Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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      Es ging auf die großen Sommerferien zu. In der Schule wurde nirgends mehr ernst gelernt. Allenthalben spukten Badeanzüge, Nagelschuhe und Rucksack, Hängematte und Koffer in sämtlichen Größen durch die Köpfe der Schüler und Lehrer. Die Obersekunda des Schubertschen Lyzeums machte davon keine Ausnahme. Im Gegenteil, unser Kränzchen schmiedete eifrig Ferienpläne. Ulrichs gingen an die Ostsee und nahmen Ilse Hermann mit. War das eine Seligkeit, daß die beiden Inseparables nun Tag und Nacht zusammen sein konnten. Marianne reiste mit den Eltern in den Harz. »Da brauche ich zum Glück nur eine Lodenpelerine, keinen Mantel.« Das schien Marianne das beste von der Reise. Denn sie hatte die Strafpredigt wegen der ohne Erlaubnis verschenkten Kleidungsstücke noch nicht vergessen. Vera begleitete ihre Tante nach Kissingen, wo diese die Kur gebrauchte. Margot blieb zu Hause, da alles so schrecklich teuer in diesem Jahre war und die Familie kinderreich. Aber sie tröstete sich damit, daß Annemarie Braun wohl auch nicht verreisen würde. Dann konnte man täglich zusammen morgens mit Frühstück nach dem Grunewald hinausfahren; man würde nach Halensee gemeinsam schwimmen gehen und auf dem Balkon nebeneinander sitzen mit Handarbeiten oder Büchern. Eigentlich war das noch viel schöner, Annemarie ganz für sich allein zu haben, als zu reisen. Dann war sie fünf Wochen lang ihre beste Freundin.

      Da machte ein Brief die schönen Pläne Margots zunichte. Die beiden Backfische saßen, mit Schularbeiten beschäftigt, jeder auf seinem Balkon. Durch die dünne Wand, welche sie voneinander trennte, verständigten sie sich ab und zu mittels ihrer Klopfsprache. Die stammte noch aus ihrer Kinderzeit her und wurde eifriger geübt als Englisch und Französisch. Langsames Pochen bedeutete, ich bin traurig oder ich komme mit meiner Arbeit nicht zurecht. Schnelles Tempo zeigte eine Freudenstimmung an.

      Der Briefträger kam die Straße herauf. Margot beobachtete ihn nicht weiter. Annemarie aber eilte hinaus, ob er nicht Nachricht von Bruder Hans brächte. Außerdem war es auch recht angenehm, die langweiligen Mathematikaufgaben mal zu unterbrechen. Nicht lange dauerte es, da trommelten Annemaries beide Fäuste einen wahren Jubelhymnus gegen die Balkonwand.

      Margot schlug einmal zurück. Das hieß in der Übersetzung: »Was ist los?«

      Das Klopflexikon der beiden Freundinnen war ziemlich reichhaltig. Aber für das, was Annemarie augenblicklich auf dem Herzen hatte, langte es doch nicht. Sie ließ ein Brieflein an einem Bindfaden über die Balkonwand flattern. Darin stand: »Hurra! Ich bin für die Ferien von Onkel Heinrich und Tante Käthchen auf Arnsdorf eingeladen. Ich soll bei der Ernte helfen.«

      Eine ganze Weile hörte man nichts. Dann kamen drei Schläge, langsam und schwer, von Margots Balkon. Auf deutsch: »Ich bin sehr traurig.«

      Annemarie erschrak. Ach Gott, daran hatte sie in ihrer ersten Freude nicht gedacht, daß Margot nun allein zurückbleiben würde. Wieder wanderte ein Briefchen über die weinumsponnene Wand.

      »Sei nicht traurig, Margotchen, wenn ein Eisenbahnerstreik kommt, kann ich nicht fahren, sagt Vater,« las Margot drüben unter feuerroten Pelargonien mit etwas weniger hoffnungslosen Augen.

      »Wenn doch bloß Streik kommen würde,« dachte Margot inbrünstig. Sie überlegte in ihrer Enttäuschung nicht, wie kindisch und unreif dieser Wunsch war; daß Tausende von Menschen dadurch geschädigt werden, daß die Arbeit eines ganzen Volkes unterbrochen werden sollte, damit ihr kleines Ich befriedigt wurde.

      Dennoch schien es, als ob Margots Wünsche in Erfüllung gingen. Es lag mal wieder allenthalben Streit in der Luft. Ja, man munkelte sogar von einem Generalstreik.

      »Was ist das, ein Generalstreik?« hatte Margot sich bei Annemarie über die Balkonwand hinweg erkundigt.

      »Du, Schlaukopf, das liegt doch auf der Hand. Dann streiken natürlich die Generale.« Ohne sich zu besinnen, erfolgte Annemaries Belehrung.

      Da aber erschallte aus Vaters Zimmer, dessen Erkerfenster an den Balkon grenzte, ein so herzliches Lachen, daß Annemarie doch ein wenig unsicher wurde.

      »Lotte, da hast du dir ja was Famoses geleistet.« Der Vater konnte sich gar nicht beruhigen. »Den Witz muß ich dem Ulk einschicken.«

      »Na, wieso denn, wenn es doch Generalstreik heißt?« verteidigte sich sein Nesthäkchen unwillig.

