Kathrin Singer

Heimatkinder Staffel 4 – Heimatroman


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      Anette drehte sich um. Es waren nur einige Schritte bis zu Franks Auto. Und als er das Fenster öffnete und sie fragend ansah, sagte sie klar und deutlich: »Ich will, dass du bei mir bleibst, Frank. Heute Nacht und für immer!«

      »Anette!« Er sprang heraus und riss sie in seine Arme. »Aber natürlich bleibe ich bei dir. Überglücklich und von ganzem Herzen. Ich habe es mir selbst gewünscht. Nur hast du gesagt …«

      Sie schaute zu ihm auf. »Ich weiß. Ich wollte, dass wir uns erst in unsere Wohnungen lassen, wenn wir unserer Gefühle ganz sicher sind. Ich bin mir aber sicher!«

      »Ich schon lange, meine süße Anette!«

      Und sie schloss die Tür auf, und bevor sie die Treppe betrat, packte Frank sie und trug sie hinauf. Anette juchzte. Noch nie hatte sie sich so leicht und gelöst gefühlt wie in diesem Augenblick. Sie gab sich schon auf ihrem kleinen Flur seinen Küssen hin, riss sich den Umhang ab und duldete amüsiert, dass Frank das Mieder ihres Dirndls aufschnürte. Hatte er nicht zugegeben, wie gut es ihm an ihr gefiel? Sie sahen sich an und wussten, dass in dieser Nacht ein neues Leben für sie begann.

      *

      In schweren Landstiefeln stapfte Stefan mit seinem Angestellten Sepp Decklinger über das Feld. Sie überprüften, ob die zarten Mohrrüben-Pflänzchen weitere Frostnächte überstehen konnten. Hunderte Meter entfernt ratterte die Saat-Maschine über den Boden, damit dort in einigen Wochen der Früh-Spinat geerntet werden konnte. Sepp zog die Stirn in Falten.

      »Eine einzige Nacht mit mehr als minus zehn kann uns noch in Schwierigkeiten bringen, Baron.«

      Stefan nickte. Er kannte das Risiko. Aber Ende April verkaufte sich der erste frische Spinat und die zarten Karotten besonders gut. Wenn er aufgrund von Frostschäden davon nicht genug liefern konnte, musste er seinen guten Feldsalat und Chicorée anbieten. Er murmelte etwas und wandte sich ab, um zu den Gewächshäusern zu gehen, als sein Handy brummte. Das war Anette. Seit Wochen hatte er nichts mehr von ihr gehört.

      »Du musst kommen!«, zwitscherte sie gut gelaunt. »Ich bin so glücklich und will mich bei dir bedanken. Schaffst du das heute noch?«

      Stefan grinste. Es gab Erfolge, die waren nicht mit Geld zu bezahlen. »Das kann ich nicht versprechen, Anette. Marie hat Wilma für einige Tage zu ihrer Schwester geschickt. Und die Kinder haben Ferien. Du kannst dir vorstellen, wie es bei uns drunter und drüber geht.«

      Er vertröstete sie auf einen der nächsten Tage. Chicorée und Feldsalat standen hervorragend. Morgen konnte beides geschnitten und geliefert werden. Also stapfte er zurück zum Weißenberg-Hof, betrat ihn durch die Nordtür und stand gleich darauf im Büro.

      Frau Hämmerle saß nicht wie sonst um diese Zeit an ihrem Arbeitsplatz. Jetzt konnte sie doch nicht Feierabend gemacht haben?

      »Marie …?« Marie war auch nicht da. Vom Büro betrat er das Kaminzimmer und entdeckte Reserl auf einem der Ledersofas. Sie lag hingegossen und telefonierte mit einer ihrer Schulfreundinnen. Amüsiert stellte er fest, dass sie den viel zu langen Rock trug, den Wilma extra für das Kinderkostümfest ausgemustert hatte.

      »Ja, Lucia, klar kommen wir«, jubelte sie ins Telefon. »Wenn Mami meinen Rock umgesäumt hat, könnt ihr mich abholen. Tschüüüs!«

      »Was ist denn los, Reserl? Wer soll dich abholen?«

      »Lucias Mami, Papi! Das weißt du doch.«

      Nein, das wusste er nicht. Er sah sie fragend an.

      »Lucia hat Geburtstag. Sie wird zehn. Und da dürfen wir heute Abend feiern …, in Faschingszeugs! Jossi darf auch mit. Und wir übernachten bei Lucia. Toll, nicht?« Ohne ihn weiter zu beachten, rief sie durch die Halle in Richtung Esszimmer. »Maami …, mein Rock! Nähst du ihn endlich kürzer?«

      »Wo ist Mami denn?«, wollte Stefan wissen, weil keiner antwortete. »Im Esszimmer?«

      »Ja, mit Dany.«

      Mit seinen Landstiefel stapfte er in Richtung Esszimmer.

