Es schien, als ob ihnen ein Ständchen zuteilwerden würde, ob sie nun wollten oder nicht. Als sei das nicht bereits übel genug, begann Shawcombe in ungleichmäßigem Gegentakt zu klatschen und zu rufen. In einer Ecke der Kammer huschte eine Ratte herum, von den unmusikalischen Tönen offenbar ebenso gestört wie Matthew.
Er setzte sich auf die Strohmatratze und fragte sich, wie er trotz seiner Erschöpfung von der Reise in dieser Nacht schlafen sollte. Mit Ratten im Zimmer und zwei anderen kreischenden Geschöpfen im Nebenraum würde es kein leichtes Unterfangen sein. Er beschloss, sich mathematische Textaufgaben zu stellen und zu lösen – natürlich auf Latein. Unter schwierigen Gegebenheiten half ihm das oftmals, sich zu entspannen.
Ich denke nicht, dass das weiter wichtig ist, hatte er Shawcombe geantwortet, als es darum ging, ob Richter Kingsbury allein gereist war. Und doch schien es Matthew wichtig zu sein. Allein zu reisen war ungewöhnlich und – wie Shawcombe korrekt festgestellt hatte – verwegen. Jedes Mal, wenn Matthew Richter Kingsbury begegnet war, hatte der Mann zu viel getrunken. Vielleicht hatte der Alkohol seinem Gehirn zugesetzt. Doch Shawcombe war sofort davon ausgegangen, dass Kingsbury ohne Begleitung unterwegs gewesen war. Er hatte nicht gefragt: War er allein?, oder: Wer ist mit ihm gereist? Nein, er hatte gesagt: Wer hier draußen allein unterwegs ist …
Die Lautstärke der Fiedel steigerte sich in ohrenbetäubende Tonlagen. Matthew seufzte und schüttelte den Kopf über die demütigende Situation, in der sie sich befanden. Immerhin hatten sie für die Nacht ein Dach über dem Kopf. Ob es auch die ganze Nacht halten würde, war eine andere Frage.
Er konnte noch immer den Duft des Mädchens riechen.
Er war davon geradezu überwältigt worden. Ihr Geruch war immer noch da; ob nun in seiner Nase oder in seinen Gedanken, wusste er nicht. Wollt Ihr gerne ran?
Ja, dachte Matthew. Mathematikaufgaben. Sie ist reif. Und auf jeden Fall auf Latein.
Die Fiedel ächzte und kreischte, und Shawcombe fing an, auf den Boden zu stampfen. Matthew starrte auf die Tür. Der Geruch des Mädchens rief ihn.
Sein Mund war wie ausgetrocknet. Sein Magen hatte sich anscheinend fest verknotet. Ja, dachte er, heute Nacht wird das Schlafen schwierig werden.
Sehr schwierig.
Kapitel 3
Matthew erwachte. Das Licht war zu einem dunklen Gelb zusammengeschmolzen, die Kerze war nur noch ein kleiner Stummel. Neben ihm schnarchte Woodward lautstark auf dem borstigen Stroh; sein Mund stand halb offen und das Fleisch unter dem Kinn bebte. Matthew brauchte einige Sekunden, bis er merkte, dass seine linke Wange nass war. Dann fiel der nächste Tropfen von der nassen Zimmerdecke auf sein Gesicht. Mit einem Fluch zwischen den Zähnen setzte er sich jäh auf.
Die schnelle Bewegung ließ eine Ratte aufquieken – dem Geräusch nach zu urteilen musste es eine sehr große sein – und mit kratzenden Krallen wieder in ihr Nest in der Wand verschwinden. Der Lärm des vom Dach auf den Boden fallenden Regens vermischte sich zu einer wahren Symphonie. Matthew dachte, dass es an der Zeit war, eine Arche zu bauen. Vielleicht hatte Abner recht, und das Ende der Welt war angebrochen. Vielleicht würde das Jahr 1700 nie auf einem Kalender verzeichnet werden.
Wie dem auch sein mochte, er sah sich gezwungen, den Regenströmen noch sein eigenes Wasser hinzuzufügen. Und der Schwere in seinem Gedärm nach zu urteilen, gleich noch etwas mehr. Verdammt, er würde in dieses Unwetter hinausgehen und sich wie ein Tier hinkauern müssen. Wenn es ginge, würde er ja versuchen, noch etwas anzuhalten, doch manche Dinge ließen sich nicht halten. Während die Ratten neben dem Bett ihrer Geschäfte nachgingen, würde er sich im Wald hinter der Scheune wie ein zivilisierter Mann erleichtern. Und auf der nächsten Reise – die Gott verhüten möge – würde er daran denken, einen Nachttopf mitzunehmen.
