sprang er auf einen öffentlichen Briefkasten, seine Turnschuhe quietschten auf der glatten Metalloberfläche. Von seinem erhöhten Aussichtspunkt sah er ein Feuerwehrauto ein paar Blocks entfernt, zwar mit Sirene und blinkenden Lichtern, aber bewegungslos. Es stand an einer Kreuzung mit genug Platz zum Wenden, aber es stand einfach nur da. Einen halben Block weiter sah er einen Streifenwagen, ebenfalls mit Blaulicht. Der Polizist stand mit dem Mikrofon in der Hand auf der Straße.
Leon sprang von dem Briefkasten herunter und lief zu dem Polizisten hinüber. »Was ist denn hier los?«
»Keine Ahnung, Junge. Alle Fahrzeuge stoppten vor etwa einer Stunde. Der Funk tut es auch nicht mehr.« Der Polizist wandte sich ab, um an seinem Funkgerät zu hantieren, und Leon ging langsam davon, während sein Gehirn bei dem Versuch rotierte, zwei und zwei zusammenzuzählen.
Er lief die paar Blocks zur Schule, tief in Gedanken versunken, nur um eine Menschenmenge vor dem Haupteingang vorzufinden. Die Rektorin stand auf den Stufen, hinter ihr kämpfte der Hausmeister mit der Eingangstür.
»Die Schule bleibt geschlossen«, rief die Rektorin, und ihre Stimme klang heiser. »Wir können keine Schüler einlassen. Wir bekommen die Sicherheitstüren nicht auf, und das Internet ist sowieso ausgefallen. Geht nach Hause.«
Ein lauter Begeisterungsschrei ging durch die Gruppe der Schüler, und die Menge löste sich rasch auf, bevor die Rektorin es sich anders überlegen konnte.
Leon war starr vor Staunen. War das wirklich möglich? Es musste so sein. In seinem Kopf drehte sich alles. Geschah das alles wegen seinem Virus?
Jemand schlug ihm plötzlich auf den Rücken, und er wirbelte herum, sah aber nur Vito und James. Nach kurzem Zögern gab er seinen Freunden den Faustgruß, und sie mischten sich unter die restlichen Schüler, die das Gelände verließen.
»Wohin«, fragte James.
»Das Diner«, antwortete Vito, und sie überquerten die Straße, nur um festzustellen, dass ein paar hundert Jugendliche auf dieselbe Idee gekommen waren. Es war hoffnungslos, denn als sie dort ankamen, war die Tür verschlossen. Ein handgeschriebenes Schild hing an der Innenseite der Tür: ›Geschlossen: Küche defekt wegen Computerausfall.‹ Eine Kellnerin in blauer Uniform stand drinnen und verscheuchte sie von der Glastür.
»Scheiße«, sagte Vito. »Ich bin am Verhungern.«
»Lasst uns zu mir gehen, Leute. Ich muss euch etwas erzählen.«
Als sie an seinem Appartementhaus ankamen, fanden sie die vordere Sicherheitstür offen, und der Fahrstuhl war immer noch außer Betrieb. Sie gingen die Treppen hinauf in sein Appartement. Vito plünderte den Kühlschrank, und Leon begann zu erzählen.
»Funktionieren eure Handys noch?«
»Was? Ja sicher doch«, antwortete James und sah auf seines.
»Und deins?«
Vito unterbrach seine Suche nach Aufschnitt und Mayonnaise, um nach seinem Handy zu sehen. »Ja, wieso?«
»Weil keins der Telefone der Erwachsenen noch funktioniert und ihre Computer auch nicht. Nirgendwo auf der ganzen Welt.«
»Wovon redest du da?«, fragte James, der gerade selbst mit der Plünderung der Vorräte begann und sich an dem Hühnchen von gestern bediente.
»Sagt mal, hab' ich euch je von meinem Onkel Alex erzählt?«
Die beiden anderen Jungen schüttelten ihre Köpfe. Beide hatten ihren Mund voller Essen.
»Er lebt in Russland. Vor zehn Jahren ist er hier in den Staaten aufs College gegangen, ging aber dann zurück. Ich weiß nicht warum, aber wir blieben immer in Kontakt. Letzte Woche schickte er mir eine Nachricht. Er erzählte mir, dass er für die Russenmafia arbeitet.«
»Was, das hat er dir erzählt?«, fragte Vito mit ungläubiger Stimme.
