Rodolphe Topffer

Die Bibliothek meines Oheims


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       Rodolphe Töpffer

      Die Bibliothek meines Oheims

      Eine Genfer Novelle

      Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2021

       [email protected]

      EAN 4064066114251

       I. Die beiden Gefangenen.

       II. Die Bibliothek.

       III. Henriette.

       Die beiden Gefangenen.

       Inhaltsverzeichnis

      Ich habe Leute kennen gelernt, die an der Schwelle des väterlichen Kramladens groß geworden sind. Dieselben hatten sich in dieser Lebensweise eine gewisse praktische Menschenkenntniß erworben, und so eine Art spießbürgerlichen Sinn, einen Philistergeschmack, eine Gewöhnlichkeit der Ansichten bei kleinstädtischer Engherzigkeit und Vorurtheilen. Man machte sie zu Advokaten, Beamten, und jeder übertrug denn von seiner Ladenschwelle weg gute oder schlechte Eindrücke, die sich nie verwischten, in diese seine Wirkungskreise.

      Andere saßen dieselbe Lebenszeit, ich will sagen etwa ums funfzehnte Jahr, in einem einsamen Kämmerlein unterm Dache, über stillem Hofe. Die wurden nachdenkliche Leute, und – wie wenig sie mit den Straßenneuigkeiten bekannt waren – ein kleiner Kreis von Nachbarn genügte ihnen, reiche Beobachtungen über diese für sich anzustellen. Sie erwarben sich eine zwar minder ausgebreitete, dafür aber desto innerlichere Menschenkenntniß. Wie manche Zeit verbrachten sie, fern von jeder Zerstreuung, mit sich selbst, während jene Ersteren auf ihrer Ladenschwelle immer von neuen Gegenständen angezogen wurden und so weder Zeit noch Lust bekamen, eine Bekanntschaft ihres eigenen Innern zu machen. Ob Advokat oder Minister, muß nicht der Mann aus dem Dachstübchen andere Weisen haben, als der von Vaters Thüre!

      Oder hätte das etwa keinen Einfluß, was einem vor Augen geschieht? und die Leute, die um einen herumlaufen, und das Gerede, das man hört, und die düsteren oder aufheiternden Gegenstände, die man sieht, und die Nachbarschaft und all die tausend Zufälligkeiten? Fürwahr! es ist ein eigen Ding um die Erziehung! Indeß Ihr mit klarem Bewußtsein nach den Rathschlägen eines Freundes oder Buchs Geist und Herz Eures Kindes zu dem von Euch erwünschten Ziele zu lenken sucht, kommen Dinge, Gerede, Nachbarn, Zufälligkeiten und verschwören sich gegen Euch oder helfen auch wol nach, ohne daß ihr Einfluß zu verhindern oder nur zu entbehren wäre.

      Später endlich, wenn's so über zwanzig, fünfundzwanzig Jahre kommt, thut der Einfluß der Wohnung wenig mehr. Mag dieselbe düster oder heiter, bequem oder ärmlich sein: sie gleicht einer Schule, worin der Unterricht geschlossen ist. In diesem Alter baut der Mensch seine Lebensbahn; er ist bereits vor jener, die Zukunft einschließenden Wolke angelangt, die ihm eben noch so fern erschien; seine Seele ist nicht mehr träumerisch und gelehrig; die Gegenstände spiegeln sich wol in ihr ab, lassen aber keinen Eindruck mehr zurück.

      Ich nun wohnte in einem einsamen Stadttheile[1], nämlich hinter der Peterskirche in der Nähe des bischöflichen Gefangenhauses. Durch das Grün einer Akazie gewahrte ich die Fensterbogen der Kirche, den Fuß des hohen Thurms, ein schmales Fenster des Gefängnisses und in der Ferne zwischen den Dächern hin den See und seine Ufer. Wie viel vortreffliche Lehren hätte ich nicht daraus gewinnen können; wie sehr hatte mich das Schicksal vor andern Knaben meines Alters begünstigt! Mag ich sie nun auch nicht recht zu benutzen gewußt haben, so rechne ich es mir doch zum Ruhme an, aus dieser Schule hervorgegangen zu sein, die edler als eine Ladenschwelle und reicher als ein einsames Stübchen war. Sicher, hätte ich nur im mindesten Anlage besessen, wäre ich darin zum Dichter geworden.

