Eiermann, wenn seinem Auge Möglichkeiten sich boten, es im Bewußtsein der ihm mangelnden Fähigkeiten zu schließen. In venere aber war es vor jeder Möglichkeit weit offen und schloß sich erst, wenn sie zur süßen Wirklichkeit geworden war.
Dieses offene Auge, mit dem er jederzeit spazieren ging, verursachte nicht selten, daß Möglichkeiten, die andernfalls gar keine geworden wären, plötzlich vor ihm sich auftaten. Denn so manche Dame, die nur so für sich hinwandelte, ließ im Anblick seines groß auf sie gerichteten Auges, das ihre zur selben Größe sich ausdehnen. Damit war für Eiermann die verpflichtende Möglichkeit da.
Eines Abends aber fiel ihm, als er bereits heimkehren wollte, schon von ferne etwas Glänzendes auf, das bei näherem Zusehen als ein durch das konstante Lächeln seiner Besitzerin entblößter, abnormal großer Goldzahn sich erwies.
Eiermann war dermaßen von diesem Anblick gefesselt, daß er das Gesicht der Goldzahn-Besitzerin gar nicht gesehen hatte. Erst als das hypnotisierende Glänzen seinem Auge fehlte, bemerkte er, daß jene Dame bereits an ihm vorbeigegangen war. Er machte stracks kehrt, sah aber nichts mehr. Da, ein kurzes Aufblitzen: der Goldzahn bog um die Ecke. Diesmal blieb Eiermann auf der Fährte. Denn als er an die Ecke kam, wandelte vor ihm eine einzige Dame. Er hatte, weit ausschreitend, sie fast schon eingeholt, als sie in die Grennegade einbog und daselbst ein Haus betrat.
Ihr dahin zu folgen, wagte er nicht: sie konnte verheiratet sein, einen strengen Vater haben, eine Megäre zur Tante … Eiermann hatte da so seine Erfahrungen. Nachdem er auf dem gegenüber befindlichen Trottoir noch etwa fünf Minuten auf und ab gegangen war, ohne den ersehnten Goldzahn am Fenster zu erblicken, beschloß er, da einen solch abnormal großen schwerlich zwei Personen zugleich in einem Hause besitzen konnten, einen Brief nach Grennegade sechs zu adressieren und zwar ›An die Dame mit dem Goldzahn‹. Zudem mußte der Briefträger diesen sicherlich längst bemerkt haben, so daß ein also adressierter Brief zweifellos richtig bestellt werden würde. Eiermann stürzte in ein Restaurant, verfaßte eine ebenso energische wie vorsichtige Liebesepistel und warf sie ungesäumt in einen Briefkasten.
Am folgenden Abend begab er sich zwischen fünf und sieben Uhr wohl ein Dutzendmal an den Poste-restante-Schalter. Vergeblich. Erst als er tagsdarauf zum zehnten Mal wiederkehrte, empfing er einen großen blauen Brief, auf dem in barok gemalten Buchstaben die Worte ›Rendez-vous mit dem Goldzahn‹ prangten. Eilends setzte er sich auf eine Bank und seine vor Neugierde feucht gewordenen Augen lasen alsbald:
Kaere Herre, ik haben gehabt nigt det Vergnügen zu haben Ires Bekanntschaften. Ik hofen es zu werden. Copenhague c’est en Stadt en lille langweiliges og es ist zu winschen det die Heiterkeiten widerkert. Vieleichd Sie sind morgen Soendag klokken drei précis zu den Langelinie pavillon sur la terrasse. J’aurai mon petit chapeau blanc. Og werden ik zeigen immer men goden Goldzahn welcher Sie hat gemacht en solches impression.
Au revoir, kaere Herre.
Dédette.
Eiermann, der bei der Wahl der Krawatte subtilen Überlegungen sich hingegeben hatte, erschien sonntags erst um drei ein Viertel vor dem Langelinie-Pavillon. Langsam betrat er dessen Terrasse: er erblickte etwa ein Dutzend kleiner weißer Hüte, aber von einem Goldzahn nichts. Fürchtend, zu spät gekommen zu sein, erbleichte er fast vor Ärger, ließ sich schließlich an einem runden Tischchen nieder und bestellte ein Glas Bier. Dann blickte er verzweifelt um sich: es wimmelte nur so von kleinen weißen Hüten, glücklicher Weise aber nicht von Goldzähnen, so daß immerhin noch Hoffnung bestand. Wieder und wieder mit jähen Blicken nach einem Goldzahn jagend, leerte er sein Glas und vergaß, so sehr meditierte es in ihm, den Schaum sich vom Mund zu wischen.
