Alfred Adler

Menschenkenntnis


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mit dem ihr eigenen Gefühl, daß man seine Erfahrungen macht, womit sie andeutet, daß jeder darüber Herr ist, wie er seine Erfahrungen verwertet. Man kann in der Tat täglich beobachten, wie die Menschen die verschiedensten Folgerungen aus ihren Erfahrungen ziehen. Man stößt z. B. auf einen Menschen, der gewohnheitsmäßig irgendeinen Fehler begeht. Auch wenn es gelingt, ihn seines Fehlers zu überführen, wird man verschiedene Resultate finden. So kann er folgern, daß es eigentlich schon Zeit wäre, den Fehler abzulegen. Diese Folgerung ist selten. Ein anderer wird erwidern, er habe das schon so lange gemacht, jetzt werde er es sich nicht mehr abgewöhnen. Ein dritter beschuldigt für seine Fehler die Eltern oder allgemein die Erziehung, er habe niemand gehabt, der sich um ihn gekümmert hätte, oder er sei verzärtelt oder zu streng behandelt worden — und bleibt bei seinem Irrtum. Dadurch aber verraten letztere nur, daß sie eigentlich gedeckt dastehen wollen. Sie können sich auf diese Weise immer vorsichtig und mit scheinbarer Berechtigung einer Selbstkritik entziehen. Selbst schuldig sind sie nie, immer liegt die Schuld für alles, was sie nicht erreicht haben, bei anderen. Dabei übersehen sie, daß sie selbst recht wenig Anstrengungen machen, ihre Fehler zu bekämpfen, vielmehr mit einer gewissen Inbrunst dabei verharren, während die schlechte Erziehung doch nur solange schuldig ist, als sie es wollen. Die Vieldeutigkeit der Erfahrungen, die Möglichkeit, verschiedene Konsequenzen daraus zu ziehen, läßt uns nun verstehen, warum ein Mensch seine Gangart nicht ändert, sondern seine Erlebnisse solange dreht und wendet, bis er sie wieder seiner Gangart angepaßt hat. Es scheint das Schwerste für die Menschen zu sein, sich selbst zu erkennen und zu ändern.

      Wollte aber jemand es unternehmen, hier einzugreifen und zu versuchen, bessere Menschen zu erziehen, so wäre er in großer Verlegenheit, wenn ihm nicht die Erfahrungen und Befunde der Menschenkenntnis zur Verfügung stünden. Er würde vielleicht, wie bisher, an der Oberfläche operieren und, weil die Sache ein neues Aussehen, eine andere Nuance gewonnen hätte, meinen, er habe schon etwas geändert. Wir werden uns an praktischen Fällen überzeugen können, wie wenig durch solche Eingriffe an einem Menschen geändert wird, wie das alles nur Schein ist, der wieder verfliegt, solange nicht die Bewegungslinie selbst anders verläuft. Der Prozeß, einen Menschen zu ändern, ist also nicht allzu leicht, dazu gehört eine gewisse Besonnenheit und Geduld, vor allem Beseitigung jeder persönlichen Eitelkeit, da der andere nicht verpflichtet ist, als Objekt für unsere Eitelkeit zu dienen. Außerdem muß dieser Prozeß so geleitet werden, daß er für den andern mundgerecht wird. Denn es ist verständlich, daß jemand eine Speise, die ihm sonst immer schmecken würde, deshalb abweist, weil sie ihm nicht in der richtigen Weise geboten wurde.

      Die Menschenkenntnis hat aber noch eine andere, ebenso wichtige Seite, die sozusagen ihr soziales Gesicht ist. Es ist zweifellos, daß sich die Menschen viel besser vertragen, daß sie viel mehr aneinander heranrücken würden, wenn sie sich besser verstünden. Denn dann wäre es unmöglich, daß sie einander täuschten. In dieser Täuschungsmöglichkeit liegt eine ungeheure Gefahr für die Gesellschaft. Diese Gefahr müssen wir unseren Mitarbeitern, die wir ins Leben hineinführen, zeigen. Sie müssen fähig sein, all das Unbewußte im Leben, alle Verheimlichungen, Verstellungen, Masken, Listen und Tücken zu erkennen, um jene, auf die sie einwirken sollen, darauf aufmerksam zu machen und ihnen zu helfen. Dazu verhilft uns nur Menschenkenntnis, in bewußter Absicht betrieben.

