Goethe und Werther: Briefe Goethe's, meistens aus seiner Jugendzeit
Gesandtschaft bei der Kammergerichtsvisitation, im Jahre 1767, nach Wetzlar. In Hannover (am 28. Aug. — auch Goethe’s Geburtstage, — 1741) geboren, hatte er in einem glücklichen Familienkreise und an der Hand eines Hauslehrers von ausgebreitetem Wissen und edlem Character eine auserlesene Erziehung gehabt. (S. Nr. 139 der Documente.) Viele Ehrenmänner, bekannte wie unbekannte, haben in vieljähriger Freundschaft mit ihm bezeugt, daß er ein ausgezeichneter Jüngling, später ein trefflicher Mann war: tüchtig, gerecht und menschenliebend, mit einem Verstande durch das Herz, einem Herzen durch den Verstand bereichert. Goethe, einer dieser Zeugen, sagt in einem seiner Briefe: „Ihr wart mir eine Art Ideal eines durch Genügsamkeit und Ordnung Glücklichen, und euer musterhaftes Leben mit Frau und Kindern war mir ein fröhliches und beruhigendes Bild.“ S. Nr. 127.)
Um einen Blick auch unmittelbar auf seine Person, als eine der Haupterscheinungen auf dem Boden, den Goethe in Wetzlar betrat, zu eröffnen, haben wir die Goethe’schen Briefe ebenfalls mit einigen Briefen Kestners an andere Freunde, insonderheit an seine Jugendfreunde, die bekannten Gebrüder v. Hennings, begleitet, welche zugleich Thatsachen von Erheblichkeit enthalten. Es wird in der Familie noch ein fernerer, gar liebenswürdiger Briefwechsel aus der Schulzeit und den Universitätsjahren dieser Freunde aufbewahrt. Alles darin ist gediegen und rein. Warm, gleich Liebenden, wahr und arglos wie Kinder, kaum ahnend, daß Schlechtes oder Unschönes in der Welt sei, durchdrungen von sittlichem Ernst, führen die Jünglinge in diesen Briefen alles was sie denken auf ihre Freundschaft zurück, und stärken ihren jugendlichen Sinn für das Gute und Schöne, durch Wissenschaft, Natur und Dichtkunst. Wenn gleich diese Briefe, einige wenige ausgenommen, die wir unsern Urkunden anschließen, den Umfang dieses Buches nicht erweitern sollen, so durfte der Inhalt derselben nicht unberührt bleiben, da die Seelenschönheit, welche aus denselben hervorleuchtet, zur Auffassung einer so reinen und hohen Freundschaft leitet, welche Kestner mit dem Vollgehalt seines dafür empfänglichen Herzens dem jungen Goethe entgegentrug, von diesem in seinem großen Seelenvermögen erwiedert wurde, und in beiden einen so seltenen Edelmuth entwickelte.
Kestner, an reichhaltigen Umgang gewöhnt, litt anfangs an dem Mangel desselben in der fremden Stadt, und tröstete seine Einsamkeit durch die Schönheiten des Lahnthales, das er, Inhalts seiner Tagebücher, zu Fuß und zu Pferde durchstrich. Doch gar bald fand er Ersatz für das, was er zu Hause verlassen, in der Familie des Deutschordens-Amtmanns Buff, die von manchen Zeugen als eine der auserlesensten jener Stadt, als ein Bild heiterer und unschuldiger Häuslichkeit geschildert ist. Der Vater, ein kräftiger Biedermann, die Mutter von höchster Vortrefflichkeit. Sie war in der Stadt die Mutter der schönen Kinder genannt.
Nicht lange hatte er diesen reichen Umgang genossen, als die Zweitgeborne der Töchter, Charlotte, das höchste Ziel seiner Wünsche wurde. Mit ihrer Liebe zugleich gewann er die besondere Gunst der Mutter. Die von solcher Mutter erzogene Lotte, verstand, auch voll Lebhaftigkeit und Muthwillen, wie sie war, ihren sanftmüthigen Bewerber in der Unschuld seines Gemüths und der Redlichkeit seines Charakters.
In dem Briefe an seinen Jugendlehrer (Nr. 139) und einigen an seinen Freund (Nr. 140 u. f.) lernen wir Mutter und Tochter näher kennen, und zugleich ihn selbst, der in seiner Freude an denen, die er schildert, vor uns steht. Im Werther, im letzten Briefe des ersten Buchs, hat Goethe dieser seltenen Frau, indem er die Tochter reden läßt, ein Denkmal der Verehrung gesetzt, eine Scene schildernd, die aus dem Leben genommen ist.
