anhielt, bis Abhilfe kam und er wieder ins Krankenhaus ging. Nun konnte er sich tröstend sagen, er hätte viel mehr erreichen können, wenn nicht das Unglück des Trunkes über ihn hereingebrochen wäre. Dadurch konnte er sein Persönlichkeitsgefühl immer noch hochhalten. Dieses nicht sinken zu lassen, die Überzeugung festhalten zu können, daß er zu größeren Leistungen geeignet wäre, wenn ihn dieses Unglück nicht getroffen hätte, war für ihn viel wichtiger als die Arbeit selbst. Damit hatte er die Machtlinie erreicht und konnte feststellen, daß die andern nicht besser seien als er, sondern daß eine Schwierigkeit im Weg war, die sich nicht wegräumen ließ. In dieser Stimmung, bei der er eine tröstende Entschuldigung suchte, erwuchs ihm wie eine Rettung die Erscheinung des grinsenden Mannes.
Eine weitere künstlerische Leistung des seelischen Organs ist die Phantasie. Spuren derselben kann man in allen Erscheinungen finden, die bereits behandelt wurden. Es ist ein ähnlicher wie bei jenen Leistungen der Seele, wo bestimmte Erinnerungen in den Vordergrund geschoben oder Vorstellungen aufgebaut werden. Einen wesentlichen Bestandteil bildet auch bei der Phantasie wieder jene Voraussicht, die ein in Bewegung befindlicher Organismus mit Naturnotwendigkeit in sich tragen muß. Auch die Phantasie ist an die Beweglichkeit des Organismus gebunden und ist selbst nichts anderes als eine Form dieses Voraussehens. Wenn man bei Phantasien von Kindern und Erwachsenen — auch Tagträume genannt — Luftschlösser vor sich hat, so handelt es sich immer um Vorstellungen, die die Zukunft betreffen, zu der sich der Mensch hinbewegt und die er, in seiner Weise voraussehend, auszubauen versucht.
Bei der Prüfung von Kinderphantasien erweist sich, daß bei ihnen als wesentlicher Faktor das Spiel der Macht einen weiten Raum einnimmt, daß es immer Ziele des Ehrgeizes sind, die sich wiederspiegeln. Die meisten Phantasien beginnen mit Worten wie: »wenn ich einmal groß sein werde« und ähnlichen. Es gibt auch Erwachsene, die noch immer so leben, als ob sie erst einmal groß sein müßten. Die deutliche Ausprägung der Machtlinie weist wieder darauf hin, daß ein Seelenleben sich nur entwickeln kann, wenn vorher die Zielsetzung erfolgt ist. In der menschlichen Kultur ist dieses Ziel ein Ziel der Geltung. Bei neutralen Zielen bleibt es fast nie, denn das gemeinsame Leben der Menschen ist von einem fortwährenden Sich-Messen begleitet, wobei die Sehnsucht nach Überlegenheit entsteht und das Verlangen, die Konkurrenz siegreich zu bestehen. Es ist daher erklärlich, daß jene Formen der Voraussicht, wie wir sie in den Phantasien der Kinder finden, regelmäßig Machtvorstellungen sind.
Für den Umfang dieser Vorstellungen, für die Größe der Phantasie lassen sich keine Regeln aufstellen oder mit anderen Worten: Man darf auch hier nicht in den Fehler verfallen zu generalisieren. Das oben Gesagte gilt für eine große Anzahl von Fällen, kann sich aber in einzelnen Fällen auch als anders geartet feststellen lassen. Es ist naheliegend, daß jene Kinder ihre Phantasie stärker entwickeln werden, die das Leben mit feindlichen Augen betrachten, mit welcher Einstellung gewöhnlich auch eine stärkere Anspannung der Vorsicht verbunden ist. So haben schwächliche Kinder, denen das Leben so manches Üble bietet, eine verstärkte Phantasie und die Neigung, sich mit Phantasien zu beschäftigen. In weiterer Folge tritt oft ein Entwicklungsstadium ein, in dem die Phantasie zuhilfe genommen wird, um sich aus dem realen Leben herauszuschleichen, also die Phantasie gleichsam für die Verurteilung des realen Lebens benutzt erscheint. Sie ist dann der Machtrausch eines Menschen, der sich über die Niedrigkeit des Lebens erhoben hat.
