Alfred Adler

Menschenkenntnis


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wäre, während es von vornherein ausgeschlossen ist, daß sie diesen Willen je gebrauchen könnte. Ihr Wille, ihre Vernunft bliebe ewig unfruchtbar.

      So sehen wir, wie scharf in dieser Beziehung durch den Mangel eines Seelenlebens die Pflanze vom Tier zu unterscheiden ist und merken auf einmal die ungeheure Bedeutung, die im Zusammenhang von Bewegung und Seelenleben gelegen ist. Dieser Gedankengang legt uns auch nahe, daß in der Entwicklung des Seelenlebens alles erfaßt werden muß, was mit der Bewegung zusammenhängt, daß an alle Schwierigkeiten einer Ortsveränderung bereits angeknüpft werden kann, daß dieses Seelenleben berufen ist, vorauszusehen, Erfahrungen zu sammeln, ein Gedächtnis zu entwickeln, um es für die bewegliche Praxis des Lebens brauchbar zu machen.

      Wir können also zuerst feststellen, daß die Entwicklung des Seelenlebens an die Bewegung gebunden ist, und daß der Fortschritt alles dessen, was die Seele erfüllt, durch diese freie Beweglichkeit des Organismus bedingt ist. Denn diese Beweglichkeit reizt, sie fördert und verlangt eine immer stärkere Intensivierung des Seelenlebens. Stellen wir uns jemand vor, dem wir jede Bewegung untersagt hätten; sein gesamtes Seelenleben wäre zum Stillstand verdammt. »Nur die Freiheit brütet Kolosse aus, während der Zwang tötet und verdirbt.«

      Wenn wir von diesem Gesichtspunkt aus die Funktion des Seelenlebens überblicken, so wird uns klar, daß hier die Entwicklung einer angeborenen Fähigkeit vor uns liegt, die ausersehen ist, ein Angriffs-, Abwehr- oder Sicherungs-, ein Schutzorgan vorzustellen, je nachdem, ob die Situation eines Lebensorganismus den Angriff oder die Sicherung verlangt. Wir können also ein Seelenleben nur betrachten als einen Komplex von Angriffsund Sicherungsvorkehrungen, die auf die Welt rückzuwirken haben, um den Bestand des menschlichen Organismus zu gewährleisten und seine Entwicklung sicherzustellen. Ist diese Bedingung einmal festgehalten, dann ergeben sich weitere Bedingungen, die für die Erfassung dessen, was wir als Seele betrachten wollen, wichtig sind. Wir können uns ein Seelenleben, das isoliert ist, nicht vorstellen, sondern nur ein Seelenleben, das mit allem, von dem es umgeben ist, verknüpft ist, das Anregungen von außen aufnimmt und irgendwie beantwortet, das über Möglichkeiten und Kräfte verfügt, die nötig sind, um den Organismus gegenüber der Umwelt oder im Bunde mit ihr zu sichern und sein Leben zu gewährleisten.

      Die Zusammenhänge, die sich nun unserem Auge erschließen, sind mannigfach. Sie betreffen zuerst den Organismus selbst, die Eigenart des Menschen, seine Körperlichkeit, Vorzüge und Nachteile. Das sind aber nur ganz relative Begriffe. Denn es ist durchaus verschieden, ob irgendeine Kraft, irgendein Organ einen Vorzug oder einen Nachteil bedeutet. Beides wird sich aus der Situation ergeben, in der sich das Individuum befindet. So stellt bekanntlich der Fuß des Menschen in gewissem Sinne eine verkümmerte Hand vor. Diese wäre z. B. für ein Klettertier ein ungeheurer Nachteil, ist aber bei einem Menschen, der sich auf dem Boden bewegt, ein solcher Vorteil, daß keiner wünschen würde, statt des Fußes etwa eine normale Hand zu haben. Überhaupt finden wir im persönlichen Leben, wie im Leben aller Völker, daß Minderwertigkeiten nicht etwa so aufzufassen sind, als ob sie immer die ganze Last der Nachteile in sich bergen würden, sondern es kommt auf die Situation an, in der dies entschieden wird. Wir ahnen, ein wie ungeheuer weites Feld der Betrachtung sich auch hinsichtlich der Beziehungen ergibt, in denen das menschliche Seelenleben zu allen Forderungen kosmischer Natur steht, wie zu Wandel von Tag und Nacht, zur Herrschaft der Sonne, zur Bewegtheit der Atome usw. Auch diese Einflüsse stehen in innigem Zusammenhang mit der Eigenart unseres Seelenlebens.

      Was wir aus den seelischen Regungen zuerst erfassen können, ist selbst wieder Bewegung, die auf ein Ziel gerichtet ist. Deshalb müssen wir feststellen, daß es ein Trugschluß wäre, sich die menschliche Seele so vorzustellen, als ob sie ein ruhendes Ganzes wäre, sondern wir können sie uns nur vorstellen in der Form von sich bewegenden Kräften, die allerdings aus einem einheitlichen Grund hervorgegangen sind und einem einheitlichen Ziel zustreben. Schon im Begriff der Anpassung liegt dieses Zielstrebige. Wir können uns ein Seelenleben nicht vorstellen ohne ein Ziel, zu dem hin die Bewegung, die Dynamik, die im Seelenleben enthalten ist, abrollt.

