zu trinken, wie die Russen ihren geliebten Wodka nannten, sowie an den Eiern, Essiggurken und Würstchen auf ihren Tellern herumstocherten, redete er weiter.
»Zunächst einmal würde ich in Bezug auf unsere innerstaatlichen Probleme und speziell die Gräueltaten der Tschetschenen in letzter Zeit vorschlagen, dass wir uns angewöhnen, jedwede Schwierigkeit aus allen Blickwinkeln zu betrachten, also weder das Vordergründige noch die Kehrseite außer Acht zu lassen. Unter bestimmten Bedingungen kann vermeintlich Schlechtes gute Ergebnisse erzielen und auf den ersten Blick Gutes zu Schlechtem führen. Die vielen zivilen Opfer in Nowgorod waren bedauernswert, doch wir werden Sie zu unserem Vorteil nutzen, glauben Sie mir.
Die Welt befindet sich einmal mehr in einem chaotischen Zustand, meine Herren. Das liegt daran, dass ihr ein ausgewogenes Gleichgewicht fehlt. Seit dem verheerenden Zusammenbruch der Sowjetunion gibt es nur noch eine Großmacht, die Vereinigten Staaten von Amerika. Ein Gegenpol, der so etwas wie symmetrische Ordnung auf unserem Planeten herstellen könnte, existiert nicht mehr. Die Europäer möchten diese Funktion einnehmen und scheitern kläglich. Nun, das war vorhersehbar. Die Chinesen würden es auch gern versuchen, besitzen jedoch betrüblicherweise kein angemessenes Atomwaffenarsenal, zumindest im Augenblick. Darin sind wir uns alle einig, oder?«
Man murmelte Zustimmung. Der Schock angesichts des Gewaltausbruchs wenige Minuten zuvor saß bei allen viel zu tief, als dass sie normal reagieren konnten.
»Nur zwei Weltmächte kommen als realistische Herausforderer der USA infrage, zwei Regierungen mit der Fähigkeit, für neuerliche Balance, Ordnung und politisches Ebenmaß zu sorgen: unsere eigene und irgendwann in Zukunft China. Mir persönlich wäre es wesentlich lieber, wenn unser bescheidenes Mutterland das Heft in diesem Kampf übernehmen würde.«
Mit Gelächter und Beifall fanden die Zehn wieder Gelassenheit in ihrer Körpersprache. Obwohl es noch nach den abgefeuerten Schüssen roch und der kupfrige Hauch von frischem Blut in der Luft lag, verdrängten die Männer die beiden toten Genossen bereits aus ihrem kollektiven Gedächtnis.
»Gut, gut. Gestatten Sie mir, eine Lösung für diese Krise in Aussicht zu stellen, ja? Heute Morgen teile ich Ihnen mit, dass unser nächstes Ziel darin besteht, Amerika fortan daran zu hindern, in postsowjetischen Gebieten einzufallen. Zu diesem Zweck lege ich nahe, die Republiken unserer ehemaligen Union zurückzufordern – nicht alle auf einmal, denn dies wäre zu provokativ, sondern eine nach der anderen. Vielleicht sollten wir mit Estland anfangen, einem kleinen Stachel, der dennoch tief in unserem Fleisch steckt. Ein Großteil der nötigen Vorarbeit wurde bereits dort geleistet. Bei einem späteren Treffen werde ich Sie über den konkreten Zeitpunkt und unsere Strategie informieren. Sobald der Westen dies verdaut hat und denkt, wir wären fertig, holen wir alles zurück! Entweder mit Gewalt oder durch List, aber daran führt kein Weg vorbei.
Wenn wir die Wiedereingliederung unseres geliebten Mutterlandes vollzogen haben, blicken wir über die neu geschaffenen Grenzen hinaus nach Osten und Westen. Ich möchte betonen, meine Herren, dass wir unsere Grenzen einzig und allein verteidigen können, indem wir sie ausweiten!
Um unser teures Mütterchen Russland wieder als bestimmende Weltmacht zu etablieren, wie es ihm geziemt, brauchen wir nichts weniger als eine Revolution! Sie loszutreten, wird nicht leicht. Vorsitzender Mao sagte einmal treffend: Eine Revolution ist kein Gastmahl. Wir jedoch, meine Herren, wir werden uns durchsetzen!«
Rostow stand zuerst auf und applaudierte laut. Die anderen schlossen sich bald an, schnellten von ihren Plätzen empor und schlugen kräftig in die Hände. Es dauerte mindestens fünf Minuten, bis Korsakow zum Weitersprechen kam.
