Alfred Adler

Menschenkenntnis


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ihren Ursprung haben können, daß sie aber gleichzeitig auch die Bindemittel sind, welche die Kultur vor Verfall zu schützen haben.

      Aus der Situation des einzelnen Menschen ist auch sein Wollen zu begreifen. Der Wille stellt nichts anderes vor als eine Regung, aus einem Uefühl der Unzulänglichkeit zu einem Gefühl der Zulänglichkeit zu gelangen. Diese Linie vorschweben fühlen und betreten, heißt »wollen«. Jedes Wollen rechnet mit dem Gefühl der Unzulänglichkeit, der Minderwertigkeit und löst den Zwang aus, die Neigung, einen Zustand der Sättigung, der Zufriedenheit, der Vollwertigkeit anzustreben.

      Wir verstehen nun, daß jene Spielregeln, Erziehung, Aberglaube, Totem und Tabu, Gesetzgebung, die notwendig waren, um den Bestand des Menschengeschlechtes zu sichern, wieder in erster Linie der Gemeinschaftsidee gerecht werden mußten. Wir haben es bei den religiösen Einrichtungen gesehen, wir finden die Forderungen der Gemeinschaft in den wichtigsten Funktionen des seelischen Organes und finden sie wieder in den Forderungen des Lebens des Einzelnen wie in jenen der Allgemeinheit. Was wir Gerechtigkeit nennen, was wir als die Lichtseite des menschlichen Charakters betrachten, ist im wesentlichen nichts anderes als Erfüllung von Forderungen, die aus dem gemeinsamen Leben der Menschen erflossen sind. Sie sind es, die das seelische Organ geformt haben. So kommt es, daß Verläßlichkeit, Treue, Offenheit, Wahrheitsliebe u. dgl. eigentlich Forderungen sind, die durch ein allgemein gültiges Prinzip der Gemeinschaft aufgestellt und gehalten werden. Was wir einen guten oder schlechten Charakter nennen, kann nur vom Standpunkt der Gemeinschaft aus beurteilt werden. Charakter, wie jede Leistung wissenschaftlicher Natur, politischen Ursprungs oder künstlerischer Art werden sich immer nur dadurch als groß und wertvoll erweisen, daß sie für die Allgemeinheit von Wert sind. Ein Idealbild, nach dem wir den Einzelnen messen, kommt nur unter Berücksichtigung seines Wertes, seines Nutzens für die Allgemeinheit zustande. Womit wir den Einzelnen vergleichen, ist das Idealbild eines Gemeinschaftsmenschen, eines Menschen, der die vor ihm liegenden Aufgaben in einer allgemeingültigen Art bewältigt, eines Menschen, der das Gemeinschaftsgefühl so weit in sich entwickelt hat, daß er — nach einem Ausspruch von Furtmüller — »die Spielregeln der menschlichen Gesellschaft befolgt«. Es wird sich im Verlaufe unserer Ausführungen erweisen, daß kein vollsinniger Mensch ohne Pflege und hinreichende Betätigung des Gemeinschaftsgefühls aufwachsen kann.

      III. Kapitel:

      Kind und Gesellschaft

       Inhaltsverzeichnis

      Die Gemeinschaft setzt eine Anzahl von Forderungen und beeinflußt dadurch alle Normen und Formen unseres Lebens, somit auch die Entwicklung unseres Denkorganes. Sie ist auch organisch fundiert. Die Anknüpfungspunkte für die Gemeinschaft liegen schon in der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen und erst eine Gemeinschaft, nicht die Isolierung ist imstande, dem Lebensdrang des Einzelnen zu genügen, ihm Sicherheit und Lebensfreude zu gewährleisten. Bei der Betrachtung der langsamen Entwicklung des Kindes läßt sich feststellen, daß an eine Entfaltung menschlichen Lebens nur gedacht werden konnte, sobald eine schützende Gemeinschaft vorhanden war. Ferner brachten es die Verbundenheiten des Lebens mit sich, daß eine Arbeitsteilung geschaffen wurde, die nicht eine Trennung der Menschen bewirkt, sondern ihr Zusammenhalten. Jeder hat die Aufgabe, dem andern in die Hände zu arbeiten, er muß sich dem andern verbunden fühlen, und so kommen die großen Zusammenhänge zustande, die sich in der Seele des Menschen irgendwie als Forderungen vorfinden. Einigen dieser Verbundenheiten, die das Kind bereits vorfindet, wollen wir im folgenden nachgehen.

