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Leopold von Schroeder
Bhagavadgita - Des Erhabenen Sang
Religiöse Stimmen der Völker
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2020
EAN 4064066117313
Inhaltsverzeichnis
ANHANG LITERATUR ZUM STUDIUM DER BHAGAVADGITA
EINLEITUNG
Die Bhagavadgîtâ ist ein philosophisches Gedicht – und nicht mit Unrecht nennt Wilhelm von Humboldt sie „das schönste, ja vielleicht das einzig wahrhafte philosophische Gedicht, das alle uns bekannten Literaturen aufzuweisen haben.“ In der Tat ist es wohl das einzige in der Weltliteratur, welches ganz diesem Begriff entspricht, d. h. wirklich philosophisch und doch zugleich ein echtes, von höchstem poetischen Schwunge getragenes Gedicht ist, was sich nicht einmal von dem berühmten gedankenreichen, aber doch mehr trockenen, philosophischen Gedichte des Lucrez „De natura rerum“ völlig behaupten läßt. Daß ein solches Gedicht gerade bei den Indern entstehen konnte, ja entstehen mußte, das begreift sich leicht, wenn man weiß, in welchem Grade dies hochbegabte Volk vor anderen Völkern schon früh, schon im vedischen Altertum von großen philosophischen Gedanken erfaßt und durchdrungen wird, mit welcher Energie es um die Klärung und Ausgestaltung seiner Weltanschauung fort und fort ringt, in welcher Ausdehnung hier philosophische Gedanken durch Jahrhunderte und Jahrtausende sich mit den religiösen Vorstellungen verbinden und verschmelzen, aus ihnen erwachsen und sie wiederum bestimmen, ja auch Leben und Handeln bestimmen und beherrschen. Es begreift sich, wenn man zugleich die Kraft der Poesie, die echt arische Fähigkeit hochfliegender Begeisterung kennt, die in diesem merkwürdigen Volke seit alters wirkt und lebt, bald schlummernd, träumend, bald in hellem Jubel erwachend, mit elementarer Macht aufflammend. Schon aus dem Rigveda tönen uns so erhabene, ergreifende Klänge philosophischer Poesie entgegen, wie sie jenes berühmte Lied vom Weltenursprung enthält, das mit den Worten anhebt: „Damals war weder Sein noch Nichtsein“ usw. Und dann gleich in den ältesten Upanishads, vielleicht 7–800 Jahre vor Christo, welche Größe und Kraft, welche Kühnheit und Klarheit der philosophischen Gedanken und Bilder, mit welchem poetischem Schwung, mit welcher feurigen und stolzen Begeisterung verkündet! Wie tief lassen uns die schon oft geschilderten philosophisch-theosophischen Wettkämpfe jener Zeit hineinblicken in das leidenschaftliche Suchen und Ringen nach Erkenntnis der Wahrheit, in die Kraft der Begeisterung, mit der die gefundene Weisheit verkündet wird. Und diese Bewegung der Geister setzt sich fort in der weiteren Upanishaden-Literatur, sie zieht sich durch das große Epos Mahâbhârata, sie gewinnt im Buddhismus und Jainismus neue Formen, sie kristallisiert sich in den verschiedenen philosophischen Systemen und Kommentaren, sie lebt auch in den Gesetzbüchern, sie schimmert und leuchtet in den Purânen und unzähligen anderen Werken. Und sie treibt die Menschen dazu, der Welt zu entsagen, um nur den großen, ewigen Gedanken zu leben.
Sie erfaßt in der Folge auch die Eroberer, die Herrscher des Landes aus nichtindischem Stamme, zwingt den edlen Prinzen Mohammed Daraschakoh, Krone und Reich der Großmoguln in die Schanze zu schlagen, um für die Wahrheit siegend unterzugehen[1]. Sie erfaßt auch die höher gearteten europäischen Besucher des wunderbaren Landes mit unwiderstehlicher Gewalt. Sie setzt sich fort bis in die Gegenwart, bis zu jenem nackten Heiligen mit dem Gesichte eines alten deutschen Professors, Lehrers oder Pastors, der vor kurzem noch in einem Garten von Benares vor einer Kapelle saß, die sein eigenes Bildnis in Marmor enthielt, und der zu den Bemerkungen lebenslustiger Spötter wohl milde lächeln und ihnen kopfschüttelnd zuflüstern konnte: „Alles, was uns umgibt, ist nicht Wirklichkeit, sondern nur ein Traum!“[2].
Ja, in diesem Lande konnte und mußte philosophische Dichtung entstehen, wie sie in schönster, reichster Blüte die Bhagavadgîtâ uns vorführt.
Seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden schon ist die Bhagavadgîtâ in Indien selbst berühmt und hoch gefeiert. Ebendarum gehörte sie wohl auch schon zu den ersten Werken der altindischen Literatur, die in Europa bekannt wurden. Schon im Jahre 1785 wurde die geistvolle Dichtung durch den Engländer Wilkins übersetzt und trug nicht wenig dazu bei, die Aufmerksamkeit der Europäer auf die alte Sanskrit-Literatur zu richten. Der Führer der Romantiker, die sich Indien so wahlverwandt fühlten und fühlen mußten – denn Indien ist das Land der Romantik – August Wilhelm von Schlegel, der erste Professor des Sanskrit in Deutschland, gab den Originaltext des Gedichtes im Jahre 1823 heraus und versah denselben mit einer musterhaften lateinischen Übersetzung[3]. Und ein Mann wie Wilhelm von Humboldt war so mächtig davon ergriffen, daß er an seinen Freund Gentz, den bekannten Diplomaten, schrieb: er danke Gott, daß er ihn so lange habe leben lassen, um dieses Gedicht noch lesen zu können! – Das Wort ist schon oft angeführt worden, doch hier ist es am Platze und durfte nicht fehlen. Humboldt widmete diesem Gedichte dann noch eine eingehende geistvolle Abhandlung, die zum besten gehört, was über den Inhalt der Bhagavadgîtâ geschrieben ist[4].
Wenn man die Bhagavadgîtâ ein philosophisches Gedicht nennt, so ist das eigentlich nicht genug – die Bezeichnung