Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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einläuteten, glaubte Annemarie, die Klingel des Milchwagens riefe sie schon. Mit beiden Beinchen sprang sie aus dem Bett.

      Waschen durfte sie sich des Morgens schon selbst, da Fräulein sie jeden Abend gründlich abscheuerte. Flink in das Bauernkleidchen geschlüpft und die Locken gebürstet. Mund zu spülen traute sich Annemarie nicht, weil das Gurgeln solchen Radau machte und sicherlich das sanft schlummernde Fräulein erweckt hätte. Aber sie nahm sich als reinliches Kind ihr Glas und ihre Zahnbürste mit hinunter und holte es unten am Brunnen nach.

      Die kleinen Meergänschen schienen noch alle zu schlafen. Nur Mutter Meergans schaffte in der Küche. Annemarie machte einen großen Bogen um sie herum, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte.

      Nicht lange dauerte es, da erschien auch Klaus, der Anstifter, im blauen Leinenanzug auf der Bildfläche.

      »Pst – schleiche mir nach«, flüsterte er. Wie bei dem beliebten Spiel »Weißer und Indianer«, so huschten die beiden ungezogenen Kinder am Waldsaum entlang, hinaus auf die Straße.

      Herzklopfend blieb Nesthäkchen stehen, als das Gartentor sich hinter ihr schloß.

      »Du, Klaus, wenn Vater nun böse ist und Mutti am Ende gar haut?« begann sie zögernd.

      »Haach – du olle Memme, bleib doch zu Haus, wenn du bange bist, dann bimmele ich eben allein. Aber wehe dir, wenn du klatschst!«

      Nein, Klaus sollte nicht ohne sie bimmeln! Die artige Anwandlung verflog im Nu wieder bei Nesthäkchen. Hand in Hand rannten die beiden Geschwister die Straße hinab.

      Dort unten stand bereits der weiße Milchwagen.

      Der Milchmann, ein freundliches Männlein, knallte lustig mit der Peitsche, als er seines kleinen Freundes ansichtig wurde.

      »Na, hast du dir noch Gesellschaft mitgebracht?« fragte er schmunzelnd.

      »Ja, meine kleine Schwester«, stellte Klaus großartig vor. Annemarie machte einen tiefen Knicks.

      »Also denn hoppla!« Damit hob der Milchmann die Kleine auf den Bocksitz. Klaus, stolz seine Hilfe verschmähend, kletterte selbständig hinterdrein. Der Junge bekam die Peitsche zum Knallen, Annemarie – o Glück – die große Klingel.

      Klinglingling – lustig bimmelte Annemarie vor jedem Hause. Klinglingling – der Milchjunge kommt! Wie der Wind war Klaus mit den blanken Blechkannen in der Küche und wieder zurück.

      Klinglingling – durch ganz Johannisbad ging’s in fröhlicher Fahrt. Kein Gedanke flog mehr zurück zu Vater und Mutti, die sie durch ihren Ungehorsam so betrübten. Nesthäkchen jauchzte und strahlte vor Glück.

      Manch erstaunter Blick der zu dieser frühen Stunde zum Bad oder zum Brunnen gehenden Kurgäste streifte den Milchwagen mit dem reizenden kleinen Bauernmädel, das aus Leibeskräften bimmelte.

      Jetzt hielt der weiße Wagen vor einer Villa, in der ein Berliner Kollege von Vater wohnte.

      Nichts Böses ahnend, trug Klaus seine Milch ins Haus.

      Da begegnete ihm gerade der Bekannte von Vater.

      »Hör’ mal, Junge, das geht aber nicht, daß du so spät die Milch bringst, man muß ja ewig auf den Kaffee warten! Morgen komm mal gefälligst ein bißchen früher«, sagte er ärgerlich, denn er hatte nach dem Baden Kaffeedurst.

      Klaus starrte den bekannten Herrn, der sonst immer so freundlich mit ihm zu scherzen pflegte, verdutzt an.

      Da wurde dieser auf den vermeintlichen Milchjungen aufmerksam.

      »Nanu, Klaus Braun, bist du jetzt Milchjunge in Johannisbad? Hahaha – der Witz ist gut!«

      Aber Klaus hatte bereits Fersengeld gegeben, er schämte sich halbtot vor Vaters Kollegen und außerdem – o je, nun kam die Geschichte bestimmt heraus!

      Eilig brachte er seine leeren Blechkannen zurück und zog das Schwesterchen von seinem hohen Sitz herab.

