waren.
Mihai musste seinen Tag-Nacht-Rhythmus seinem Sohn zuliebe ändern. Er war kein Nachtvater, sondern ein Tagesvater. Obwohl er durch die Blutzeremonie, die er mit Elvira bei der Hochzeit vollzogen hatte, nicht mehr ganz so lichtempfindlich war, machte ihm die Sonne sehr zu schaffen. Immerhin, mit Sonnencreme (Lichtschutzfaktor 2000), Sonnenbrille und langem Mantel konnte er sich zumindest für eine gewisse Zeit ins Sonnenlicht wagen.
Doch schlimmer als das Sonnenlicht war die Müdigkeit. Menschen werden müde, wenn es dunkel wird, Vampire, wenn es hell wird. Sosehr Mihai sich auch bemühte, nachts zu schlafen und tagsüber wach zu bleiben, gelang ihm das nicht so recht. Wo er nur konnte (und auch dort, wo er es eigentlich nicht sollte), nutzte er die Gelegenheit zu einem Nickerchen.
Auf dem Spielplatz war Mihai mitten auf der Rutsche eingeschlafen. Hinter ihm hatten sich die kreischenden Kinder gestaut, besorgte Mütter hatten an ihm geruckelt und gezupft (eine Mutter hatte sogar mit einer kleinen Schaufel auf seinen Kopf geklopft), doch davon hatte er nichts mitbekommen.
Auch bei der musikalischen Früherziehung, zu der Franz einmal in der Woche ging, hatte Mihai der Schlaf übermannt. Während Kinder, Mütter und Musiklehrerin im Kreis saßen und fröhlich Klanghölzchen schwangen, war Mihais Kopf immer weiter nach unten gesunken und sein Schnarchen so laut geworden, dass es die Klanghölzchen und den Gesang der anderen übertönt hatte. Mihai war erst wieder aufgewacht, als er mit dem Kopf auf dem Tamburin gelandet war. Franz war der Einzige gewesen, der von dieser musikalischen Einlage seines Papas begeistert gewesen war.
Doch davon abgesehen, dass Mihai den Tag zur Nacht machen und sich ins Sonnenlicht wagen musste, war er überglücklich als Vampir in Elternzeit. Er wünschte sich, er hätte genauso viel Zeit mit Silvania und Daka verbringen können, als sie klein gewesen waren. Ihnen hätte es beim Mutter-Kind-Turnen sicher auch gefallen.
„Wie schön, dass ihr alle gekommen seid“, sagte Katja, die Turnlehrerin. „Heute werden sich unsere Zwerge wieder so richtig austoben können. Und die Muttis.“
Mihai räusperte sich.
„Und der Papa.“ Katja zwinkerte Mihai zu. „Ich habe für die kleinen Strolche einen tollen Abenteuer-Parcours aufgebaut. Ihr könnt klettern, rutschen, Purzelbäume schlagen, Trampolin hüpfen und an den Ringen schaukeln.“
„Gibt es auch einen Flug-Parcours für Schlängelflug, Gleitflug und Hummelflug?“, fragte Mihai interessiert.
Katja lachte laut und herzlich. „Ein bisschen Spaß muss sein, Sie haben recht!“
Mihai sah die Turnlehrerin verständnislos an.
„Bevor wir aber gleich lossausen wie die kleinen Wirbelwinde, singen wir wie immer zu Beginn gemeinsam ein Lied“, sagte Katja. „Was wollen wir singen? Hat jemand einen Vorschlag?“
„Transsilvania, rodna inima moi!“, rief Mihai sofort und so laut, dass einem Kleinkind der Schnuller aus dem Mund fiel und eine Mutti im Schneidersitz nach hinten klappte.
„Nichts gegen andere Kulturen. Aber vielleicht etwas auf Deutsch, das alle verstehen?“ Katja lächelte in die Runde.
„Gut, dann eben Blutwurstschnittchen für Schneewittchen“, schlug Mihai den aktuellen Hit von Krypton Krax vor, der Lieblingsband seiner Tochter Daka.
Katja lächelte noch immer, aber nicht mehr ganz so natürlich. „Versuchen wir es mit Ein Männlein steht im Walde.“
Die Mütter nickten dankbar. Dann sangen die Mütter und Katja zaghaft das Lied, Mihai sang mit kräftiger Stimme Ein Männlein hängt im Walde und die Babys und Kleinkinder sangen und sabbelten irgendwas.
Nach dem Lied klatschte Katja in die Hände, strahlte in die Runde und rief: „Und jetzt geht’s los, ihr süßen Zwerge!“
Schließlich wurde geturnt. Statt zu klettern, flopste Franz sich auf den Sprungkasten (eine unheimlich schnelle Art der Fortbewegung, die unter Vampiren sehr verbreitet ist und die Elvira Tepes ihren Kindern in Bindburg eigentlich verboten hatte). Zum Glück ging das Flopsen meistens zu schnell für das menschliche Auge.
