hob mich auf und trug mich schnurstracks nach Hause. Das waren ja nur ein paar Meter.
Ich hatte wahnsinnige Kopfschmerzen. Mir war schwindlig und mir war zum Erbrechen schlecht. Laute Geräusche waren die Hölle. Sofort rumorte es wieder in meiner Bumsrübe, also meinem Schädel. In den Armen und Beinen hatte ich keine Kraft mehr. Das Balancegefühl war völlig im Eimer.
Unser Hausarzt wurde gerufen und stellte eine mittelschwere Gehirnerschütterung fest. Bettruhe und viel trinken, war sein Rezept. Ein paar Schmerztabletten. Das war alles. Ich musste zuhause liegen bleiben, mich langweilen und abwarten bis sich meine angeschlagenen Hirnwindungen wieder entknotet hatten. Ein paar Tage war ich wie weggetreten und sah nur aufblitzende Pünktchen vor meinen Augen.
Zur Belohnung und zum Trost bekam ich ein gelbgrünes Plastikkrokodil geschenkt. Wow... Mein Flug vor den Telefonmast hatte sich mächtig gelohnt. Ich baute den größten Mist und bekam noch Spielzeug? Ich sollte vielleicht nochmal... Lieber nicht! Aber das Krokodil liebte ich heiß und innig und hat mich später immer an den Unfall erinnert.
Nach 1 Wochen war ich wieder wohlauf und konnte wieder aufrecht sitzen und auch schon stehen. Immer mal wieder gehorchten mir meine kleinen Beine nicht so, wie ich es wollte, aber es ging voran.
Und ich wollte, dass es voranging. Ich war schließlich 5 Jahre alt, verdammt nochmal. Ich musste doch wieder in die Welt hinaus und spielen und spielen und weitere Abenteuer bestehen.
Kapitel 4: Leckere Zuckerstückchen
An die ersten drei Polio-Schluckimpfungen in 1964 bis 1966 kann ich mich nicht erinnern. Aber an die Auffrischung in 1968. Es war ein großer Saal, ein Schulraum in der Grundschule Rahmede in Altena. Sehr viele kleine Kinder in einer Reihe hintereinanderstehend wurden abgefertigt. Medizin auf Zuckerstückchen, Mäulchen auf und rein mit der Impfe. Es hätte ruhig noch mehr Zucker geben können, denn die Impflösung schmeckte auch noch durch das Zuckerstückchen hindurch bitter, aber noch erträglich. Was sein muss, musste eben sein.
Die Kampagne der Regierung in Radio, TV und Zeitungen lautete: „Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung ist grausam!“ Der Slogan tat sein Werk und alle Eltern schleppten ihre Blagen zur Impfung. Damals noch mit Lebend-Impfstoff, der abgeschwächte Erreger enthielt.
Ich bekam weitere Impfungen gegen Diphterie, Keuchhusten und Tetanus (Wundstarrkrampf). Diese Impfungen waren aber kein Zuckerschlecken. Eine Spritze in den Oberarm. Die Spritze stach und der Einstich brannte den ganzen Impftag lang.
So impftechnisch ausgerüstet konnte es schon bald wieder auf die Spielwiesen der Welt gehen, ohne von irgendwelchen hässlichen Viren in Beschlag genommen zu werden.
Kapitel 5: Matsch-Fresse
Ich zog mal wieder das Unglück an. Als Montagskind keine große Überraschung.
Ich war 5 Jahre alt im Jahr 1968 und spielte an einem sonnigen Sommertag mit einem älteren und schon größeren Mädchen aus der Nachbarschaft. Sie hatte schon ein großes Fahrrad. Ich gurkte noch auf meinem Kinderfahrrad rum.
Ich liebäugelte die ganze Zeit mit ihrem großen Fahrrad und drängte sie dazu unsere Fahrräder gegeneinander einzutauschen.
Gesagt, getan und schon saß ich irgendwie auf dem Sitz, nur mit den Zehenspitzen konnte ich die Pedale treten. Daran waren wohl meine noch zu kurzen Beinchen schuld.
Erst fuhren wir nur auf unserer geraden und ebenerdigen Straße dem Finkenweg hin und her. Das ging also schon mal. Ich hatte zwar einige Schwierigkeiten das große Rad zu handhaben, aber egal. Muss gehen. Ich wollte ja unbedingt.
Wir fuhren den leicht ansteigenden Starenweg, der auf dem Finkenweg endete, hinauf um von oben einen besseren Anlauf für die Abfahrt zu haben. Kleines Wendemanöver und dann ging es mit ordentlich Fahrt wieder die Straße hinab. Diese Straße war damals noch nicht geteert. Man hatte sie neu geschoben und sie war noch eine Schotterstraße mit tiefen Schlaglöchern.