»Na ja, nicht direkt. Aber ich las es zwischen den Zeilen, und es war das, was er mir sagen wollte. Er arbeitet für das organisierte Verbrechen, er schreibt Computerviren für sie. Er ist einer der Typen, die Bot-Netze erschaffen.«
»Du sprichst von diesen großen Netzwerken, die aus infizierten Rechnern bestehen«, fragte Vito, »die, die von den Russen benutzt werden, um Firmen zu erpressen, DOS-Attacken durchzuführen und so ein Zeug?«
James hörte mitten im Kauen auf, um zu hören, was Leon antworten würde.
»Genau. Und er sagte, dass er in großen Schwierigkeiten sei. Die Viren, die er im Laufe des letzten Jahres schrieb, waren nicht mehr so effektiv. Er wusste nicht, warum, aber das Bot-Netz war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er klang so, als wäre er in ernsten Schwierigkeiten, wenn er nicht bald einen außergewöhnlichen Virus schreiben konnte.«
»Welche Art von Schwierigkeiten?«, fragte James, ein Hühnerbein hing vergessen zwischen seinen Fingern.
»Es klang, als ob sie ihn umbringen würden. Zumindest sagte er das.«
Sie ließen das Gehörte für eine Minute sacken. Vito und James Mienen waren wie versteinert, sie schienen ihm seine Geschichte nicht wirklich abzunehmen.
»Er wollte meine Hilfe bei dem Computervirus«, fuhr Leon schließlich fort.
»Was weißt du schon von Computerviren?« Vito lachte.
Das Gelächter verletzte Leon, aber er versuchte, es zu ignorieren. »Nichts. Deswegen benutzte ich eine Grundlage, von der ich etwas verstehe: Biologie. Ich zerlegte frei zugängliche Virensuchprogramme, um herauszufinden, wie sie Virenverhalten erkennen. Dann schrieb ich einen Virus, der Programmteile von Virusscannern benutzt, um virusähnliches Verhalten in anderen Programmen zu erkennen und deren Algorithmen dann in seinen eigenen Quellcode zu integrieren. Also, Viren machen mehrere Dinge: Sie nutzen Sicherheitslücken auf Computern, sie übertragen sich von Computer zu Computer, und sie übernehmen andere Programme, um sich für sie auszugeben. Die Leute denken dann, sie würden im Internet surfen, während sie eigentlich einem Virus ihre Kreditkarteninformation geben. Der Virus, den ich geschrieben habe, ist eine Art Metavirus, der Teile anderer Viren in sich aufnimmt. Er probiert sie aus, behält, was funktioniert und stößt die unnützen Codes ab. So entwickelt er sich beständig weiter.«
»Schwachsinn. Das erfindest du doch alles nur.« Vito ging zum Kühlschrank zurück und stöberte dort in den Fächern.
»Nein, ich sage euch die Wahrheit. All das«, und dabei breitete Leon die Arme aus, um auf die sie umgebende Welt zu deuten, »all das geht auf mein Konto. Und das weiß ich, weil ich wollte, dass wir uns keine Viren einfangen. Also jedenfalls niemand unter 18. Versteht ihr, der Virus prüft die Metadaten der Nutzer und befällt keine Systeme, die von jemandem unter 18 betrieben werden. Würdet ihr jetzt den verdammten Kühlschrank zumachen und mir endlich zuhören!«
Vito und James legten hastig das Essen zur Seite, und James schloss verlegen die Kühlschranktür.
»Zeig' es uns«, sagte James und sah Leon herausfordernd an.
»Okay, schick mir eine Nachricht von deinem Smartphone.«
James zog sein neues Gibson heraus. Leon sah auf, und sein aufkeimender Neid spiegelte sich auch in Vitos Zügen wider. James' Finger glitten über sein Smartphone, und Sekunden später summte Leons Smartphone, und Vitos Handy blinkte. Leon sah auf sein Display. Du lügst.
»Okay, und was soll das beweisen?«, fragte James.
»Jetzt schickst du eine Nachricht an jeden Erwachsenen, den du kennst. Schreib, was du willst. Ich garantiere dir, dass sie nicht antworten werden. Vito, du kannst es auch versuchen.«
Vito nahm sein vorsintflutliches Motorola und begann, darauf herumzudrücken, während James über sein Display wischte.
Leon beobachtete, wie Vito die kleine Tastatur auf seinem alten Motorola quälte, und schämte sich für ihn. Leon war nicht gerade reich, weswegen er sich nicht immer die neuesten Gadgets leisten konnte. Vitos Eltern hatten Geld. Aber sie hatten sich entschieden, dass er ihre abgelegten Geräte benutzen musste. Leon schüttelte traurig den Kopf.