuchung stehenzubleiben, ganz allein stehenzubleiben und um sich zu sehn. Sie fühlte dann ihre Leidenschaft wie etwas Zwingendes, Nötigendes, Fortreißendes; und noch wenn es überwunden war und sie Reue fühlte und das Bewußtsein von der Schönheit ihrer Liebe sie von neuem überkam, war das starr und schwer wie ein Rausch und sie begriff entzückt und ängstlich jede ihrer Bewegungen so groß und steif darin wie in goldenen Brokat verschnürt; irgendwo aber lockte etwas und lag still und bleich wie Märzsonnenschatten auf frühlingswunder Erde.

      Claudine wurde auch in ihrem Glück zuweilen von dem Bewußtsein einer bloßen Tatsächlichkeit, fast seines Zufalls befallen; sie dachte manchmal, es müßte noch eine andere, ferne Art des Lebens für sie bestimmt sein. Es war das vielleicht nur die Form eines Gedankens, die von früher in ihr zurückgeblieben war, nicht ein wirklich gemeinter Gedanke, sondern nur ein Gefühl, wie es ihn einst begleitet haben mochte, eine leere, unaufhörliche Bewegung des Spähens und Hinaussehens, die – zurückweichend und nie zu erfüllend – ihren Inhalt längst verloren hatte und wie die Öffnung eines dunklen Gangs in ihren Träumen lag.

      Vielleicht war es aber ein einsames Glück, viel wunderbarer als alles. Etwas Lockeres, Bewegliches und dunkel Empfindsames an einer Stelle ihres Verhältnisses, wo in der Liebe anderer Menschen nur knöchern und seelenlos das feste Traggerüst liegt. Eine leise Unruhe war in ihr, ein fast krankhaftes Sich nach äußerster Gespanntheit sehnen, die Ahnung einer letzten Steigerung. Und manchmal war es, als sei sie einem ungekannten Liebesleid bestimmt.

      Zuweilen wenn sie Musik hörte, berührte diese Ahnung ihre Seele, heimlich, weit draußen, irgendwo …; sie erschrak dann darüber, dort, im Unkenntlichen plötzlich noch ihre Seele zu spüren. Jedes Jahr aber kam eine Zeit, in der Winterwende, wo sie sich diesen äußersten Grenzen näher fühlte als sonst. In diesen nackten, entkräftet zwischen Leben und Tod hängenden Tagen empfand sie eine Wehmut, die nicht die des gewöhnlichen Verlangens nach Liebe sein konnte, sondern fast eine Sehnsucht, diese große Liebe, die sie besaß, zu verlassen, als dämmerte vor ihr der Weg einer letzten Verkettung und führte sie nicht mehr zum Geliebten hin, sondern fort und schutzlos in die weiche, trockene Welkheit einer schmerzhaften Weite. Und sie merkte, daß das von einer fernen Stelle kam, wo ihre Liebe nicht mehr bloß etwas zwischen ihnen allein war, sondern in blassen Wurzeln unsicher an der Welt hing.

      Wenn sie zusammen gingen, waren ihre Schatten nur ganz dünn gefärbt und hingen so locker an ihrem Schritt, als vermöchten sie ihn nicht an die Erde zu binden, und der Klang des harten Bodens unter ihren Füßen war so kurz und versinkend und kahle Sträucher starrten so in den Himmel, daß es in diesen von einer ungeheuren Sichtbarkeit durchschauerten Stunden war, als ob sich mit einemmal die stummen, folgsamen Dinge von ihnen losgemacht hätten und seltsam würden, und sie waren hoch und aufgerichtet in dem halben Licht, wie Abenteurer, wie Fremde, wie Unwirkliche, von ihrem Verhallen ergriffen, voll Stücken eines Unbegreiflichen in sich, dem nichts antwortete, das von allen Gegenständen abgeschüttelt wurde und von dem ein zerbrochener Schein in die Welt fiel, der verworfen und ohne Zusammenhang da in einem Ding, dort in einem entschwindenden Gedanken aufleuchtete.

      Dann vermochte sie zu denken, daß sie einem andern gehören könnte, und er erschien ihr nicht wie Untreue, sondern wie eine letzte Vermählung, irgendwo wo sie nicht waren, wo sie nur wie Musik waren, wo sie eine von niemandem gehörte und von nichts widerhallte Musik waren. Denn dann fühlte sie ihr Dasein nur wie eine knirschende Linie, die sie eingrub, um sich in dem wirren Schweigen zu hören, wie etwas, wo ein Augenblick den nächsten fordert und sie das wurde, was sie tat, – unaufhaltsam und belanglos – und doch etwas blieb, was sie nie tun konnte. Und während ihr plötzlich war, als möchte es sein, daß sie einander erst mit der Lautheit des einen leisen, fast wahnsinnig innigen, schmerzlichen Ton Nichthörenwollens liebten, ahnten ihr die tieferen Verwicklungen und ungeheuren Verschlingungen, die in den Pausen geschahen, den Lautlosigkeiten, den Augenblicken des aus dem Tosen in die uferlose Tatsache Aufwachens, unter bewußtlosen Geschehnissen mit einem Gefühl dazustehn; und mit dem Schmerz des einsamen nebeneinander Dahineinragens, – vor dem alles andere Handeln nur ein Betäuben und Verschließen und mit Lärm Sicheinschläfern war, – liebte sie ihn, wenn sie dachte, ihm das letzte erdschwere Weh zu tun.

