Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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sonst die Art des übermütigen kleinen Dinges war, ging heute Nesthäkchen neben Fräulein her.

      »Es ist schrecklich traurig!« stieß die Kleine schließlich mit einem schweren Seufzer hervor.

      »Was denn, Annemiechen?«

      »Daß die arme Mizi ihre Eltern den ganzen Tag nicht sieht und kein Fräulein hat, nicht einmal eine Hanne, die ihr Mittagbrot kocht. Ja, gar keine richtige Schulmappe!« Jetzt brachen sich die krampfhaft zurückgehaltenen Tränen des weichherzigen kleinen Mädchens Bahn.

      »Kind, Mizi ist trotz aller Armut ein glückliches Kind, weil sie, so klein sie auch ist, sich nützlich macht und ihre Pflicht tut. Und wenn die Eltern abends von der Arbeit heimkehren, denke nur, Annemiechen, wie sie sich da wohl über ihr fleißiges Töchterchen freuen werden.«

      »Geben sie ihr auch einen Kuß?« fragte Annemarie ein wenig getrösteter.

      »Freilich«, nickte Fräulein zur Erleichterung der Kleinen. Da schmiegte Nesthäkchen in einer plötzlichen, liebevollen Aufwallung das feuchte Gesichtchen an Fräuleins Arm und flüsterte: »Ich danke dir schön, Fräulein, daß du mich vorhin im Walde gerufen hast, sonst wäre ich sicher unartig gewesen und ohne Erlaubnis mit der Mizi mitgegangen.«

      »Na, das ist ja diesmal noch gut abgelaufen. Aber meine kleine Annemie soll auch ohne mich stets daran denken, das Rechte zu tun. Wenn du Sonntag nicht mit auf die Schneekoppe gedurft hättest zur Strafe, das wäre doch traurig gewesen, was?«

      »Au, fein – Sonntag geht’s auf die Koppe!« Nesthäkchen machte vor Freude einen hohen Luftsprung. Aber noch jemand machte einen Luftsprung, und zwar einen noch viel höheren als Annemarie. Das war das schneeweiße Kätzchen in Mizis Schultasche.

      Hops – da war es aus dem dunklen Gefängnis heraus – heidi – da jagte es davon über Stock und Stein. Spornstreichs lief es zu Mizis Hüttlein zurück.

      »Meine Katze, mein süßes, kleines Kätzchen!« stieß Nesthäkchen, das vor Schreck zuerst förmlich erstarrt war, hervor. Laut schreiend wollte es hinter der davonspringenden kleinen Katze her.

      Aber Fräulein hielt Annemarie fest.

      »Laß das Kätzchen, Kind, es läuft zurück zu seiner Mutter und zu seinen Geschwistern. Wie wär’ dir wohl zumute, wenn plötzlich ein Fremder dich deiner Mutti nehmen möchte? Und Klaus, der Nichtsnutz, würde am Ende das kleine Tierchen quälen. Laß es lieber bei der Mizi. Da ist es besser aufgehoben. Du kannst es ja oft besuchen«, setzte Fräulein hinzu, als Annemarie ein grenzenlos enttäuschtes Gesicht machte.

      So mußte Nesthäkchen, das am liebsten alle fünf Kätzchen gehabt hätte, mit der leeren Tasche heimziehen. Jedoch, als sie einige Tage später Mizi ihr Eigentum zurückbrachte und gleichzeitig den Kätzchen einen Besuch abstattete, da fand die jubelnde Mizi eine wunderschöne Schulmappe in der alten, zerrissenen Tasche. Auf dem Zettel, der dabei lag, aber stand: »Von dem guten Berggeist Rübezahl.«

      14. Kapitel

       Nesthäkchen lernt Stricken

       Inhaltsverzeichnis

      Die kleinen Reisenden waren alle wieder, rotbäckig und sonnengebräunt, in die zehnte Klasse eingerückt.

      Annemarie hatte mit ihrer Freundin Margot ein jubelndes Wiedersehen gefeiert. Außer einer schwer zu entziffernden Ansichtskarte hatten die kleinen Freundinnen nichts voneinander gehört.

      Um so eifriger gingen die kleinen Mündchen jetzt. Sie schienen alles in den fünf Wochen Versäumte auf einmal nachholen zu wollen. Als Fräulein Hering ihre Klasse zur ersten Stunde nach den großen Ferien betrat, herrschte dort ein Mordsspektakel.

