Rodolphe Topffer

Die Bibliothek meines Oheims


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und das ging endlos so weiter; zuweilen fiel es auf den Rücken, das ist bekanntlich für einen Maikäfer ein großes Unglück; ehe ich ihm zu Hilfe kam, bewunderte ich seine Langmüthigkeit, mit der er seine sechs Arme in der leeren Luft herumstreckte, in der immer fehlschlagenden Hoffnung, an irgend einen Körper anzuhaken, obgleich keiner da war. – Die Maikäfer sind doch dumme Thiere, sprach ich bei mir.

      In der Regel half ich ihm dadurch aus der Noth, daß ich ihm die Spitze meiner Feder hinhielt; dies führte mich zu der größten, glücklichsten Entdeckung. Ich kann in diesem Betracht mit Berquin sagen, daß eine gute Handlung niemals unbelohnt bleibt. Mein Maikäfer hatte sich an den Bart der Feder angeklammert, und während er sich erholte, schrieb ich eine Zeile, wobei ich mehr auf ihn und seine Thaten achtete, als auf die des Julius Cäsar, den ich eben übersetzte. Wird er davonfliegen oder die Feder herunterklettern? Von welchen Zufällen hängen doch alle Dinge ab! Hätte er sich zu dem ersten entschlossen, so wäre es um meine Entdeckung geschehen gewesen, ich hätte sie nicht einmal geahnt; glücklicherweise kletterte er bergab. Als er sich der Dinte näherte, empfand ich eine Vorahnung; ich fühlte, daß große Dinge geschehen würden. So ahnte Columbus, ohne die Küste zu sehen, sein Amerika. Wirklich netzt mein Maikäfer, als er an dem Ende des Schnabels angekommen ist, seine Schwanzspitze mit Dinte. Schnell ein weißes Blatt...... ein Augenblick der höchsten Spannung.

      Die Schwanzspitze kommt auf's Papier, die Dinte hinterläßt Spuren und wunderbare Zeichnungen entstehen. Zuweilen hob der Maikäfer, ob aus Verstand oder weil der Vitriol seine Nerven angriff, im vollen Gange den Schwanz in die Höhe und ließ ihn erst später wieder nieder. Daraus entsteht eine Reihe von Punkten, eine Arbeit von wunderbarer Zartheit. Dann wieder änderte er seine Richtung und bog ab; jetzt ändert er den Plan noch einmal und kommt wieder zurück: es ist ein S!... Bei dieser Entdeckung durchzuckte mich ein Lichtstrahl.

      Ich versehe dem staunenden Thiere die Schwanzspitze wohl mit Dinte und setze es auf die erste Seite meines Heftes. Dann nehme ich einen Strohhalm, um seine Arbeit zu leiten, um seine Pfade zu lenken, und zwinge den Maikäfer sich so zu bewegen, daß er meinen Namen schreibt. Es bedurfte zweier Stunden; aber welch' Meisterwerk!

      »Die edelste Eroberung, welche der Mensch je gemacht hat, sagt Buffon, ist.... sicherlich der Maikäfer!«

      Um die Arbeit zu leiten, hatte ich mich dem Fenster genähert, eben wurde der letzte Buchstabe fertig, da rief eine Stimme leise: Freundchen! Ich sah schnell auf die Straße. Da war niemand. – Hier! rief dieselbe Stimme. – Wo? fragte ich. – Im Gefängnisse.

      Jetzt merkte ich, daß die Worte aus dem Kerkerfenster gekommen und von dem Verbrecher, dessen abscheuliches Lächeln mich so heftig erschreckt hatte, an mich gerichtet waren. Ich fuhr bis an die andere Wand meines Zimmers zurück.

      – Fürchten Sie nichts, fuhr die Stimme fort; ein braver Mensch spricht mit Ihnen... – Schurke! rief ich, wenn Sie mich noch länger anreden, so rufe ich die Wache!

      Er schwieg einen Augenblick. – Als man mich neulich durch die Straße brachte, hub er darauf wieder an, sah ich Ihr Gesicht und schloß daraus, daß Sie ein mitleidiges Herz hätten und ein unglückliches Opfer der Ungerechtigkeit beklagen könnten.... – Schweigt! rief ich aufs Neue, Bösewicht! Ihr habt einen Greis und ein Kind ermordet!....

      – Ach! ich sehe wol, Sie sind verblendet wie Alle. Noch so jung und doch schon das Schlimmste glauben! Er schwieg, denn er hörte jemand die Straße kommen. Es war ein schwarzgekleideter Mann, ein Leichenträger, wie ich nachher erfuhr.