      »Komm, wir müssen nach Haus, und – und ich habe auch keine Lust mehr!«

      Annemarie war durchaus einverstanden. Das Wort »nach Hause« hatte plötzlich ihr Gewissen wieder geweckt. Sie empfand es mit einemmal, wie ungezogen es von ihnen war, ohne daß die Eltern es wußten, mit dem Milchwagen davonzufahren. Und dann war auch der Annemarie, während Klaus die Milch austrug, ein erschreckender Gedanke gekommen.

      Wenn nun Rübezahl sich in einen Milchmann verwandelt hätte, um sie zu prüfen, ob sie gehorsame oder ungehorsame Kinder seien? In dem Märchenbuch tat er doch oft dergleichen. Scheu blickte die Kleine auf den harmlosen Milchmann, der so freundlich mit ihr sprach. Nein, nein, am Ende fuhr er sie zum Schluß gar in die Erde, hinein in sein Bergreich – lieber flink nach Haus!

      Im tollen Galopp ging es heim.

      Vater und Mutter traten eben erst an den Kaffeetisch, als die beiden mit erhitzten Gesichtern anlangten.

      »Na, Lotte, schon so früh herumgetobt?« Mutti strich ihrem Nesthäkchen liebevoll die Locken aus der heißen Stirn.

      Ach, wie wenig hatte sie doch Muttis Zärtlichkeit verdient! Annemarie empfand ihr Unrecht jetzt doppelt und dreifach.

      Die Kleine, die sonst solchen guten Appetit hatte, würgte heute an ihrem Kipfel, so heißen die Hörnchen in Johannisbad.

      »Nanu, Lotte, bist du auch gesund?« forschte der Arzt, sein erglühendes Töchterchen prüfend anschauend. Hatte das Kind am Ende Fieber?

      »Ja, ganz gesund, nur – nur, es preßt mich so im Halse«, stieß Nesthäkchen heraus.

      »Im Halse – du hast Halsschmerzen, Liebling?« fiel Mutti jetzt besorgt ein.

      »Nee – nee, es tut nicht weh, es preßt nur so, weil – weil ich so schrecklich ungezogen gewesen bin!« So, nun war es heraus, die schwere Last herunter von dem kleinen Herzen – gottlob!

      Mutti fragte nicht. Sie sah ihr Töchterchen nur betrübt an. Ach, wie gern hätte Klein-Annemarie jetzt ihr ganzes Unrecht eingestanden, aber sie hatte doch Klaus versprochen, ihn nicht zu verklatschen.

      Bei dem jedoch regte sich nun auch das Gewissen. Außerdem würde Vaters Kollege es ja doch erzählen. Da war es schon besser, er gestand es lieber selbst ein.

      »Wir sind mit dem Milchwagen mitgefahren, ich habe Milch ausgetragen, und Annemarie hat dazu gebimmelt«, erzählte er ein wenig unsicher.

      »Was habt ihr?« Die Eltern glaubten, nicht recht gehört zu haben.

      »Wir wollen es ja nicht wieder tun – nie mehr!« jammerte Nesthäkchen los.

      »Na, das sind ja recht nette Sachen!« sagte Vater und sah seine Sprößlinge streng an.

      »Nicht böse sein, Vatchen, nicht böse sein, wir wollen es ja auch bestimmt nie mehr wieder tun«, heulte die Kleine jetzt noch um einen Ton höher.

      Klaus dagegen erwartete männlich gefaßt das väterliche Strafgericht.

      Das blieb auch nicht aus.

      »Heute nach Tisch, wenn wir auf die Schwarzschlagbaude steigen, bleibt ihr zu Haus. Da werdet ihr wie die kleinen Meergänschen in das Zimmer gesperrt, und Fräulein wird euch Schulaufgaben geben. Ich denke, dabei wird euch das Davonlaufen gegen mein Verbot wohl vergehen!« sagte der Vater so ärgerlich, wie er noch nie zu seinem Nesthäkchen gesprochen.

      Mutti aber blickte mit traurigen Augen auf ihre unartigen Kinder. Das war noch viel schmerzlicher für die zwei als Vaters Strafe.

      Leuchtend blauer Himmel schaute am Nachmittag zum Fenster hinein, wo ein brauner Krauskopf und ein blonder Lockenkopf sich nur widerwillig über die Schularbeit neigten. Draußen rauschte verlockend der Wald. Bruder Hans war mit Vater und Mutter auf dem Ausflug ins Gebirge, aber die zwei kleinen Durchgänger hatten Stubenarrest.

      Noch eine war mit ins Zimmer gesperrt, trotzdem sie doch gar nichts verbrochen hatte. Das war Puppe Gerda. Die sah Nesthäkchen vorwurfsvoll an: »Siehst du – das kommt davon!«