eine alte, angeschlagene Porzellanschale und übergoss es mit kalter Milch. Sanft klopfte er mit seinem Handy auf den Tisch, aktivierte so das Wanddisplay neben dem Küchentisch, das sich dann mit seinem Telefon synchronisierte. Während er aß, surfte er in einem Spiele-Newsletter und sah sich seine Spielstatistiken an. Auf seinem Lieblingsserver bei ›Mech War‹ war er jetzt auf Rang 23. Dank der neuen generischen Algorithmen, die er für die Zielkontrolle geschrieben hatte, war er um zehn Plätze aufgestiegen. Er hatte auch schon ein paar Ideen für einen Abwehralgorithmus, den er als Nächstes ausprobieren wollte.
Nach dem Frühstück schnappte er sich seinen Rucksack und ging vor die Wohnungstür. Das Verriegeln sämtlicher Schlösser erforderte wie immer einiges an Zeit. Seine Eltern waren russische Immigranten, denen es gar nicht sicher genug sein konnte. Zusätzlich zu dem eingebauten elektronischen Schloss und dem digitalen Fingerabdruckscanner gab es noch einen altmodischen Schließzylinder. Leon trug den Schlüssel dafür manchmal um den Hals, und die Hälfte der Kids an seiner Schule hielt es für ein exzentrisches Schmuckstück. Er ging die paar Blocks bis zur South Shore Highschool. Hunderte von Schülern strömten, die fahrenden Autos ignorierend, quer über die Ralph Avenue. Die Fahrer drückten ärgerlich auf ihre Hupen, da die vorgeschriebenen Notbremsassistenten ihre Fahrzeuge automatisch zum Stehen brachten. Leon lief mit einer Gruppe anderer Kids über die Straße und drängte sich gemeinsam mit ihnen durch die Eingangstür der Schule.
Er machte sich auf den Weg in seine erste Stunde. Mathematik stand auf dem Plan. James war schon da, trug seine übliche grüne Army-Jacke. Leons russische Herkunft hatte ihn mit blondem Haar und einer hochgewachsenen, kräftigen Statur ausgestattet, aber James war ihm immer noch knappe fünf Zentimeter und solide 50 Pfund voraus. Als er hineinging, schlug er James im Vorbeilaufen auf den Arm, und James schlug zurück. Die Schulglocke erklang, und sie eilten zu ihren Tischen in der letzten Reihe. Kurz nachdem jeder auf seinem Platz saß, schoss Vito durch die Tür und sank auf den Platz neben ihnen, was ihm einen bösen Blick des Lehrers einbrachte.
Sie mochten die drei schlauesten Schüler sein, aber sie versuchten, es geheim zu halten. Sie passten nicht zu den anderen Nerds. Adrette Kleidung und die Mitgliedschaft im Theaterklub schien ihnen ein wenig albern. Und obwohl man James gerne im Footballteam gehabt hätte, spielte er lieber MMORPGs. Ganz sicher passten sie nicht zu den beliebten Schülern mit ihren oberflächlichen Interessen. Sie waren auch keine Skater oder Punks. Man hätte sie vielleicht als Geeks bezeichnen können, aber Geeks trugen keine Militärjacken und drückten sich nicht vor der Schule, um Gras zu rauchen. Aber sie waren auch zu schlau und zu sehr ihrer Hacker-Ethik verhaftet, um mit den Drogenkids abzuhängen.
Nein, sie waren ihre eigene Clique und sorgten dafür, dass sie nicht in die üblichen Stereotype der anderen hineinpassten.
Leon sah zu Vito hinüber, der mit seinem vorsintflutlichen Motorola herumspielte. Er kümmerte sich rührend um sein altes Handy. Die Hülle war nach Hunderten von Stunden in Vitos Händen blank poliert. Selbst der ursprüngliche Plastikrahmen war mit der Zeit verschwunden. Wenn ein Bauteil den Geist aufgab, lötete Vito ein Ersatzteil ein. Vito sagte, dass ab einem gewissen Punkt ein Telefon nicht mehr alterte, sondern zu etwas Besonderem wurde.
Leon verbrachte die Stunde mit Tagträumen, gab aber korrekte Antworten, wenn der Lehrer ihn fragte. In seinem Kopf stapfte er mit seinem Mech durch die Ruinen Berlins, die Szenen aus dem Spiel der letzten Nacht wiederholend.
Er dachte darüber nach, einen neuen Hitzesuch-Algorithmus für seinen Mech zu schreiben. Die aktuelle Spielegeneration verlangte individuelle Programmierung, wenn man erfolgreich sein wollte. Leon wusste aus der Geschichtsstunde, dass vor langer Zeit Gold und Ausrüstung in Spielen die wertvollen Dinge gewesen waren. Jetzt waren es die Algorithmen. Das Spiel machte die Daten für die Softwareumgebung zugänglich, und es war Aufgabe der Spieler, die besten Algorithmen für Steuerung, Zielen, Suchen, Bewegung und Koordination der Mechs zu finden. Es gab ein hartnäckiges Gerücht, dass die DARPA die Spiele finanzierte, um an wichtige Algorithmen für Militärdrohnen heranzukommen. Leon hatte online weder dafür noch dagegen Beweise finden können.