»Ich danke Ihnen allen. Ich weiß Ihre Pflichttreue und Liebe zu unserem Land zu schätzen, aber um diese wunderbare Wiedergeburt und Revolution zu verwirklichen, müssen wir den Westen davon abhalten, sich einzumischen. Er darf seine Nase nicht in unsere Angelegenheiten stecken. Eine ruse de guerre ist vonnöten, eine Finte oder Ablenkung, die Gegenangriffen des Feindes vorbeugt, wenn unsere Panzer rollen. Anmerkungen dazu?«
General Arkadij Gerimosow, der dem »Wässerchen« womöglich etwas stärker zugesprochen hatte als seine Genossen, merkte auf: »Wir könnten sie ablenken, indem wir New York, Chicago und Los Angeles beschießen, Exzellenz, habe ich recht? Eine höchst wirkungsvolle ruse de guerre, finden Sie nicht, mes amis?«
Die Männer brachen explosionsartig in Gelächter aus, obgleich nicht jeder es witzig fand, denn einige hielten es insgeheim ernsthaft für eine gute Idee. Korsakow blieb unbeeindruckt.
»Sehr unterhaltsam, dieser Einfall, General Gerimosow, aber wie schon Napoleon sagte: Es gibt nur zwei Mächte in der Welt: den Säbel und den Geist. Auf lange Sicht wird der Säbel jedoch stets vom Geist besiegt. Und mit diesem Satz möchte ich unsere Diskussion beenden. Außer der Präsentation des Präsidenten später steht von meiner Seite im Moment nichts mehr an.«
Dann richtete sich der Graf per Mikrofon gesondert an Rostow, der einen Knopf im Ohr trug. »Wolodja?«
»Exzellenz?«
»Ich will unter vier Augen mit Ihnen sprechen. Würden Sie sich bitte entschuldigen und mir ein paar Minuten in meinem Büro schenken?«
»Selbstverständlich. Ich bin schon unterwegs.«
Rostow tupfte sich den Mund mit der Serviette ab, lächelte seine Genossen an und trat hinter den Vorhang, um mit dem Zauberer zu reden.
»Hier bin ich, Exzellenz«, sagte er ins Dunkel hinein, wo er einen Schattenriss ausmachte. Er nahm auf demselben Stuhl wie immer Platz, schlug die Beine übereinander und zündete sich eine Zigarette an.
»Es gibt da einen Mann, auf den wir unser Augenmerk legen müssen, Wolodja.«
»Wer und wo ist er, Exzellenz?«, fragte der Präsident.
»Es handelt sich um einen Briten namens Hawke. Seine Familie ist mir keineswegs fremd. Er reiste kürzlich von London nach Bermuda. Irgendwie ist er mit meiner Tochter Anastasia in Kontakt gekommen. Es könnte eine Romanze sein, vielleicht aber auch nicht. Dem Anschein nach ist er eine Privatperson und außergewöhnlich reich, doch ich hege den berechtigten Verdacht, dass er für den MI6 arbeitet.«
»Sollen wir ihn beobachten oder beseitigen?«
»Sowohl als auch. Zuerst behalten Sie ihn lediglich im Blick. Setzen Sie sich mit meinem Privatsicherheitsdienst in Bermuda in Verbindung, Mr. Samuel Coale auf Nonsuch Island. Dort befindet sich eine alte Bodenstation der NASA. Er wird wissen, was zu tun ist. Wenn Hawke von der Bildfläche verschwinden soll, gebe ich Ihnen Bescheid. Dann fordere ich Sie auch auf, Mr. Strelnikow zu kontaktieren – Paddy Strelnikow, einen meiner amerikanischen Helfer. Er ist der Einzige, den ich gegen einen Briten ins Feld ziehen lassen würde.«
»Dann ist er wohl gut, dieser Brite, oder?«
»Möglicherweise der Beste. Er hat unseren Kameraden in Havanna und Beijing ungeheuren Ärger bereitet. Davon abgesehen mache ich mir Sorgen um meine liebe Anastasia. Meine Tochter ist seit dem frühzeitigen Tod ihres Ehemanns Vanja … unzufrieden. Dieser Hawke scheint es ihr durchaus angetan zu haben. Das beunruhigt mich. Ich will ihn nicht in unserem Nest haben.«
»Vielleicht sollten Sie Ihre Tochter anweisen, sich von diesem Mann fernzuhalten, Exzellenz. Sie ist schließlich ein Musterbeispiel für Gehorsam.«
»Mag sein, doch wenigstens vorübergehend könnte er sie glücklich machen, und außerdem: Wer weiß, was sie in der Zwischenzeit von diesem Briten erfahren wird, hm, Wolodja?«
Rostow nickte.
»Wo ist Paddy Strelnikow gerade, Exzellenz?«
»Im Einsatz in Amerika. Er kümmert sich um bestimmte Dinge.«
Kapitel 5
Irgendwo in Norddakota
Die Straße vor ihm sah aus wie eine Schlange aus Eis. Schwarz glänzend kroch sie im Kegel seiner Scheinwerfer dahin und verschwand fernab in den schneeweißen Hügeln. Paddy Strelnikow hatte das Fernlicht eingeschaltet, erkannte im wirbelnden Schnee