      Es dürfte auch die Frage interessieren, wer eigentlich am besten in der Lage ist, Menschenkenntnis zu sammeln und zu betreiben. Es wurde bereits erwähnt, daß es nicht möglich ist, diese Wissenschaft nur theoretisch zu betreiben. Der bloße Besitz aller Regeln genügt noch nicht, es ist auch notwendig, ihn aus dem Studium in die Praxis und in ein höheres Studium des Zusammenfassens und Verstehens hinüberzuleiten, damit das Auge schärfer und tiefer blicken lernt, als es die eigene bisherige Erfahrung gestattete. Dies ist der bewegende Grund, warum wir theoretisch Menschenkenntnis betreiben. Lebendigmachen können wir aber diese Wissenschaft erst dadurch, daß wir ins Leben hinaustreten und hier die gewonnenen Grundsätze prüfen und anwenden. Die obige Frage nun drängt sich uns deshalb auf, weil wir aus dem, was uns während der Erziehung geboten wird, viel zu wenig, vielfach auch unrichtige Menschenkenntnis schöpfen, weil somit unsere Erziehung gegenwärtig noch ungeeignet ist, brauchbare Menschenkenntnis zu vermitteln. Es ist jedem Kind allein überlassen, wieweit es sich entwickeln und aus seiner Lektüre, wie aus seinen Erlebnissen Nutzanwendungen ziehen will. Auch gibt es für die Pflege der Menschenkenntnis keine Tradition. Es gibt noch keine Lehre über sie, sie befindet sich noch in demselben Zustand wie etwa die Chemie, als sie noch Alchimie war.

      Halten wir nun unter jenen Menschen, die in diesem Durcheinander unseres Erzogenwerdens die günstigste Gelegenheit haben, Menschenkenntnis zu erwerben, Umschau, so sind es jene, die noch nicht aus dem Zusammenhang gerissen sind, die noch in irgendeiner Weise den Kontakt mit den Mitmenschen und dem Leben bewahrt haben, also jene, die noch Optimisten sind oder wenigstens kämpfende Pessimisten, solche, die der Pessimismus noch nicht zur Resignation getrieben hat. Außer dem Kontakt aber muß noch das Erleben da sein. Und so gelangen wir zu dem Schluß: Wirkliche Menschenkenntnis wird bei unserer mangelhaften Erziehung heute eigentlich nur einem Typus von Menschen zukommen, das ist der »reuige Sünder«, derjenige, der entweder drinnen war in all den Verfehlungen des menschlichen Seelenlebens und sich daraus gerettet hat, oder der wenigstens nahe daran vorbeigekommen ist. Selbstverständlich kann das auch jemand anderer sein, insbesondere jener, dem man es demonstrieren konnte, oder dem die Gabe der Einfühlung ganz besonders gegeben ist. Der beste Menschenkenner wird aber sicher der sein, der alle diese Leidenschaften selbst durchgemacht hat. Der reuige Sünder scheint nicht nur für unsere Zeit, sondern auch für die Zeit der Entwicklung aller Religionen jener Typus zu sein, dem der höchste Wert zugebilligt wird, der viel höher steht als tausend Gerechte. Fragen wir uns, wieso das kommt, dann müssen wir zugeben, daß ein Mensch, der sich aus den Schwierigkeiten des Lebens erhoben, sich aus dem Sumpf emporgearbeitet hat, der die Kraft gefunden hat, alles das hinter sich zu werfen und sich daraus zu erheben, die guten und schlechten Seiten des Lebens am besten kennen muß. Ihm kommt darin kein anderer gleich, vor allem nicht der Gerechte.

      Aus der Kenntnis der menschlichen Seele erwächst uns ganz von selbst eine Pflicht, eine Aufgabe, die, kurz gesagt, darin besteht, die Schablone eines Menschen, sofern sie sich als für das Leben ungeeignet erweist, zu zerstören, ihm die falsche Perspektive zu nehmen, mit der er im Leben umherirrt, und ihm eine solche Perspektive nahezulegen, die für das Zusammenleben und für die Glücksmöglichkeiten dieses Daseins besser geeignet ist, eine Denkökonomie, oder sagen wir, um nicht unbescheiden zu sein, auch wieder eine Schablone, in der aber das Gemeinschaftsgefühl die hervorragende Rolle spielt. Wir haben gar nicht die Absicht, zu einer Idealgestaltung einer seelischen Entwicklung zu gelangen. Man wird aber finden, daß oft schon der Standpunkt allein dem Irrenden und Fehlenden eine enorme Hilfe im Leben ist, weil er bei seinen Irrtümern die sichere Empfindung hat, in welcher Richtung er fehlgegangen ist. Die strengen Deterministen, die alles menschliche Geschehen von der Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung abhängig machen, kommen bei dieser Betrachtung durchaus nicht zu kurz. Denn es ist sicher, daß die Kausalität eine ganz andere wird, daß die Auswirkungen eines Erlebnisses völlig andere werden, wenn im Menschen noch eine Kraft, noch ein Motiv lebendig wird, die Selbsterkenntnis, das gesteigerte Verständnis dessen, was in ihm vorgeht und aus welchen Quellen es stammt. Er ist ein anderer geworden und kann sich dessen wohl niemals mehr entschlagen.

      I. Kapitel:

      Die Seele des Menschen

       Inhaltsverzeichnis

      Beseelung schreiben wir eigentlich nur beweglichen, lebenden Organismen zu. Die Seele steht in innigster Beziehung zur freien Bewegung. Bei Organismen, die festwurzeln, gibt es kaum ein Seelenleben, es wäre für sie auch ganz überflüssig. Man muß nur die Ungeheuerlichkeit bedenken, einer festwurzelnden Pflanze Gefühle und Gedanken zuzumuten, die, während sie über Bewegung in keiner Weise verfügen könnte, etwa Schmerz erwarten sollte, die sie voraussähe,