      Noch Wochen danach blieb ihrer Liebe diese Farbe; dann verging es. Aber oft, wenn sie die Nähe eines andern Menschen fühlte, kehrte es schwächer wieder. Es genügte ein gleichgültiger Mensch, der etwas Gleichgültiges sprach, und sie empfand sich wie von dorther angesehen … erstaunt … warum bist du noch hier? Es geschah nie, daß sie nach solchen fremden Geschöpfen verlangte; es war ihr schmerzhaft an sie zu denken; es ekelte ihr. Aber es war mit einemmal das körperlose Schwanken der Stille um sie; und sie wußte dann nicht, ob sie sich hob oder sank.

      Claudine sah jetzt hinaus. Es war draußen alles noch so wie vorher. Aber – ob es nun eine Folge ihrer Gedanken war oder warum sonst – schal und unnachgiebig lag ein Widerstand darüber, als sähe sie durch eine dünne, milchige Widrigkeit hindurch. Jene unruhige, überleichte, tausendbeinige Lustigkeit war unerträglich gespannt geworden; es trippelte und floß, überreizt und äffend, wie von zwergenhaften Schritten darinnen etwas allzu Lebhaftes und blieb für sie doch stumm und tot; da, dort warf es sich wie ein leeres Klappern empor, schliff wie mit einer ungeheuren Reibung dahin.

      Es tat ihr körperlich weh, in diese Bewegung zu schauen, in der ihr Empfinden nicht mehr war. Dieses Leben, das kurz vorher noch in sie hineingedrungen und Gefühl geworden war, sah sie noch da, draußen, voll von sich und benommen, aber sobald sie es an sich zu ziehen suchte, bröckelten die Dinge ab und zerfielen unter ihrem Ansehn. Es entstand eine Häßlichkeit, die seltsam in den Augen bohrte, als beugte sich dort ihre Seele hinaus, weit und gespannt, und langte nach etwas und griffe ins Leere …

      Und mit einemmal fiel ihr ein, daß auch sie – genau so wie all dies – in sich gefangen und auf einen Platz gebunden dahinlebte, in einer bestimmten Stadt, in einem Hause darin, einer Wohnung und einem Gefühl von sich, durch Jahre auf diesem winzigen Platz, und da war ihr, als ob auch ihr Glück, wenn sie einen Augenblick stehen bliebe und wartete, wie solch ein Haufen gröhlender Dinge davonziehen könnte.

      Aber es erschien ihr nicht bloß als ein zufälliger Gedanke, sondern es war etwas darin von dieser sich grenzenlos aufrichtenden Öde, in der ihr Gefühl vergeblich einen Halt suchte, und es rührte sie ganz leise etwas an, wie es einen Kletterer an einer Wand faßt, und es kam ein ganz kalter, stiller Augenblick, wo sie sich selbst hörte wie ein kleines, unverständliches Geräusch an der ungeheuren Fläche und dann an einem plötzlichen Verstummen merkte, wie leise sie gesickert war und wie groß und voll grauenhaft vergessener Geräusche dagegen die steinerne Stirn der Leere.

      Und während sie sich davor einzog wie eine dünne Haut und die lautlose Angst, an sich zu denken, in den Fingerspitzen spürte und ihre Empfindungen wie kleine Körnchen an ihr klebten und ihre Gefühle wie Sand rieselten, hörte sie wieder den eigentümlichen Ton; wie ein Punkt, ein Vogel schien er in der Leere zu schweben.

      Und da empfand sie plötzlich alles wie ein Schicksal. Daß sie gereist war, daß die Natur vor ihr zurückwich, daß sie sich gleich zu Beginn dieser Fahrt so scheu geduckt und gefürchtet hatte, vor sich, vor den anderen, vor ihrem Glück, und ihre Vergangenheit erschien ihr mit einemmal wie ein unvollkommener Ausdruck von etwas, das erst geschehen mußte.

      Sie sah ängstlich noch immer hinaus. Aber es begann allmählich unter dem Druck des ungeheuer Fremden ihr Geist sich aller Abwehr und bezwingenwollenden Kräfte zu schämen und ihr war, als besänne er sich, und es ergriff ihn leise jene feinste, letzte, geschehenlassende Kraft der Schwäche und er wurde dünner und schmaler als ein Kind und weicher als ein Blatt verblichener Seide; und nur mehr mit einem sanft heraufdämmernden Entzücken empfand sie dieses tiefste, abschiedhaft menschliche Glück der Fremdheit in der Welt, mit dem Gefühl nicht in sie eindringen zu können, zwischen ihren Entscheidungen keine für sich bestimmt zu finden und, mitten unter ihnen an den Rand des Lebens gedrängt, den Augenblick vor dem Sturz in die blinde Riesenhaftigkeit eines leeren Raums zu fühlen.

      Und sie begann, sich mit einemmal ganz dunkel nach ihrem früheren, von fremden Menschen mißbrauchten und ausgenützten Leben zu sehnen, wie nach dem blassen,