      Das Kind, das so sehr der Hilfe der Gemeinschaft bedarf, findet sich einer Umgebung gegenüber, die nimmt und gibt, fordert und erfüllt. Es sieht sich mit seinen Trieben vor gewissen Schwierigkeiten, deren Überwindung ihm Pein macht. Es lernt bald die Not kennen, die aus seiner Kindheit stammt, und bringt hierzu nun jenes seelische Organ mit, dessen Funktion es ist, vorauszusehen und Richtlinien ausfindig zu machen, bei denen die Befriedigung seiner Triebe ohne Reibung erfolgen kann, bei denen es möglich wird, ein erträgliches Leben zu führen. Stets bemerkt es Menschen, die ihre Triebe viel leichter befriedigen können, ihm also etwas voraushaben. So lernt es die Größe schätzen, die befähigt, eine Türe zu öffnen, die Kraft, die andere besitzen, um einen Gegenstand zu heben, die Stellung, die andere dazu legitimiert, Befehle zu geben und deren Befolgung zu fordern. In seinem seelischen Organ entsteht ein Strom von Sehnsucht, zu wachsen, um gleich oder stärker zu sein wie andere, jene zu überragen, die sich um das Kind gesammelt haben und mit ihm so umgehen, als ob es hier eine Unterordnung gäbe, die sich aber doch vor der Schwäche des Kindes beugt, so daß dieses zwei Operationsmöglichkeiten hat: einerseits sich mit jenen Mitteln durchzusetzen, die es bei den Erwachsenen als Mittel ihrer Macht empfindet, anderseits seine Schwäche darzustellen, die von den andern als unerbittliche Forderung empfunden wird. Diese Verzweigung menschlicher Seelen­regungen werden wir bei Kindern immer wieder finden. Schon hier beginnt eine Typenbildung. Während die einen sich in der Richtung des Forderns von Anerkennung, der Kraftansammlung und der Kraftbetätigung entwickeln, finden wir bei anderen etwas, das aussieht wie eine Spekulation mit der eigenen Schwäche, eine Darbietung ihrer Schwäche in den verschiedensten Formen. Erinnert man sich an Haltung, Ausdruck und Blick einzelner Kinder, so wird man immer solche finden, die sich in die eine oder die andere Gruppe einreihen lassen. Alle diese Typen bekommen erst einen Sinn, wenn wir ihre Beziehung zur Umwelt verstehen. Ihre Bewegungen sind auch meist der Umwelt abgelauscht.

      In diesen einfachen Bedingungen, in diesem Streben des Kindes, seinen Schwächezustand zu überwinden, was wieder den Anreiz zur Entfaltung einer Menge von Fähigkeiten abgibt, liegt seine Erziehbarkeit begründet.

      Die Situationen der Kinder sind äußerst verschieden. Im einen Fall ist eine Umgebung vorhanden, die dem Kind feindliche Eindrücke vermittelt, Eindrücke, die ihm die Welt als feindlich gesinnt erscheinen lassen. Dieser Eindruck ist bei der Unzulänglichkeit des kindlichen Denkorgans erklärlich. Wenn die Erziehung hier nicht vorbeugt, dann kann sich die Seele dieses Kindes so entwickeln, daß es später die Außenwelt überhaupt nur als feindliches Gebiet betrachtet. Verstärkt wird der Eindruck der Feindseligkeit, sobald das Kind größeren Schwierigkeiten begegnet, wie es besonders bei Kindern mit minderwertigen Organen vorkommt. Diese Kinder werden ihre Umgebung anders empfinden als jene, die mit verhältnismäßig tragfähigen Organen zur Welt gekommen sind. Die Organminderwertigkeit kann sich äußern in Schwierigkeiten der Bewegungsfähigkeit, in Fehlern einzelner Organe, geringer Widerstandskraft des Organismus, so daß das Kind vielfach Krankheiten ausgesetzt ist.

      Die Ursache von Schwierigkeiten muß aber nicht immer in der Unfertigkeit des kindlichen Organismus gelegen sein, sie kann auch in der Schwere der Aufgaben liegen, die dem Kind durch eine unverständige Umgebung gesetzt werden, oder in einer Unvorsichtigkeit bei der Stellung dieser Aufgaben, kurz, in einer Mangelhaftigkeit der Umgebung des Kindes, die als eine Erschwerung der Außenwelt entstammt. Denn das Kind, das sich seiner Umgebung anpassen will, findet auf einmal Hindernisse, die diese Anpassung erschweren. Das ist z. B. der Fall, wenn das Kind in einer Umgebung aufwächst, die selbst schon den Mut verloren hat und von Pessimismus erfüllt ist, der leicht auf das Kind übergehen kann.

      Angesichts der Schwierigkeiten, die dem Kinde von verschiedenster Seite und aus den verschiedensten Ursachen entgegentreten, insbesondere wenn man bedenkt, daß das kindliche Seelenleben noch nicht lange Gelegenheit hatte sich zu entwickeln, ist es klar, daß man mit fehlerhaften Antworten zu rechnen hat, wenn sich beim Kind die Notwendigkeit einstellt, sich mit den unabweislichen Bedingungen der Außenwelt auseinanderzusetzen. Überblickt