erklären, daß ein Gedicht von so ausgesprochen theistischer Tendenz wie die Bhagavadgîtâ, der Verherrlichung des großen Gottes Krishna-Vishnu gewidmet, gerade die Sânkhya-Lehre sich zur philosophischen Grundlage erwählen konnte, – die Sânkhya-Lehre, deren atheistischer Charakter so deutlich hervortrat? Hier lagen große Rätsel verborgen. Doch sie sollten nicht vergeblich ihrer Lösung harren.
Diese Lösung wurde in zielbewußter Weise vorbereitet durch die gründliche Erforschung der altindischen Philosophie, der sich die europäischen Indologen insbesondere in den letztvergangenen drei Jahrzehnten mit großem Erfolge gewidmet haben. Gerade die deutschen Gelehrten sind an dieser Arbeit in erster Linie beteiligt gewesen, allen voran Paul Deussen und Richard Garbe, welche beide sich ein unvergängliches Verdienst um diesen Zweig der Forschung erworben haben[12].
Doch der erste Anstoß, durch welchen der philosophische Inhalt der Bhagavadgîtâ in ein ganz unerwartet neues Licht gestellt werden sollte, erfolgte von anderer Seite her. Er ging von dem scharfsinnigen und gelehrten Jesuitenpater Joseph Dahlmann aus, der sich mit großer Energie in das gewaltige indische Epos und die überaus schwierige Frage seiner Entstehung und Zusammensetzung hineingearbeitet hatte. Dahlmann veröffentlichte zunächst i. J. 1895 ein geistvolles Buch über das Mahâbhârata als Epos und Rechtsbuch[13] und ließ demselben schon in dem darauffolgenden Jahre ein glänzend geschriebenes Werk über den wichtigen Begriff des Nirvâna folgen, das als Studie zur Vorgeschichte des Buddhismus bezeichnet war, in der Tat aber weit mehr bot, als sich nach diesem Titel erwarten ließ[14]. In diesem Buch untersuchte der Verfasser mit großem Scharfsinn die älteste Entwicklung der Philosophie bei den Indern, kam vielfach zu neuen Resultaten und versuchte, auf Grund derselben ebenso kühn wie energisch eine neue Konstruktion der Entstehung und Entwicklung des indischen Denkens. Er bemühte sich zu zeigen, daß der nüchtern rationalistischen und atheistischen Sânkhya-Philosophie, wie sie uns aus den erhaltenen Lehrbüchern des indischen Mittelalters bekannt ist, eine ältere, noch ganz und gar theistische Form ebenderselben Philosophie vorausgegangen sein möchte. Und er findet diese ältere Form der Sânkhya-Philosophie in dem großen Epos Mahâbhârata, insbesondere auch in der berühmtesten philosophischen Episode desselben, unsrer Bhagavadgîtâ, erhalten. Was man früher als das Resultat eines Synkretismus, einer Verschmelzung von Sânkhya und Yoga mit theistischen und vedântistischen Elementen ansah, das erklärte Dahlmann kühn für das Ältere, Ursprünglichere, aus dem die uns bekannte Form der rationalistischen und atheistischen Sânkhya-Lehre erst auf dem Wege einer Jahrhunderte langen Umbildung sich entwickelt hätte. Durch diese Theorie wurde der Bhagavadgîtâ, wie auch den anderen philosophischen Partien des Mahâbhârata ein sehr viel höherer Wert zugesprochen, als man ihnen früher beizumessen wagte; und es steht dieselbe in deutlichem Zusammenhang mit Dahlmanns Ansicht von dem hohen Alter, dem organischen Wachstum und durchaus einheitlichen Charakter des Mahâbhârata, welches er sich schon lange vor Buddha entstanden und ohne wesentliche Veränderung erhalten denkt, im Gegensatz zu der herrschenden Theorie einer mehrfach stattgefundenen tiefgreifenden Überarbeitung, die übrigens auch in der Tradition eine starke Stütze hat. Im ganzen hat Dahlmanns geistreich und scharfsinnig verfochtene Hypothese bei den kompetenten Fachgenossen nur wenig Beifall gefunden. Speziell der Theorie, daß die Bhagavadgîtâ und verwandte philosophische Teile des großen Epos eine ältere, resp. die älteste Form der Sânkhyalehre uns darböten, ist einer der vorzüglichsten Kenner der altindischen Philosophie, Hermann Jacobi, mit nüchterner Kritik sehr bestimmt entgegen getreten[15]. Sie fand auch sonst entschieden mehr Ablehnung als Beistimmung, trotzdem Dahlmanns Buch überaus fesselnd geschrieben ist und die Theorie in seiner Darstellung etwas sehr Bestechendes hat. Die meisten Forscher – so Garbe, Jacobi, Pischel u. a. – hielten an der Anschauung fest, daß wir in der Bhagavadgîtâ und den verwandten philosophischen Texten des Mahâbhârata, im ganzen, d. h. in der vorliegenden Form, nichts Altes und Ursprüngliches vor uns haben, vielmehr jüngere Entwicklung, Weiterbildung, Kontamination und Verschmelzung verschiedener Lehren, somit also Texte von nur mäßiger Bedeutung für die Geschichte der indischen Philosophie.