      »Mensch, Papi!«, rief Reserl ihm nach. »Du bringst doch Schmutz von draußen auf die Fliesen! Wenn Wilma das sieht!«

      »Wilma ist nicht da!«, murrte er zurück und stieß die zweiflügelige Tür zum großen Esszimmer resolut auf.

      Am langen Tisch, der nur sonntags oder zu festlichen Anlässen benutzt wurde, saß Marie mit Dany auf dem Schoß. In der einen Hand hielt sie ein Taschentuch, um den Kleinen von seiner Laufnase befreien zu können, mit der anderen blätterte sie in einem dicken Wälzer, der sich als Kochbuch entpuppte. Sie war so darin versunken, dass sie Stefan gar nicht zu bemerken schien.

      »Weißt du, wo Frau Hämmerle steckt, Marie?«

      Sie sah gar nicht erst auf. »In München. Ich hab’ sie zum Viktualienmarkt geschickt, weil ich verschiedene Sorten Fisch brauche.«

      »Es ist noch nicht mal drei …!«

      »Bis spätestens sechs ist sie wieder hier, mein Liebling.«

      »Uff!«, machte Stefan. Was waren denn das für neue Sitten? Er musste sich setzen und sah, dass seine Stiefel auch hier noch Erdklümpchen hinterließen.

      »Ich wollt bei Dany bleiben, weil er so einen dicken Schnupfen hat«, erklärte sie ohne aufzusehen.

      »Und dagegen helfen verschiedene Sorten Fisch vom Münchner Viktualienmarkt?« Er war entsetzt.

      »Ach, Stefan! Liebster!« Da hob sie den Kopf, strich ihr Haar aus dem Gesicht, lächelte ihm unbekümmert zu und wischte mit der anderen Hand unter Danys Näschen entlang. Stefan staunte.

      Wie schön seine Marie war! Es gab Tage, da fiel es ihm gar nicht mehr auf. Aber jetzt kam es ihm so vor, als sei sie in letzter Zeit nahezu aufgeblüht! Hatten ein einziger Termin bei einer Münchner Kosmetikerin und der Besuch bei Frau Osterlohs Friseur dieses Wunder bewirkt? Sie war schon immer eine Schönheit gewesen, aber nun war sie attraktiv wie ein Filmstar. Und schminkte sie sich neuerdings nicht auch täglich?

      Er betrachtete sie wortlos und wie verzaubert, bis ihm wieder einfiel, dass hier aber auch einiges geschah, das weder zu Marie noch in den geschäftlichen Alltag des Weißenberg-Hofs passten.

      »Erinnerst du dich nicht?«, begann sie mit einem traumhaft ­verführerischen Augenaufschlag, »dass du mir vor langer Zeit mal anvertraut hast, wie gut dir eine französische Fischsuppe schmeckte? Dany, schnauf mal or­dentlich!«, unterbrach sie sich selbst. »Ja, und diese Suppe will ich dir heute zubereiten, mein Liebster!«

      Dany schnäuzte mit aller Kraft ins Taschentuch. Dann rutschte er von ihrem Schoß und krabbelte auf den seines Vaters. Stefan hielt ihn liebevoll umschlungen, aber er war immer noch verdutzt.

      »Und für diese Suppe schickst du Frau Hämmerle nach München?«

      »Muss ich doch. Solche Fische gibt es nicht bei uns.«

      Wie süß sie schauen konnte! Es war zum Verzweifeln.

      »… und als Dessert habe ich Schoko-Creme mit Rum geplant, mein Schatz. So, wie du sie liebst.«

      Stefan drückte Dany fest in seine Arme. »Marie …«, begann er mit sanfter Stimme. »Wilma ist bei ihrer Schwester, und ich habe alle Hände voll zu tun. Die Kinder wollen Fasching feiern … Das mit der Suppe und Schoko-Creme holen wir nach, wenn Wilma wieder da ist.«

      »Nein, nein! Wenn Wilma da ist, gibt es wieder nur Hausmannskost.«

      »Ja, aber die schmeckt auch, und dafür musst du nicht in der Küche stehen!«

      »Aber ich tu’s doch für dich, mein Liebster. Nur für dich! Ich nehme mir Zeit für dich, mein Stefan-Schätzchen!«

      »Hm.«

      In der letzten Zeit überhäufte sie ihn mit Kosenamen und wiederholte dreimal am Tag, wie sehr sie ihn liebe und wie unendlich glücklich sie mit ihm sei. Natürlich gefiel ihm das. Aber doch nicht, wenn Frau Hämmerle das Büro für einige Fischsorten verlassen musste!