Franz schlitterte so rasant von der Rutschbank, dass die Fledermausflügel an seinem schwarzen Turnanzug flatterten. Am Ende der Bank machte er einen Satz und sprang Katja in die Arme, die völlig überrascht mit ihm auf die Matte krachte. „Hoppla! Du bist ja ein halber Springinsfeld!“, rief Katja.
„Nein. Ein halber Fluginsfeld“, sagte Mihai, nahm seinen Franz auf den Arm und küsste ihn vor Stolz.
„Boing, boing!“, rief Franz und zeigte auf das Trampolin. Dort hüpfte er so hoch, dass er einen kleinen Flug mit ein paar Loopings einlegte. Eine Mutter sah Franz mit offenem Mund zu und blinzelte mehrmals. Hinter ihr plumpste ihr Kind gerade von einer Bank und sie drehte sich besorgt nach ihm um, als es losweinte.
Das Trampolin wurde Franz schnell langweilig (für jemanden, der fliegen kann, ist in die Luft hüpfen nicht sooo aufregend). Doch Franz hatte schon ein neues Spielzeug entdeckt: einen herrlich roten Gummiball. Er sah zum Anbeißen aus. Franz tapste zum Ball, nahm ihn in die kleinen Hände und strahlte ihn an. Dann riss der kleine Halbvampir den Mund auf und biss kräftig in den Ball. Es machte „Piff!“, Luft schoss aus zwei kleinen Löchern und der Ball sackte zusammen. Er sah jetzt genauso traurig aus wie Franz, der schließlich das Interesse verlor und den schlappen Ball einfach fallen ließ.
Mihai sah sich hastig nach allen Seiten um, dann ließ er den labberigen roten Gummiball mit den zwei Bisslöchern unauffällig unter seinem Umhang verschwinden.
Franz war in der Zwischenzeit in einen Stofftunnel gekrabbelt. Mihai stellte sich ans andere Ende und erwartete ihn freudig. Er wartete eine halbe Minute. Er wartete eine ganze Minute. Er wartete zwei Minuten. Franz kam nicht. Mihai hielt es nicht mehr aus. „Wo bleibst du denn, Franzvamp? In der Zeit kannst du ja einmal nach Transsilvanien und zurück krabbeln!“ Mihai kniete sich vor den Stoffschlauch, steckte den Kopf ins Halbdunkel und rief: „Kuckuck!“
Als Antwort erhielt er ein leises, aber deutliches Schnarchen. Franz lag pritschebreit im Stofftunnel und schlief mit dem Zipfel eines Fledermausflügels im Mund.
Mihai richtete sich auf und gähnte. „Hervorragende Idee, mein Sohn!“, murmelte er, ging zur Wand mit den Klettersprossen und hängte sich kopfüber an die oberste Sprosse. Einen Moment beobachtete er noch das seltsame Treiben der Muttis und ihrer Turnkinder in der Halle. Er nickte den verstört blickenden Mamas freundlich zu. Dann fielen ihm die Augen zu.
Ein roter, luftloser Ball plumpste aus seinem Mantel und dotzte ein paar Mal durch die Turnhalle, bis er vor Katjas Füßen zum Liegen kam. Aber da war Mihai Tepes schon im Tiefschlaf versunken.
Er träumte von seiner transsilvanischen Heimat. Von den dichten Wäldern, den wild schäumenden Flüssen, den imposanten Bergen. Von Oktavians Gruft, in der lauwarmes Frischblut gezapft wurde, von den blutig-spritzigen Häppchen von Schlachter Sangrasa und von seinem Bruder Vlad.
Die Qual der Wahl
Für Elvira drehte sich im Moment alles um Klobrillen. Für Mihai alles um seinen Sohn Franz. Für Silvania drehte sich alles – wie immer – um die Liebe und bei Daka drehte sich alles im Kopf, weil sie so viele wilde Überschläge machte, wenn sie das neuste Album von Krypton Krax hörte. Doch es gab noch andere wichtige Ereignisse in dieser Welt. Ereignisse, von denen die meisten Menschen keinen Schimmer hatten.
In Bistrien, der unterirdischen, transsilvanischen Heimatstadt von Familie Tepes, stand eine wichtige Wahl vor der Tür – es ging um die Macht in Bistrien.
Es gab viele kleine Parteien in Bistrien, zum Beispiel die Frischfleischfraktion mit Schlachter Sangrasa als Parteichef, oder die Blutpolypenpartei, die jede Woche einen neuen Vorsitzenden hatte, oder die Partei XYZ, die gar keinen Vorsitzenden hatte und deren Mitglieder sich auch nicht auf einen Namen einigen konnten. Die beiden größten und wichtigsten Parteien aber waren der Blutige Einheitsflügel, kurz BEF, und die Fiese Vampirpartei, die FVP. Onkel Vlad, Mihais älterer Bruder, war seit Jahrhunderten Vorsitzender des Blutigen Einheitsflügels.
Der