Giovanni Boccaccio

Das Dekameron


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wie mit den Jungen), so gewöhnte sie sich an den Gedanken, dort zu leben und zu sterben. Sie nährte sich von Kräutern und trank Wasser dazu und vergoss Tränen, sooft sie sich an ihren Gemahl und ihre Kinder und an ihr voriges Leben erinnerte. So lebte die edle Dame einem wilden Tiere gleich, bis nach einigen Monaten ein Schiff von Pisani ebenfalls wegen eines Unwetters an derselben Stelle landete, wo sie zuerst das Ufer betreten, und mehrere Tage dort verweilte. An Bord desselben befand sich ein Edelmann namens Currado, aus dem alten Geschlechte der Malespini, mit seiner tugendhaften und frommen Frau. Sie hatten eben beide eine Wallfahrt nach allen heiligen Orten der Provinz Apulien zurückgelegt und waren jetzt auf der Heimreise begriffen. Dieser Edelmann streifte eines Tages, um sich die Langeweile zu vertreiben, mit seiner Gemahlin und einigen seiner Leute mit Jagdhunden auf der Insel umher. Nicht weit von dem Aufenthalt der Madonna Beritola kamen die Hunde den beiden kleinen Rehen auf die Spur, die, nun schon herangewachsen, im Revier ästen und, wie sie von den Hunden aufgestöbert wurden, schleunigst nach der Höhle zu Madonna Beritola flüchteten. Als diese sie gewahr ward, sprang sie alsobald auf und ergriff einen Stecken, womit sie die Hunde verjagte. Als Currado und seine Frau, die den Hunden folgten, dazukamen und das magere, braune und zottige Weib erblickten, erstaunten sie nicht wenig darüber, und Madonna Beritola verwunderte sich nicht minder über die Fremden. Nachdem Currado auf ihre Bitte seine Hunde zurückgepfiffen hatte, brachte er es nach vielem Zureden zuwege, dass sie ihm sagte, wer sie wäre, und wie es zuginge, dass sie sich dort befände. Sie gab ihm also Nachricht von allen ihren Umständen, von dem Unglück, das sie dort betroffen, und von dem harten Vorsatz, den sie gefasst hatte. Wie dieses Currado hörte, der den Arrighetto Capace sehr genau gekannt hatte, vergoss er Tränen des Mitleids und bot alle seine Beredsamkeit auf, sie von ihrem verzweifelten Entschlusse abzubringen, indem er sich erbot, sie zurück zu ihren Verwandten zu bringen oder sie bei sich wie eine leibliche Schwester in Ehren zu halten, bis ihr Gott einst glücklichere Tage schenke. Da seine eigenen Bitten nicht vermochten, die Dame umzustimmen, so ließ Currado seine Gemahlin bei ihr und trug ihr auf, Speise bringen zu lassen und sie einigermaßen mit Kleidern zu versehen, denn die ihrigen waren ganz zerrissen, und sie zu bewegen, dass sie mit ihnen komme. Die Dame, sobald sie mit Madonna Beritola allein war, fing zuerst an, ihr Unglück herzlich zu beklagen. Danach bewog sie sie nicht ohne viele Mühe, die Kleider, die sie ihr bringen ließ, anzulegen und einiges von den Speisen zu genießen. Doch endlich gelang es ihr nach vielen Bitten, sie zu bewegen, mit ihr nach Lunigiana zu reisen, denn sie erklärte bestimmtest, dass sie nirgends hingehen wolle, wo man sie kenne, und das alte Reh mit den beiden Jungen mitzunehmen. Dies war in der Zwischenzeit zurückgekommen und hatte Donna Beritola zur nicht geringen Verwunderung der Edeldame umschmeichelt und geliebkost.

      Als nun das Wetter sich besserte, bestiegen Donna Beritola samt Currado und seiner Gemahlin das Schiff und nahmen das Reh und die Jungen mit, nach denen sich Donna Beritola, um ihren wahren Namen geheim zu halten, Madonna Cavriuola, das bedeutet Reh, nennen ließ. Ein günstiger Wind brachte sie bald nach der Magramündung, wo sie ans Land stiegen und sich nach dem Schlosse des Currado begaben. Hier lebte Madonna Beritola in Witwenkleidern als eine Gesellschaftsdame der Gemahlin des Currado, ehrbar, demütig und dienstwillig, und sorgte immer liebreich für ihre Rehe.