      »Ich hatte einen rotweißen Badeanzug – ich einen blauen – und wir sind jeden Tag barfuß gewatet – wir hatten eine süße, kleine Ziege – haach, bloß eine Ziege, bei uns in Mecklenburg gab’s hunderttausend Kühe und Gänse – etsch, wir haben doch aber eine Wagenfahrt gemacht – und ich war doch sogar auf der Schneekoppe, die reicht bis an die Wolken heran«, überschrie Annemarie gerade die anderen, als Fräulein auf den Klassentisch klopfte.

      »Ruhe!« rief Fräulein Hering, aber der Radau war lauter als ihre Stimme. Die kleinen Mädchen hatten während der langen Ferien vollständig die erste Schulregel: »Nur die Gefragte hat zu sprechen!« vergessen.

      Einen Augenblick sah die junge Lehrerin fast ratlos in diesen Tumult. Dann ergriff sie kurz entschlossen Annemarie Braun, die Lebhafteste von der ganzen kleinen Gesellschaft, bei dem mit einem roten Seidenband abgebundenen Lockenschopf.

      »So, Annemie, nun tritt mal vor und erzähle uns vom Katheder herab, wo du gewesen bist. Wir wollen doch gern alle etwas hören, aber dann müßt ihr anderen mäuschenstill sein.«

      Im Augenblick herrschte Ruhe in der Klasse. Fräulein Hering hatte ohne ein tadelndes Wort die kleinen Münder zum Schweigen gebracht. Alles spitzte neugierig die Ohren. Annemarie aber stand stolz auf dem Katheder und erzählte:

      »In Johannisbad war ich, bei den Meergänschen haben wir gewohnt. Und als wir abreisten, habe ich jedem Meergänschen was zum Andenken geschenkt. Und eine Freundin hatte ich auch da, die Himbeermizi. Fräulein sagt, die ist tausendmal fleißiger als ich. Aber die kleine Katze, die sie mir mitgegeben hat, ist wieder ausgerückt. Und dann waren wir mal auf der Schneekoppe, das war am allerfeinsten. Durch den Riesengrund sind wir raufgestiegen, aber Riesen gab’s da nicht. Bloß den Brunnenberg, in dem Rübezahl wohnt. Und gegrault habe ich mich mächtig, auch ein bißchen geheult, denn es kam gerade ein tolles Gewitter. Da hab’ ich geglaubt, Rübezahl poltert so in den Bergen, weil er böse ist. Von der Koppe konnte man beinah bis nach Amerika sehen. Und eine Ansichtskarte habe ich an Sie geschrieben, Fräulein Hering. Aber mein Fräulein hat sie nicht abgeschickt, weil ich zu viele Fehler gemacht habe«, schloß Klein-Annemarie ihren Reisebericht.

      »Ei, da hast du ja wunderschöne Ferien genossen, Annemarie. Nun mußt du aber auch deinen Eltern dafür recht dankbar sein. Zu Hause stets brav gehorchen und in der Schule fleißig deine Schuldigkeit tun, nicht wahr?«

      »Ja.« Nesthäkchen nickte eifrig, das hatte es sich selbst schon vorgenommen.

      »Wer will uns jetzt noch etwas erzählen?« fragte Fräulein Hering weiter.

      Verschiedene Zeigefinger fuhren in die Luft.

      »Marlenchen, tritt vor.«

      Das kleine Dingelchen mit den schwarzen Haarschnecken und den großen, dunkelblauen Augen, machte einen Knicks und begann:

      »Ich war in Ilmenau, und da habe ich immer Blumen gepflückt und in der Hängematte gelegen.«

      »Ich auch – ich auch«, erklang es hier und da.

      »Jetzt hat nur Marlene uns etwas zu erzählen, ihr anderen kommt nachher dran«, so schaffte Fräulein Hering wieder Ruhe.

      »Und dann durfte ich mir immer mittags eine Speise selber aussuchen.« Die Kleine schwieg in seliger Erinnerung. Damit schien ihre Reise den Höhepunkt erreicht zu haben.

      »So, jetzt Hilde Rabe.«

      »In Warnemünde war ich,« rief die mit Trompeterstimme, »und da hat mich meine große Schwester immer beim Baden getaucht, aber ich habe nicht geschrien. Bloß einmal, weil ich beinah ersoffen wäre …«

      »Ertrunken«, verbesserte Fräulein Hering.

      »Und Muscheln habe ich am Strand gefunden, so ’ne Menge –«

      »Ich hab’ drei Kästen voll – ich eine ganze Tasche –«, fiel wieder der Chor ein.

      »Aber das schönste war, wie wir immer den tauben August, der die Stiefel putzt, ausgelacht haben, weil er alles falsch verstand.«

      »Das finde ich gar nicht schön, sondern im Gegenteil recht häßlich und ungezogen, einen tauben Menschen zu verspotten«, tadelte Fräulein Hering mit sehr ernstem Gesicht.