      Als der Mann vorüber war, fuhr er fort: – Ach! der ehrwürdige Gefängnißprediger ist ganz anders. Der weiß, Gottlob! daß mein Herz rein und meine Seele ohne Flecken ist! Er schwieg wiederum. Diesmal ging ein Gendarm vorüber. Ich trug Bedenken, ihn anzurufen und ihm die Reden des Gefangenen mitzutheilen; allein diese Worte selbst hatten schon zu sehr auf meine Leichtgläubigkeit eingewirkt, als daß ich diese Regung wieder unterdrücken konnte. Außerdem schien es mir ein Verrath zu sein, da doch der Gefangene der Ehrlichkeit meines Gesichts vertraut hatte. Meine Eigenliebe fühlte sich zu sehr geschmeichelt, als daß ich ein solches Lob Lügen strafen konnte. Ich habe ja eben gesagt, daß diese Leidenschaft sich von Allem nährt, es ist keine Hand so schmutzig, daß sie sich nicht gern davon streichen ließe.

      Nach der Unterhaltung, die mich zum Fenster gelockt hatte, blieb der Gefangene ruhig und ich kehrte zu meinem Maikäfer zurück.

      Welches Entsetzen! das Unheil war groß, unverbesserlich! schnell ergriff ich den Urheber und warf ihn zum Fenster hinaus, dann betrachtete ich mit Schrecken die verzweifelte Geschichte.

      Ein langer schwarzer Streifen lief vom vierten Kapitel de bello gallico gerade durch zum linken Rande; da war dem Thiere der Schnitt zu steil gewesen, um hinabzuklettern, und es hatte sich wiederum nach dem rechten Rande umgedreht. Jetzt war es nördlich gewandelt und hatte beschlossen, mittelst des Dintenfasses das Buch zu verlassen, war aber dabei den sanften, glatten Abhang hinuntergeglitten in den Abgrund, in die Gehenna, in die Dinte, zu seinem Verderben und meinem.

      Jetzt hatte der Maikäfer leider zu spät bemerkt, daß er nicht auf der rechten Straße sei, und den Weg zurückzugewinnen versucht: von Kopf bis zu den Füßen in Schwarz gehüllt, war er wieder aus der Dinte gekrochen und zum vierten Kapitel de bello gallico zurückgekehrt, wo ich ihn, der keinen Begriff davon hatte, fand.

      Das waren entsetzliche Flecken; Seen, Flüsse, eine ganze Kette von Kreuz- und Querstrichen, ohne Geschmack, ohne Genie.... ein schwarzes, abscheuliches Bild!!

      Ach! das Buch, das Buch war eine Elzevir-Ausgabe meines Lehrers, ein Elzevir in Quarto, ein seltener, kostbarer, unersetzlicher Elzevir, der mir aufs eindringlichste auf die Seele gebunden war. Ich war unrettbar verloren.

      Ich fing die Dinte mit Löschpapier auf, ich trocknete das Blatt und dann begann ich meine Lage zu überdenken.

      Ich empfand mehr Angst als Gewissensbisse; am meisten fürchtete ich mich, daß ich den Maikäfer bekennen mußte. Wie schlimm mußte nicht mein Lehrer diesen schändlichen Zeitvertreib ansehen, für einen Knaben von meinen Jahren, wie er zu sagen pflegte, diesen so kindischen und wahrscheinlich höchst unmoralischen Zeitvertreib. Das machte mich zittern.

      Satan, dessen ich mich in dem Augenblicke nicht versah, trat heran und bot mir Auswege dar. Satan fehlt niemals zur Stunde der Versuchung; er gab mir eine ganz kleine Lüge an die Hand. Während meiner Abwesenheit wäre die verwünschte Katze des Nachbars ins Zimmer gekommen und hätte das Dintenfaß auf das vierte Kapitel de bello gallico geworfen. Da ich nun aber während der Arbeitsstunden nicht ausgehen durfte, so wollte ich meine Abwesenheit dadurch rechtfertigen, daß ich eine Feder hatte kaufen müssen. Da aber in einem Schranke noch genug Federn zu meiner Verfügung lagen, so hatte ich gestern beim Baden den Schlüssel verloren. Und da ich nun gestern keine Erlaubniß gehabt hatte, baden zu gehen und wirklich auch nicht dort gewesen war, so setzte ich voraus, daß ich ohne Erlaubniß dort gewesen und durch das Geständniß dieses Fehlers meiner kunstreichen Erfindung ungemein viel Wahrscheinlichkeit verlieh, wie sich auch zu gleicher Zeit meine Gewissensangst verminderte, da ich mich ja offenherzig eines Fehlers anklagte, was mich in meinen Augen fast....

      Schon war der sinnreiche Plan ganz fertig, als ich Herrn Ratins Schritte auf der Treppe vernahm.

      In meiner Verwirrung schlug ich das Buch zu, öffnete es wieder, schlug es nochmals zu und öffnete es rasch aufs neue, damit der Flecken selber spräche, und mir wenigstens die Unannehmlichkeit des ersten Geständnisses ersparte....

      Herr Ratin kam, um mir Stunde zu geben; er legte den Hut ab, rückte den Stuhl an, setzte sich und schnaubte sich, ohne das Buch zu sehen. Um Fassung zu bekommen, schnaubte ich mich ebenfalls. Auf diese Bewegung hin sah Herr Ratin mich groß an; es war ja die Nase dabei im Spiel.

      Anfangs