      »General heißt allgemein, das mußt du doch aus der lateinischen Stunde wissen, Obersekundaner. Allgemeiner Streik bedeutet es – hahaha – die Sache ist köstlich.«

      »Vaterchen, du erzählst keinem Menschen was davon, nein? Auch Mutti und Klaus nicht. Ich schäme mich so. Und mit dem Ulk einschicken, das war nur Ulk, nicht?« Durch das Fenster angelte Annemarie und streichelte und beschwor den Vater, doch bloß keinem Menschen was von ihrer Dämlichkeit zu verraten. Auch Margot mußte Stillschweigen geloben.

      In den Ulk kam Annemaries Schlauheit nicht. Wohl aber wanderte sie als »Histörchen« nach Freiburg zum großen Bruder Hans, der das Schwesterlein nicht schlecht damit aufzog. Klaus hatte irgendwie Wind von der Sache bekommen, wahrscheinlich hatte Margot nicht reinen Mund gehalten. Denn auf Vater war Verlaß, wenn er etwas versprach.

      Auch die Kränzchenschwestern machten ab und zu etwas peinliche Andeutungen. Ob es auch wohl zu einem Majorstreit kommen würde und dergleichen. Man scherzte so lange, bis es Ernst wurde.

      Eines Nachmittags kam der Vater ein wenig erregt mitten aus der vollen Sprechstunde heraus.

      »Wir werden gut tun, Elsbeth, uns mit Lebensmitteln zu versehen, vor allem mit Brot. Es waren soeben verschiedene Arbeiter bei mir, die mir erzählten, daß heute abend noch der Generalstreik in Kraft treten soll. Was sind das für Zeiten!« Doktor Braun ging mit ernster Miene wieder an seine Tätigkeit, ein Meer von Aufruhr zurücklassend.

      »Hanne, laufen Sie schnell zum Bäcker und holen Sie soviel Brot, wie wir noch Marken haben. Minna zum Kaufmann nach den Wochenrationen. Lotte, du springst schnell zur Großmama herum und sagst, daß sie ebenfalls Vorkehrungen trifft. Auf dem Rückweg bringst du vom Schlächter unsere Fleischration mit. Klaus, sorge, daß Karbid im Hause ist, falls die Beleuchtung versagt.« Frau Doktor gab ihre Anweisungen, trotzdem sie innerlich selbst erregt war, klar und ruhig wie ein Feldherr.

      Aber ihre Hilfstruppen wirbelten wie ein aufgescheuchtes Volk Hühner im Kreise herum.

      »Ach Jotte doch, Jotte doch, wo hab’ ich denn bloß die Brotmarken jelassen.« Hanne riß sämtliche Kästen und Schübe in der Küche auf und durchstöberte sie in Hast. Dabei lagen die gesuchten Karten mitten auf dem Tisch, wo sie dieselben bereits hingelegt hatte.

      Minna hatte den Kopf ganz und gar verloren. Sie stand plötzlich anstatt im Kolonialwarenladen, nebenan im Barbiergeschäft und wußte nicht, was sie dort sollte. Klaus machte alle mit seiner Karbidlampe verrückt und wollte in der Eile noch irgendeine Erfindung machen, daß sie weniger duftete. Annemarie hatte ihre Sinne noch am meisten beisammen. Die alarmierte nicht nur die Großmama und versetzte sie mit ihrer Nachricht in gelinde Aufregung, sondern sie machte ihr auch gleich die notwendigen Besorgungen. Der Hanne, die räsonierend von einem Bäckerladen zum andern jagte, weil überall das Brot bereits ausverkauft war, nahm sie unterwegs die Marken ab und schleppte noch drei Brote, die sie Gott weiß wo aufstöberte, heim. Unverdrossen lief Doktors Nesthäkchen treppauf, treppab, denn auf der Straße und in den Geschäften war es heute hochinteressant. Auf den Straßen kribbelte es geschäftig wie in einem Ameisenstaat durcheinander. Hier traf sie Margot Thielen, dort ein anderes Mädel aus der Schule. Und alles rannte, kaufte und schleppte, als ginge es gleich los mit dem Verhungern. Vor den Lebensmittelgeschäften staute sich das Publikum. Und als man dann endlich alles zu Hause hatte, gab’s neue Aufregung. Margot Thielen trommelte Sturm gegen die Balkonwand.

      »Du, Annemie, ihr sollt gleich alle Eimer und Gefäße, die ihr habt, mit Wasser füllen, läßt Mutter euch sagen. Die Wasserwerke streiken, in Moabit gibt’s schon kein Wasser mehr. Meine Tante hat’s eben telephoniert.«

      »Mutti – Hanne – das Wasser wird abgesperrt, schnell noch soviel Wasser als möglich einlassen, sonst müssen wir verdursten und können uns nicht mehr waschen.« Nesthäkchen war in grenzenloser Aufregung. Es begann, kleine Milchtöpfe, die zur Zierde auf dem Küchenbrett standen, schleunigst mit Wasser