Nicht nur die Machtlinie allein ist es, die man in den Phantasien feststellen kann, auch das Gemeinschaftsgefühl spielt in ihnen eine große Rolle. Die Kinderphantasien sehen fast nie so aus, daß nur die Macht des Kindes darin zur Geltung kommt, sondern diese Macht erscheint irgendwie als zum Nutzen anderer mitverwendet. Das ist z. B. der Fall bei Phantasien, deren Inhalt darin gipfelt, ein Retter zu sein, ein Helfer, ein Sieger über ein den Menschen schädliches Ungetüm u. dgl. Häufig vorzufinden ist die Phantasie, nicht aus der Familie zu sein, in der man aufwächst. Eine Menge Kinder hält den Gedanken fest, daß sie eigentlich aus einer andern Familie stammen, daß sich eines Tages die Wahrheit zeigen und der wirkliche Vater (immer irgendeine hohe Persönlichkeit) kommen und sie abholen werde. Dies ist meist bei Kindern der Fall, die ein starkes Minderwertigkeitsgefühl haben, die Entbehrungen ausgesetzt sind, Zurücksetzungen zu erdulden haben oder die mit der Zärtlichkeit ihrer Umgebung unzufrieden sind. Oft verraten sich solche Größenideen schon in der äußeren Haltung der Kinder, die so tun, als ob sie schon erwachsen wären. Beinahe krankhafte Ausartungen der Phantasie findet man in der Form, daß z. B. ein Kind eine besondere Vorliebe für steife Hüte oder für Zigarrenspitzen empfindet, oder wenn Mädchen sich vornehmen ein Mann zu werden. Es gibt viele Mädchen, die eine Haltung oder Kleidung vorziehen, die eher für Knaben passen würde.
Es gibt auch Menschen, von denen geklagt wird, sie hätten zu wenig Phantasie. Das ist sicher ein Fehlschluß. Entweder äußern sich solche Kinder nicht oder es liegen andere Gründe vor, aus denen sie sogar dazu gelangen können, einen Kampf gegen das Auftauchen von Phantasien zu führen. Es kann sein, daß ein Kind darin ein Stärkegefühl empfindet. In einem krampfhaften Bestreben, sich der Wirklichkeit anzupassen, erscheint diesen Kindern die Phantasie als unmännlich oder kindisch und wird von ihnen abgelehnt. Es gibt Fälle, bei denen diese Ablehnung zu weit geht und die Phantasie fast vollkommen zu fehlen scheint.
Außer den oben beschriebenen Tagträumen gibt es noch eine andere, sehr früh auftauchende Erscheinung, die eine große Wirksamkeit verrät und auch entfaltet. Es sind die Schlafträume. Im allgemeinen kann man feststellen, daß sich in ihnen die gleiche Methode des Kindes, zu träumen, wiederfindet, wie in den Tagträumen. Alte, erfahrene Psychologen haben darauf hingewiesen, daß sich aus den Träumen des Menschen sein Charakter leicht enthüllen lasse. In der Tat ist der Traum eine Erscheinung, die das Denken des Menschen zu allen Zeiten außerordentlich in Anspruch genommen hat. Wie die Tagträume Erscheinungen sind, die das Voraussehenwollen begleitet, die auftreten, wenn sich der Mensch damit beschäftigt, einen Weg in die Zukunft zu bahnen und ihn sicher zu gehen, so ist es auch mit den Schlafträumen. Der auffallende Unterschied ist, daß man Tagträume zur Not noch versteht, während dies bei den andern Träumen sehr selten der Fall ist. Diese Unverständlichkeit ist eine besondere Merkwürdigkeit und man wird leicht versucht sein, darin ein Zeichen der Oberflüssigkeit solcher Erscheinungen zu vermuten. Vorläufig sei hervorgehoben, daß sich auch in den Träumen wieder dieselbe Machtlinie eines Menschen zeigt, der die Zukunft festhalten will, der vor einer Frage steht und deren Bewältigung anstrebt. Sie liefern uns bei der Betrachtung des Seelenlebens wichtige Handhaben, auf die wir noch zurückkommen werden.
Bei der Funktion des Voraussehens, die bei beweglichen Organismen eine unerläßliche Notwendigkeit ist, weil sie immer vor Fragen der Zukunft gestellt sind, kommt dem seelischen Organ noch die Fähigkeit zu Hilfe, nicht nur zu empfinden, was in der Wirklichkeit ist, sondern auch zu fühlen, zu erraten, was etwa in der Zukunft sein wird. Man nennt diesen Vorgang »Einfühlung«. Diese Fähigkeit ist bei den Menschen außerordentlich stark entwik-kelt. Sie ist ein so weit reichender Vorgang, daß man sie an jeder Stelle des Seelenlebens findet. Bedingung ist auch hier die Notwendigkeit zur Voraussicht; denn wenn ich genötigt bin, mir vorzustellen, zu denken, wie ich mich im Falle einer auftauchenden Frage benehmen werde, so bin ich auch gezwungen, über jene Empfindungen ein festes Urteil zu bekommen, die sich aus der gegenwärtig noch nicht herangereiften Situation ergeben könnten. Erst durch das Zusammenfassen des Denkens, Fühlens und Empfindens einer erst zu erlebenden Situation kann wieder ein Standpunkt gewonnen werden, etwa der, einen bestimmten Punkt entweder mit besonderer Kraft anzustreben, oder ihm mit besonderer Vorsicht auszuweichen. Einfühlung kommt schön zustande, wenn man mit jemand spricht. Es ist unmöglich, mit einem Menschen Fühlung zu bekommen, wenn keine Einfühlung in die Lage des andern vorhanden ist. Eine besondere künstlerische Ausgestaltung erfährt die Einfühlung