Hui, wie der Fahrtwind in den Ohren pfiff und RUMS kam das Vorderrad in das tiefe Schlagloch, mit einem gehörigen RUCK stellte sich der Lenker quer, ich verlor den Halt und flog in hohem Bogen über den Lenker auf den Schotterweg und schrammte noch mindestens drei Meter über den Schotter mit dem Gesicht, den Händen, der Schulter und den Knien.
Was tun?
Erstmal nichts. Ich konnte gar nichts tun. Ich lag einfach nur da und... Dachte ich was? Nein, ich glaube, ich dachte an nichts. Ich hatte nur Gefühle. Schmerzen überall. Ich blieb erstmal einfach nur liegen und brüllte und heulte wie am Spieß.
Andere Kinder die unseren Fahrradquatsch mit Soße, blutiger Soße, beigewohnt hatten, fassten sich ein Herz und liefen so schnell sie konnten zu meiner Mutter. Sie schellten und meine Mutter öffnete und war ganz erstaunt, dass es nicht ihr kleiner Dietmar war.
„Frau Pritzlaff, kommen sie schnell, der Dietmar liegt auf der Straße.“
„Dann soll er doch aufstehen“, sagte meine Mutter.
„Der kann nicht aufstehen, der ist mit dem Fahrrad gestürzt.“
Jetzt erst wurde meine Mutter hellhörig, schlüpfte in ihr Straßenschuhwerk, schnappte sich den Hausschlüssel und lief den Kindern nach, die ihr den Weg zum blutigen Dietmar wiesen. Und ich blutete gewaltig, wie meine Mutter mir erzählte. Ich konnte mich nicht aufrappeln und lag wohl immer noch im Dreck.
„Zicke, zicke, zacke, jeder hat ne’ Macke. Ne’ große oder kleine, jeder Mensch hat seine.“
Ich hatte jetzt meine zweite Macke weg. Wieder eine Gehirnerschütterung, aber eine leichtere. Dafür hatte ich kaum noch ein Gesicht im Gesicht.
Meine Mutter hob mich auf und trug mich auf ihren Armen. Meine offenen blutigen Schürfwunden an sich gedrückt, bluteten ihre Schürze und Pullover voll. Eine Hälfte meines Gesichts war nur noch eine blutige Masse. Sämtliche Haut war auf der linken Gesichtshälfte verschwunden. Kleine Steinchen hatten sich in und unter das blutige Fleisch gedrückt. Die untere Lippe war futsch oder war einfach weggeschabt. Meine Nase stand etwas schief und ist bis heute schief in meinem „fast makellosen Antlitz“ (hi, hi).
Meine Mutter erzählt noch heute von meinem Unfall. Sie hätte mich nicht mehr erkannt, so schlimm soll ich ausgesehen haben. Wie Frankensteins Monster. Ein völlig zermatschtes Gesicht.
Mein Vater war zur Arbeit. Wir hatten noch gar kein Auto. Wer konnte auf die Schnelle helfen? Meine Mutter schellte bei einem Nachbarn im Nebenhaus. Ein Herr Wunderle. Der hatte zwar ein Auto und wollte meiner Mutter und mir auch helfen, konnte aber kein Blut sehen, dann würde ihm schlecht. Ab ins Auto und mich mit einer Wolldecke zugedeckt, damit der arme Fahrer beim Anblick meiner Matschfresse nicht noch vor die Ecke fuhr. Ab ging es in Windeseile ins Krankenhaus. In das Krankenhaus in dem ich zur Welt gekommen war. Vorübergehender Aufenthalt Nummer 2 also.
In den damaligen Krankenhäusern gab es noch keine speziellen Kinderstationen, wie heute. Ich musste in einem Männer-Mehrbettzimmer liegen. Fünf alte Männer und ich, das Blag mit 5 Jahren. Die alten Herren machten mir schreckliche Angst. Sie gaben Geräusche von sich, die ich bisher nicht vernommen hatte. Zum Beispiel schnarchten einige in der Nacht. Furzten wann immer sie wollten laut durchs Zimmer und der entsetzliche Gestank drang dann auch zu mir. So rochen wohl alte Menschen.
Mein Gesicht war zu einem Ballon angeschwollen. Ein Auge war fast zugequollen und die Schulter, Hände und Knie schmerzten. Ich ließ meinen Schmerzensschreien freien Lauf. Ich wollte nach Hause und die alten Herren nicht um mich haben. Aber das ging nicht, und dann kam die Stunde des Abschieds von meiner Mutter. Sie wollte am nächsten Tag und dann jeden Tag wieder zu mir kommen. Ich sollte schön brav sein.
Wie soll man denn bitteschön in dieser Atmosphäre schön brav sein, wenn die Schmerzen unerträglich sind und die Tränen einfach so liefen wie sie wollten?
Ständig hallten laute Zurufe der Herren durch das Zimmer in die Richtung meines Bettchens. Die Herren fühlten