      Das menschliche Seelenleben ist also durch ein Ziel bestimmt. Kein Mensch kann denken, fühlen, wollen, sogar träumen, ohne daß all dies bestimmt, bedingt, eingeschränkt, gerichtet wäre durch ein ihm vorschwebendes Ziel. Dies ergibt sich fast von selbst im Zusammenhang mit den Forderungen des Organismus und der Außenwelt und mit der Antwort, die der Organismus darauf zu geben genötigt ist. Die körperlichen und seelischen Erscheinungen des Menschen entsprechen diesen aufgestellten Grundanschauungen. Eine seelische Entwicklung ist nicht anders denkbar, als in diesem eben geschilderten Rahmen, als auf ein irgendwie vorschwebendes Ziel gerichtet, das sich von selbst aus den geschilderten Kraftwirkungen ergibt. Das Ziel kann veränderlich oder starr gefaßt werden.

      Man kann also alle seelischen Erscheinungen in dem Sinne auffassen, als ob sie eine Vorbereitung auf etwas Kommendes wären. Es scheint, daß das seelische Organ gar nicht anders betrachtet werden kann, als daß es ein Ziel vor sich habe, und die Individualpsychologie nimmt alle Erscheinungen der menschlichen Seele so auf, als ob sie auf ein Ziel gerichtet wären.

      Wenn man das Ziel eines Menschen kennt und auch sonst in der Welt halbwegs informiert ist, dann weiß man auch, was seine Ausdrucks­bewegungen bedeuten können und kann deren Sinn als eine Vorbereitung für dieses Ziel erfassen. Dann weiß man auch, was für Bewegungen dieser Mensch machen muß, um es zu erreichen, etwa so, wie man den Weg kennt, den ein Stein nehmen muß, wenn man ihn zur Erde fallen läßt. Nur, daß die Seele kein Naturgesetz kennt, denn das vorschwebende Ziel ist nicht feststehend, sondern abänderbar. Wenn jemandem jedoch ein Ziel vorschwebt, dann verläuft die seelische Regung so zwangsmäßig, als ob hier ein Naturgesetz walten würde, nach dem man zu handeln genötigt ist. Das besagt aber, daß es im Seelenleben kein Naturgesetz gibt, sondern daß sich der Mensch auf diesem Gebiet seine Gesetze selbst macht. Wenn sie ihm dann wie ein Naturgesetz erscheinen, so ist das ein Trug seiner Erkenntnis, denn er hat ja, wenn er ihre Unabänderlichkeit, ihre Determination festzustellen glaubt und sie beweisen will, die Hand dabei im Spiel. Wenn einer z. B. ein Bild malen will, so wird man an ihm alle Haltungen wahrnehmen können, die zu einem Menschen gehören, der ein solches Ziel vor Augen hat. Er wird alle dazugehörigen Schritte mit unbedingter Konsequenz machen, wie wenn ein Naturgesetz vorläge. Muß er aber dieses Bild malen?

      Es ist also ein Unterschied zwischen den Bewegungen der Natur und jenen im menschlichen Seelenleben. Hier knüpfen die Streitfragen über die Freiheit des menschlichen Willens an, die heute dahin geklärt zu sein scheinen, als ob der menschliche Wille unfrei wäre. Richtig ist, daß er unfrei wird, sobald er sich an ein Ziel bindet. Und da dieses so oft aus seiner kosmischen, animalischen und gesellschaftlichen Bedingtheit erwächst, so muß uns natürlich das Seelenleben so erscheinen, als ob es unter unabänderlichen Gesetzen stünde. Wenn man aber beispielsweise seinen Zusammenhang mit der Gemeinschaft leugnet und bekämpft, sich nicht den Tatsachen anpassen will, dann sind alle diese scheinbaren Gesetzmäßigkeiten des Seelenlebens aufgehoben und es tritt eine neue Gesetzmäßigkeit ein, die eben durch das neue Ziel bedingt ist. Ebenso wirkt für einen Menschen, der am Leben verzweifelt und seine Mitmenschlichkeit auszutilgen sucht, das Gesetz der Gemeinschaft nicht mehr bindend. Wir müssen also festhalten, daß erst durch die Aufstellung eines Zieles eine Bewegung im Seelenleben mit Notwendigkeit erfolgen muß.

      Umgekehrt ist es möglich, aus den Bewegungen eines Menschen auf das ihm vorschwebende Ziel zu schließen. Eigentlich wäre dies das Wichtigere, weil manche Menschen sich über ihr Ziel oft nicht im klaren sind. In der Tat ist das der regelmäßige Weg, den wir zum Zweck der Pflege unserer Menschen­kenntnis gehen müssen. Er ist nicht so einfach wie der erstere, weil die Bewegungen vieldeutig sind. Wir können aber mehrere Bewegungen eines Menschen hernehmen, vergleichen, Linien ziehen. Man kann zum Verständnis eines Menschen dadurch gelangen, daß man die Haltungen, die Ausdrucksformen zweier zeitlich voneinander verschiedener Punkte