Nein, vielleicht sollte er sich auf einen neuen Bewegungsalgorithmus konzentrieren. Er hatte gehört, dass einige Mechs, die ein eigens entwickeltes Bewegungsprogramm benutzten, bis zu 10 Prozent mehr Geschwindigkeit und Reichweite herausholten, während ihre thermische Signatur niedrig blieb. Wenn das stimmte, dann konnte Leon so etwas für gutes Geld bei eBay verkaufen. Leon versank immer tiefer in der Lösung dieses Problems und als die Schulglocke ertönte, holte ihn eine Kopfnuss von James aus seinen Gedanken.
»Ich seh' dich später, Lee«, rief Vito und ging in seinen nächsten Kurs.
»Adios.«
Leon und James gingen zusammen zu ihrem Sozialkundekurs.
»Wie läuft es mit den Bewerbungen«, fragte ihn James.
»Ganz gut, denke ich«, antwortete Leon. »Bin gerade mit dem Aufnahmebogen für das MIT fertig geworden. Bei der Qualifizierung war ich super. Aber es nervt trotzdem, Mann. Wenn ich kein Stipendium kriege, bin ich am Arsch.«
»Du und jeder andere, Mann«, sagte James und schlug ihm auf die Schulter.
»In Ordnung, Klasse, kann mir jemand die rechtliche und politische Bedeutung des Mesh erklären?« Leons Sozialkundelehrer sah sich im Klassenzimmer um. »Josh, wie wäre es mit dir?«
Josh sah von seinem Tisch auf, wo er offenbar gerade Footballspielzüge skizzierte. »Häh?«
»Das Mesh, Josh. Ich habe nach dem Mesh gefragt.«
»Mesh … uh, sorgt dafür, dass man auf dem Spielfeld nicht so schwitzt?«
Die Stimme des Lehrers ging für einen Moment im brüllenden Gelächter der Klasse unter. »Sehr witzig. Kommt schon, irgendjemand wird es doch wissen. Ihr benutzt es für eure Spiele, um fernzusehen und um euch zu informieren. Einer von euch hat sich doch sicher schon Gedanken gemacht, wie das alles zu euch nach Hause kommt.«
Leon sah James an, rollte mit den Augen und täuschte ein Gähnen vor.
»Wie wäre es mit dir, Leon. Ich bin sicher, dass du die Antwort kennst.«
Leon zögerte kurz, wog ab, ob die Antwort seiner Coolness wohl abträglich wäre, traf dann aber eine Entscheidung. Sein Lehrer tat ihm irgendwie leid. »Das Mesh wurde vor zehn Jahren von Avogadro Corp. aufgebaut, um die Netzneutralität zu wahren«, begann er.
»Zu dieser Zeit lag der Internetzugriff in den USA in den Händen einiger weniger Konzerne wie beispielsweise Comcast, die hauptsächlich ihre eigenen Produkte bewarben. Sie sahen das Internet als Konkurrenz zum traditionellen Kabelfernsehen an, und sie wollten bestimmte Formen von Datentransfer kontrollieren, um den Wettbewerb mit ihren eigenen Angeboten zu vermeiden.«
»Sehr gut, Leon. Kannst du uns sagen, was Avogadro da aufbaute und warum?«
Leon seufzte, als ihm klar wurde, dass ihn sein Lehrer nicht so leicht davonkommen lassen würde. »Den Aussagen von Avogadro nach wäre es zu teuer und zeitaufwendig gewesen, eine eigene Netzwerkinfrastruktur aufzubauen, die vergleichbar mit dem wäre, was Kabel- und Telefonunternehmen im letzten Jahrhundert aufgebaut hatten. Stattdessen entwickelten sie die MeshBoxen und verteilten sie kostenlos. Eine MeshBox tut zwei Dinge: Zum einen ist sie ein Hochgeschwindigkeitszugang für kabelloses Internet (WiFi), das jedem erlaubt, sein Smartphone oder Notebook mit dem Internet zu verbinden. Aber das war nur eine Zugabe von Avogadro, um sie den Leuten schmackhaft zu machen. Die eigentliche Funktion einer MeshBox ist es, ein Netzwerk mit anderen MeshBoxen in der Nähe aufzubauen. Statt die Daten über das Internet per Comcast zu verschicken, leitet die MeshBox die Datenpakete über ihr eigenes Netzwerk.«
Leon hatte es selbst nicht bemerkt, aber im Laufe seiner Erklärung war er aufgestanden und zu dem Netboard an der Stirnseite des Raumes gegangen. »Das Mesh-Netzwerk ist in einigen Dingen langsamer als das traditionelle Internet, in anderen Dingen aber schneller.« Er zog einen Finger über das berührungsempfindliche Display. »Es braucht ungefähr 900 Schritte, also Verbindungen zwischen MeshBoxen, um ein Datenpaket von New York nach Los Angeles zu schicken, aber es sind nur etwa 10 Router notwendig, um dasselbe über das Internet zu tun. Das bedeutet,