Diesen Standpunkt klar und bestimmt, mit ebenso viel Scharfsinn wie gründlichster Sachkenntnis, unter Aufstellung wesentlich neuer Gesichtspunkte verfochten und bis in seine letzten Konsequenzen hinein verfolgt zu haben, ist das unleugbare Verdienst von Richard Garbes Übersetzung der Bhagavadgîtâ und der ihr vorausgeschickten, eingehenden und hochinteressanten Einleitung[16]. Wenn dabei Dahlmanns energischer Vorstoß in ganz anderer Richtung unberücksichtigt bei Seite liegen blieb, so tut das dem Werte des von Garbe hier positiv Gebotenen keinen wesentlichen Eintrag.
Adolf Holtzmann, der Jüngere, glaubte die Widersprüche in der Bhagavadgîtâ in der Weise erklären zu können, daß er annahm, das Gedicht habe in seiner ursprünglichen Form einen ganz pantheistischen Charakter getragen, sei aber dann in dem Sinne einer speziellen Verehrung des Krishna-Vishnu, des zum Gotte erhobenen epischen Helden, theistisch umgearbeitet worden. Gerade umgekehrt will R. Garbe die Sache angesehen wissen. Er betont mit Recht, daß der ganze Charakter des Gedichtes, seiner Anlage und Ausführung nach, überwiegend theistisch sei: „Ein persönlicher Gott, Krishna, tritt auf, in der Gestalt eines menschlichen Helden, trägt seine Lehren vor, fordert von dem Hörer neben Pflichterfüllung vor allen Dingen gläubige Liebe zu ihm und Ergebung, offenbart sich dann in besonderer Gnade in seiner überirdischen, aber immer noch menschenähnlichen Gestalt, und verheißt dem Gläubigen als Lohn der Gottesliebe, daß dieser nach dem Tode zu ihm eingehen, in die Gemeinschaft Gottes gelangen werde“[17]. Dieser persönliche Gott Krishna, dessen Verehrung die ursprüngliche Fassung des Gedichtes mit Hilfe der Sânkhya-Yoga-Lehre philosophisch zu fundieren gesucht hätte, sei dann erst später, durch eine vedântistische Überarbeitung des Textes, die auch in anderen Teilen des Mahâbhârata sich erkennen lasse, zum Allgott erhoben worden.
Krishna ist die große Gestalt, die im Mittelpunkte der Bhagavadgîtâ steht. Er ist selbst der Bhagavant, der Erhabene, als dessen Sang (Gîtâ) das Gedicht bezeichnet wird. Er ist es, nach dem auch die alte monotheistische Sekte der Bhâgavatas sich benennt, als deren vornehmstes Erbauungsbuch wir die Bhagavadgîtâ zu betrachten haben, ja der sogar aller Wahrscheinlichkeit nach als der Stifter dieser Sekte anzusehen ist. Davon geht Garbe aus und darauf legt er mit Recht ein besonderes Gewicht. Krishna, der Sohn des Vasudeva und der Devakî, der schon in der Chândogya-Upanishad erwähnt wird, und zwar in sehr charakteristischem Zusammenhang mit ausgesprochen ethischen Lehren[18], er ist bekanntlich einer der Haupthelden des Mahâbhârata, speziell der nationale Held des Stammes der Yâdava, dem er entsprossen. Aber er ist nicht nur ein sagenhafter Held, er ist ein wirklicher Mensch, eine historische Person gewesen, ein streitbarer Krieger, der zugleich Religionsstifter war, der in seinem Volke und unter den verwandten Nachbarstämmen eine theistische, resp. monotheistische Religion begründete, die in der Folge eine starke Lebenskraft bewährt hat und durch Râmânuja im 12. Jahrhundert nach Chr. neu reformiert zu hoher Bedeutung gebracht ward, die bis in die Gegenwart noch fortdauert. Es war von Anfang an eine populäre Religion, die, unabhängig von der vedischen Überlieferung und von dem eigentlichen Brahmanentum, wahrscheinlich von vornherein die moralische Seite betonte, eine kraftvoll ethische Kshatriya-Religion, jener von Garbe schon früher so eindrucksvoll geschilderten Zeit entsprossen, in welcher die Krieger und Könige in Indien so vielfach an Stelle der Priester die geistige Führung an sich gerissen hatten[19]. Einige Jahrhunderte vor Buddha dürfte dieser Held, im doppelten Sinne des Wortes, wohl gelebt haben, der nach seinem Tode dann selbst zum Gott erhoben, resp. als eine Verkörperung des von ihm verkündigten und gefeierten großen einen Gottes betrachtet wurde[20].
Einem Zuge der Zeit und des Volkscharakters folgend bemühte man sich nachmals, die Verehrung dieses vergöttlichten Religionsstifters Krishna auch philosophisch tiefer zu studieren, und verwendete dazu das altberühmte System der Sânkhya-Lehre (resp. Sânkhya-Yoga), dessen realistischen und dualistischen, rationalistischen und atheistischen Charakter ich bereits oben mit kurzen Zügen zu schildern versucht habe, ebenso wie seinen naturgemäß scharfen Gegensatz zu der ganz idealistischen All-Eins-Lehre des Vedânta, der Upanishaden. Diese Verbindung des ursprünglichen Monotheismus der Bhâgavatas mit den Lehren des Sânkhya-Yoga „erforderte – wie Garbe hervorhebt – mancherlei Umdeutungen und Entstellungen der beiden Systeme; denn nur so konnte der Theismus der Bhâgavatas mit den Lehren des ausgesprochen atheistischen Sânkhya-Systems und des nur äußerlich mit einer