      Die Piraten, die zu Ponza das Schiff geraubt hatten, auf dem Madonna Beritola gekommen war, ließen sie damals zurück, weil sie sie nicht gesehen hatten, und gingen mit den übrigen Gefangenen nach Genua, wo die Eigentümer der Galeere die Beute teilten. Durch das Los ward die Amme der Beritola nebst den beiden Knaben einem Messer Guasparrino d‘Oria zuteil. Dieser nahm sie und die Kinder in sein Haus, um sie als Leibeigene zu allerlei Diensten zu gebrauchen. Die Amme war untröstlich über die Trennung von ihrer Dame und vergoss zugleich bittere Tränen über ihre und der Kinder unglückselige Lage. Als sie aber gedachte, dass sie mit Tränen nichts ausrichte und dass sie mit ihnen gleichsam in Sklaverei lebte, so fasste sie als ein zwar armes, aber kluges und vorsichtiges Weib fürs Erste den Entschluss, sich zu trösten, so gut sie konnte. Zweitens überlegte sie, nachdem sie sich erkundigt hatte, was aus den Kindern geworden wäre, dass es gefährlich und schädlich für sie werden könne, wenn man erführe, wer sie wären. Und da sie überdies hoffte, dass sich vielleicht einmal das Schicksal wenden, und sie die Kinder, wenn sie so lange lebten, wieder in ihren vorigen Zustand erheben könnte, so war sie willens, niemandem eher ihren Stand zu entdecken, als bis sie eine solche günstige Gelegenheit fände. Sie gab sie demnach bei jedermann für ihre eigenen Kinder aus und nannte den ältesten Knaben nicht Giuffredi, sondern Giannotto di Procida. Den Namen des jüngeren zu ändern hielt sie nicht für notwendig, hingegen sparte sie keine Mühe, dem Giuffredi nicht ein-, sondern oftmals begreiflich zu machen, warum sie ihm einen anderen Namen gegeben habe, und wie gefährlich es für ihn werden könne, wenn er erkannt würde. Der Knabe, dem es nicht an Geist und Witz fehlte, richtete sich auch getreulich nach der Vorschrift seiner Amme. Beide Brüder lebten mit ihr manches Jahr geduldig in dem Hause des Messer Guasparrino, schlecht bekleidet und noch schlechter beschuht, und mussten sich zu den niedrigsten Diensten gebrauchen lassen. Als aber Giannotto das sechzehnte Jahr erreicht hatte und mehr Stolz besaß, als mit seinem dienstbaren Zustande verträglich war, verließ er, des Sklavendaseins überdrüssig, den Dienst des Messer Guasparrino, ging auf eine Galeere, die nach Alexandria segelte, und durchreiste viele Länder, ohne jedoch recht vorwärts zu kommen. Endlich, ungefähr vier Jahre nachdem er von Messer Guasparrino entflohen und nunmehr ein hübscher, ansehnlicher junger Mann geworden war, hörte er, dass sein Vater, den er immer für tot gehalten hatte, noch lebte, dass ihn aber König Karl schmählich eingekerkert hielt. Da er nun lange, an seinem Glück verzweifelnd, herumgeirrt war, kam er nach Lunigiana, und der Zufall wollte, dass er bei Currado Malespina in Dienst trat, dem er eifrig diente und dessen Wohlwollen er dadurch erwarb. Obwohl er nun nicht selten seine Mutter, die bei der Gemahlin des Currado war, zu sehen bekam, so erkannte er sie und sie ihn nicht, weil die Jahre sie beide, seitdem sie sich zuletzt gesehen, außerordentlich verändert hatten.

      Während der Zeit, dass Giannotto bei Messer Currado in Diensten war, traf es sich, dass eine Tochter Currados, namens Spina, die Witwe eines Niccolo da Grignano, wieder in ihres Vaters Haus kam. Sie war sehr schön, liebenswürdig und kaum älter als sechzehn Jahre. Sie warf ihre Augen auf Giannotto und er wiederum auf sie, sodass sie beide sich inbrünstig ineinander verliebten. Diese Liebe blieb nicht lange unbefriedigt und währte verschiedene Monate, ohne dass sie von fremden Augen bemerkt ward. Dadurch aber wurden die Liebenden zu sicher und fingen an, weniger vorsichtig zu sein, als bei solchen Gelegenheiten nötig war. Als sie demnach eines Tages zusammen in einem schönen, dicht verwachsenen Gebüsche lustwandelten, trennten sie sich von der übrigen Gesellschaft und eilten voraus. Wie sie glaubten, die anderen weit genug hinter sich zurückgelassen zu haben, ließen sie sich auf einen anmutigen, mit Blumen bedeckten und von dichten Zweigen überschatteten Rasen nieder und gewährten einander die sanften Entzückungen der Liebe. Nachdem sie eine lange Zeit (die ihnen für ihr Vergnügen nur gar zu kurz schien) derart zugebracht, wurden sie zuerst von der Mutter und gleich darauf von Currado selbst überrascht. Äußerst aufgebracht über das, was er sah, ließ dieser sie beide (ohne sich merken zu lassen, in welcher Absicht) durch drei seiner Bedienten binden und nach einer seiner Burgen bringen. Knirschend vor Zorn und Wut war er willens, sie beide eines schmählichen Todes sterben zu lassen. Die Mutter der jungen Dame, die zwar ebenfalls über ihre Tochter sehr entrüstet war und glaubte, dass ihr Vergehen eine schwere Züchtigung verdiente, hatte inzwischen aus einigen Worten, die ihrem Gemahl entfallen waren, seine blutdürstigen Absichten mit den beiden Schuldigen geahnt, daher sie ihm nacheilte und ihn flehentlich bat, ihr zuliebe nicht in seinem Alter der Mörder seiner Tochter zu werden und seine Hände mit dem Blute seines Knechtes zu besudeln. Er könne ja andere Mittel finden, seine Rache auszuüben, wenn er sie in ein Gefängnis setzen und sie daselbst schmachten und ihr Verbrechen abbüßen ließe. Mit dergleichen und anderen Reden brachte ihn die fromme Frau dahin, dass er seinen Entschluss änderte und, anstatt sie umbringen zu lassen, Befehl gab, sie beide an verschiedenen Orten einzukerkern, sie unter strenger Aufsicht zu halten, ihnen dürftige Nahrung zu geben und schwere Buße aufzulegen, bis er anderes über sie verhängen würde. Dieses geschah, und man kann sich vorstellen, wie ihnen im Gefängnis zumute ward, wo beständige Tränen ihr Los waren und wo sie mehr fasten mussten, als ihnen lieb war.

      Während nun Giannotto und Spina ein jämmerliches Leben lebten und schon ein Jahr so zugebracht hatten, ohne dass Currado sich ihrer erinnerte, begab