      [1]: Dieser Stadttheil grenzt an die Hauptkirche Genfs, das in Rede stehende Haus ist unter dem Namen Maison de la bourse française (französisches Stift) bekannt, weil es zur Unterstützung von genfer Protestanten französischer Abkunft bestimmt war.

      Indeß bei Licht besehen, ist es so besser; denn ich bezweifle gar sehr, daß es jemals einen glücklichen Dichter gegeben hat. Oder kennt Ihr etwa einen Einzigen auch unter den Glücklichsten von ihnen, der seinen Durst nach Ruhm und Ehre stillen konnte? Kennt Ihr Einen selbst unter den Größten und gerade unter diesen, der je mit seinen Arbeiten zufrieden gewesen wäre und in ihnen die himmlischen Gebilde wieder erkannte, die sein Genius ihm vorhielt? Ein Leben voll trügerischer Hoffnungen, Enttäuschungen, Ueberdruß, das ist alles! Ja, mehr noch! dies ist nur die Oberfläche, sie muß, denke ich, noch größere Schmerzen, noch bitterern Unmuth einschließen. Diese Köpfe bauen sich ein übermenschliches Glück, welches jeden Tag zerschellt oder zusammenbricht. Sie strecken ihr Haupt hoch in die Himmel und sind an die Erde gefesselt; sie lieben Göttinnen und finden nur Sterbliche. Tasso, Petrarca und du, Racine, ihr empfindsamen, kranken Seelen, ihr nimmer ruhigen, ewig blutenden, klagereichen Herzen, sagt einmal, um welchen Preis ihr unsterblich geworden!

      Das ist Ursache und Wirkung. Weil sie Dichter sind, leiden sie solche Qualen und weil sie solche Qualen leiden, sind sie Dichter. Aus dem Kampfe in ihrem Innern springt, wie ein Blitz aus der Wolke, der Strahl, welcher aus ihren Versen uns anglänzt; das Leiden enthüllt ihnen die Freude, die Freude lehrt sie das Leiden; an der Seite ihrer Enttäuschungen blühen ihre Hoffnungen. Aus diesem reichen Chaos, aus diesen fruchtbaren Schmerzen entstehen ihre erhabenen Lieder. So entlockt der Sturm der einsamen Aeolsharfe die süßesten Töne.

      Ich wundere mich darum gar nicht mehr, daß ich einmal einen gescheiten Mann sagen hörte: lieber ein Winkelkrämer als weltberühmter Dichter, lieber der namenlose Giraud als Dante Alighieri.

      Diese Vorstellung, die ich mir vom Dichter mache, ist ganz wahr, denn man sehe nur, wonach diejenigen ringen, welche nach diesem Berufe streben. Ist es nicht, wenn irgend möglich, nach dieser Verwirrung, diesen Schmerzen, diesem reichen Chaos? Gleich wie man die Tugend durch fromme Redensarten nachäfft, so äffen sie die Poesie durch Worte der Klage, der Angst und unaussprechlichen Schmerzes nach. Sie leiden in ihren Versen, sie seufzen in ihren Versen, sie schleppen darin mit zwanzig Jahren das ersterbende Alter eines verbitterten Lebens, sie vergehen darin! Fast Alle beginnen damit. Ach! Freundchen, es ist nicht so leicht als du denkst, traurig, unglücklich, betrübt sein; von Wünschen gefoltert, von Entzücken gegeißelt zu werden, sein Leben verbittern, sterben wie Millevoye! Darum die Maske herunter und zeige dein Antlitz heiter. Warum, du dicker Freund, o warum deiner Natur nicht folgen? Was für einen Vorzug erblickst du darin, seufzend und klagend zu erscheinen, für todt und doch nicht im Grabe vergessen zu gelten?

      Wenn ich übrigens von fruchtbaren Schmerzen rede, so will ich damit keinesweges sagen, daß jeder große Dichter in seinen Versen nothwendig seufzen und weinen müsse; im Gegentheil, die reizendsten Phantasien überdecken seinen bittern Unmuth. Selbst wenn er uns in ein entzückendes Elysium zaubert oder uns die Schönheit mit den himmlischsten Farben malt, so ist es die Leere der Erde, die ihn zur Flucht in glücklichere Höhen bewog. Er malt die Gesundheit, weil er krank ist, den Sommer, weil er auf Eisfeldern irrt, frische Quellen, weil ringsum Dürre schmachtet. Der Unglückliche kostet einige Minuten lang entzückenden Rausch und läßt uns aus der Schale mittrinken; wir bekommen den Nektar, ihm bleiben