Es war vier Uhr, als er, unweit hinter sich, die Worte hörte: »Non, non. Ik haben det nigt gehabt. Sie haben gemacht en Irrtum, garçon. Mais certainement.«
Eiermann riß den Kopf herum: die Dame, die mit dem Kellner also disputierte, trug einen kleinen weißen Hut, aber, so viel von dem nur wenig entblößten Gebiß zu sehen war, keinen Goldzahn. Dennoch war Eiermann überzeugt, Dédette vor sich zu haben. Er eilte auf sie zu, drängte den Kellner zur Seite und verneigte sich: »Habe ich das Vergnügen, das Rendez-vous mit dem Goldzahn …?« Er vollendete nicht: auf der ihm abgekehrt gewesenen Seite des Gebisses erglänzte der obere Eckzahn voll eitel Gold. »Ich sehe, daß ich es habe.«
»Setzen Sie!« Dédette lächelte verschwenderisch. Plötzlich aber spannten sich ihre Züge mokant. »Sie haben Gelberes … sur la bouche.«
»Ah, Sie haben recht.« Eiermann fuhr sich ärgerlich mit beiden Händen an den Mund, ihn mit schnellen Griffen säubernd. »Aber was für ein Zufall, daß Sie mit dem Kellner … Ich wollte schon fortgehen.« Und während er jene Banalitäten äußerte, welche in solchem Fall die Mehrzahl der Männer Europas zu produzieren pflegt, wunderte er sich, daß er nicht französisch sprach. Da fiel ihm ein, wie ergötzlich es wäre, so zu tun, als verstünde er diese Sprache nicht. Sofort war er dazu entschlossen.
Nach einer Konversation von krampfhaftester Lebhaftigkeit, die durch Dédettes lückenhaftes Deutsch allein ein wenig vergnüglich wurde, verließen die beiden den Pavillon und promenierten auf der Langen Linie.
Eiermann, der inzwischen erfahren hatte, daß sein Brief verspätet übergeben worden war, weil der Briefträger erst am zweiten Nachmittag Dédettes Tür hatte geöffnet erhalten, kam jetzt darauf zurück: »Da haben Sie also dem Briefträger Ihren Goldzahn gezeigt und er hat Ihnen …«
»Naturellement«, zirpte Dédette. »Wir haben noch gelachen og ik haben ihn gegeben en Pourboire.« Sie zupfte mit sechs Fingern ihre bräunlichen Schläfenhaare zu Locken. »Aber jeg haben gehabt difficultés med Ihre Briefen og nigt gewollt nehmen en fremden personnage … forcément.«
»Ja, ja.« Eiermann war ein wenig verwirrt: Dédette, die sehr gut angezogen war und noch besser geschminkt, machte es ihm schwer, sie einzuordnen. Deshalb versuchte er, sie auf die Probe zu stellen: »Und dann eine Dame von Ihrer Stellung … Mein Brief war nicht bloß in der Adresse gewagt.«
»Comment?« Dédette blinzelte zu ihm empor. Als sie seine großen Augen sah, glaubte sie zu verstehen, welch außergewöhnliche Chance sie habe. Augenblicks änderte sie den bereits sehr aufmunternd gewordenen Ton. »Oui, gewagt. Jeg hätten schon nigt dürfen …« Sie dehnte die Vokale nasalst. »Aber ik war si curieuse og wi ik haben studiert Ihre Briefen, jeg haben sehr geschwanken. Doch de Soendag c’est si ennuyeux og ik haben mir gesagt, du wirst dich diese Herre bloß anschauen. Denn ik bei mene Stellung …«
»Erlauben Sie mir bitte eine Frage.« Eiermann schnappte absichtlich in ihren seriösen Ton ein, eine fast ehrerbietige Haltung einnehmend.
Dédette hob arrogant das Kinn. »Jeg bin seit zwei Monate zu die Fru Landraten von de Pillingende … pour la lécture et la conversation.«
»Ach so.« Eiermann glaubte es ihr sofort: das war weniger, als er für möglich gehalten, und mehr, als er gefürchtet hatte. Seine sehr üppigen Hoffnungen schienen sich zu verflüchtigen.
»Oui. Avant ik waren à Berlin. Drei Jahren. Zu en riche dame israélite.« Dédette verdünnte ihre Stimme noch mehr. »Weil ma famille durch de Krieg haben ganz verarmten.«
Eiermann blieb stehen, sich verbeugend. »Richard Eiermann mein Name.«
»O, merci.« Dédette nickte ein bißchen. »Jeg heißen Dédette de la Fournichon. Mon père … men Vatern war Colonel og ist gefallen zu Verdun.«
Eiermann neigte, zum Zeichen des Mitgefühls, wenn auch völlig gleichgültig, das Haupt. Als er es wieder hob, fing Dédette an, ihre Familienverhältnisse und die der Familie, die sie gegenwärtig beherbergte, des Breiten zu detaillieren. Hierauf ging sie zu ihren Wünschen über, welche zwischen einer unabhängigen Situation und einer Verheiratung nach ihrem Geschmack pendelten, und schließlich zu ihren Bedürfnissen, zu denen vor allem ein lieber Freund zum Promenieren gehöre. Obwohl Eiermann lediglich ihre drollige Ausdrucksweise gefiel, pflichtete er ihr in allem bei, nicht ohne kurz zu bemerken, daß sie, was das Promenieren betreffe, durchaus auf ihn zählen könne. Dédette nahm es beifällig auf, begann aber, von ihrem vielfältigen und deshalb anspruchsvollen Innenleben zu sprechen: sie