Er befreite sich aus dem Folterinstrument, das als Bett getarnt war. Im Wirtshaus herrschte Stille; es musste mitten in der Nacht sein. In der Ferne grollte Donner; über der Carolina-Kolonie führte der Sturm immer noch sein Unwesen wie ein Geier mit schwarzen Schwingen. Matthew schob seine Füße in die Schuhe. Er besaß keinen eigenen schweren Mantel und zog sich daher den des Richters über sein Flanellnachthemd, der noch feucht von Woodwards jüngster Expedition hinter die Scheune war. Die Stiefel des Richters neben dem Bett waren lehmbeschmiert und würden mit einer groben Borstenbürste bearbeitet werden müssen, um wieder sauber zu werden. Matthew wollte nicht ihre einzige Kerze mit hinausnehmen, da das Unwetter sie schnell löschen und die rattenschwänzigen Wandbewohner in dem dunklen Zimmer vielleicht noch dreister werden würden. Er beschloss, eine Laterne aus der Wirtsstube mitzunehmen, und hoffte, dass sie ihm genügend Licht spendete, damit er nicht in den laut Woodward »gottlosen Unrat« dort draußen treten würde. Er konnte dann auch gleich nach den Pferden sehen, da er sowieso zur Scheune ging.
Als er die Hand auf dem Türriegel hatte und ihn gerade anheben wollte, hörte der Richter auf zu schnarchen und begann leise zu stöhnen. Matthew sah, wie sich Woodwards Gesicht unter der gesprenkelten Kuppel seiner Glatze verzog. Matthew hielt inne und starrte ins schummerige flackernde Licht. Woodwards Mund öffnete sich und die Augenlider flatterten. »Oh«, wisperte der Richter klar und deutlich. Obwohl seine gequälte Stimme nur ein Flüstern war, konnte Matthew darin etwas hören, das er nur als reinen und schrecklichen Schmerz beschreiben konnte. »Ohhhh«, gab Woodward im Kerker seines Albtraums von sich. »Ann … ihm tut es weh.« Er holte gepeinigt Luft. »Ihm tut … ihm tut es … oh Gott, Ann … ihm tut …« Er sagte noch etwas, ein Gewirr von Worten, unter das sich ein weiteres leises, furchtbares Stöhnen mischte. Seine Hände griffen fahrig nach dem Ausschnitt seines Nachthemds, sein Kopf drückte sich tief ins Stroh. Aus seinem Mund erklang ein mattes Geräusch, das der Widerhall eines Schreis hätte sein können. Dann entspannte sich sein Körper langsam, und das Schnarchen setzte wieder ein.
Für Matthew war dies nichts Neues. Der Richter schritt in vielen Nächten durch finstere Gefilde der Qual, doch er weigerte sich, über den Grund dafür zu sprechen. Vor fünf Jahren hatte Matthew ihn einmal gefragt, was denn Schlimmes gewesen sei, und Woodwards Reaktion war eine scharfe Rüge gewesen: Matthews Aufgabe sei es, den Beruf des Gerichtsdieners zu erlernen, und wenn er daran kein Interesse haben sollte, könnte er jederzeit wieder einen Platz im Waisenhaus bekommen. Die Bedeutung dieser Botschaft, die mit untypischer Verdrießlichkeit ausgedrückt wurde, war deutlich gewesen. Was auch immer den Richter des Nachts verfolgte, durfte nicht zur Sprache gebracht werden.
Es hatte etwas mit seiner Frau in London zu tun, glaubte Matthew. Ann musste sie heißen, auch wenn Woodward ihren Namen im Wachzustand nie erwähnte und auch nie etwas über sie erzählte. Obwohl Matthew seit seinem fünfzehnten Geburtstag bei Isaac Woodward lebte, wusste er nur sehr wenig über das frühere Leben des Mannes in England. Er wusste nur, dass Woodward ein recht bekannter Anwalt gewesen war, der es auch zu finanziellem Erfolg gebracht hatte – was aber seine Umstände verändert hatte und weshalb er von London nach Übersee in die rauen Kolonien gegangen war, blieb ein Rätsel. Matthew reimte sich aus dem, was er gelesen hatte, und dem, was Woodward über London erzählte, zusammen, dass es eine großartige Stadt sein musste. Er selbst war nie dagewesen, auch in England nicht, denn er hatte das Licht der Welt auf einem Schiff im Atlantik, neunzehn Tage außerhalb von Plymouth entdeckt.
Leise hob Matthew den Riegel und verließ das Zimmer. Im dunklen Raum dahinter leckten im Kamin noch immer kleine Flammen an schwarzen Stücken Holz. Bitterer Rauch schwebte in der Luft. Neben dem Kamin hingen zwei Laternen. Beide waren aus flach geklopftem Blech gefertigt, in das mit Nägeln kleine Löcher geschlagen worden waren, durch welche das Licht hinausdrang. In einer der Laternen steckte eine Kerze. Matthew fand auf dem Boden einen Kiefernzweig, steckte ihn an den Überresten des Feuers in Brand und hielt die Flamme an den Kerzendocht.
»Was treibt Ihr denn da? Hm?«
Matthew erschrak sich fast zu Tode, als die Stimme die Stille durchschnitt. Er wirbelte herum, und das schwache Licht der Laterne fiel auf Will Shawcombe, der mit einer verrußten Tonpfeife und einem Humpen Rum vor sich an einem der Tische saß.
»Ihr schleicht herum, junger Mann?« Shawcombes Augen lagen tief in ihren Höhlen und sein Gesicht