Im Jahr 1770 ward diese glückliche Familie der edlen Mutter beraubt, und Lotte, gleich als hätte eine Familienwahl es entschieden, erbte die mütterlichen Sorgen für zehn Kinder.
Vom Jahr 1768 bis 1772 hatte Kestner, als glücklicher Verlobter, den Frühling seines Lebens genossen, als er, durch Goethe’s Bekanntschaft, den Werth seiner Geliebten noch höher erkennen mußte. Goethe, der in Wetzlar den Proceß des Reichskammergerichts studiren sollte, und Kestner, der bei reichlichen Amtsgeschäften seine Welt in einem einzigen Hause gefunden, waren einander noch nicht begegnet, als Gotter, einer seiner Freunde, sie eines Tages in dem Dorfe Garbenheim, (im Werther Wahlheim genannt,) einem Vergnügungsorte unweit Wetzlar, zusammenführte. Dieser Begegnung verdanken wir die von Kestner hingeworfene Charakteristik Goethe’s (Nr. 1 unserer Documente).
Kurze Zeit darauf machte Goethe mit Lotten Bekanntschaft auf einem Ball, (welcher im Werther zur Schilderung der ersten Begegnung Werthers mit Lotten, im Briefe vom 16. Jun. pag. 21 des ersten Buches, den Stoff gegeben) und schon am andern Tage erfolgte sein erster Besuch ihrer Familie im deutschen Hause.[3]
In dieser reinen, durch den Segen der unlängst verstorbenen Mutter geheiligten Atmosphäre, fand Goethe vier Monate lang seine Lebensluft. Um Lottens willen hatte er zuerst Aufnahme in der Familie gesucht. Aber hier kamen die blühenden Kinder, eins schöner als das andere, um ihn her gesprungen, und nahmen ihn mit zwanzig Händen in Besitz, jubelnd über den schönen neuen Vetter oder Onkel, ihn, der nicht lieber die Odyssee lesen mochte, als ihnen Märchen erzählen, und auf dem Boden unter ihnen, von den wilden Buben sich zerzausen lassen. Von dem Amtmann wie ein Sohn, von den mehr herangewachsenen Geschwistern wie ein älterer Bruder geliebt, wurde er in kurzer Zeit Kestnern und Lotten innigst befreundet. Kestner stellte ihn in seinem Herzen seinem Jugendgefährten v. Hennings zunächst; — Goethen, dem Dichter, dessen Beruf das Schöne war, war es natürlich, hier wieder zu lieben, und beide junge Männer, während sie in jedem Augenblicke die größten Gefahren, denen die Freundschaft begegnen kann, überwanden, legten sich gegenseitig das Zeugniß der hohen Eigenschaften ab, die allein es möglich machten, einer so schweren Stellung sich würdig zu verhalten. Und hatte wohl Kestner Goethen zunächst nur seinen klaren Verstand, seine Wärme für das Gute und Schöne, und seine redliche Liebe zu geben, so waren sie in der glücklichen Jugendzeit, wo selbst wenigere Seelenbezüge, dafern sie nur wesentlich sind, Freundschaft und Brüderlichkeit begründen. In Lotten gedieh die jungfräuliche Würdigkeit, die aus dem Beispiel der Zucht edler Mütter in dem Wesen der Töchter emporwächst, noch zu höherem Adel durch ihre individuelle Natur und ihre Lage. Geschaffen für die Wirklichkeit des Lebens, und zwar dessen heiterste Seite, war durchaus kein sentimentales Element in ihrem Charakter, und wo die Lotte im Werther mit romanhaften Ideen beschäftigt, wo sie gar tändelnd dargestellt wird, waren die Züge nicht aus ihrem Leben genommen. Aber hätte auch, in Empfindungen zu leben, in ihrem Charakter gelegen, so hätte diese Neigung den mütterlichen Sorgen weichen müssen, die sie als achtzehnjähriges Mädchen sich auflud; denn zehn lebhafte Kinder tobten um sie her, den ganzen Tag. Das glückliche Zusammentreffen ihrer zufälligen Bestimmung mit ihren natürlichen Anlagen, erhob um so mehr ihre jugendliche Schwungkraft. Die häusliche Macht einer Mutter handhabend, war sie ein Mädchen an Frohsinn und Lebendigkeit. Die pflichtmäßige Miene der mütterlichen Strenge hatte den Schmelz der bräutlichen Heiterkeit. Dieses waren die Eigenschaften eines weiblichen Wesens, in welchem vom Kopf bis zu den Füßen, Alles Uebereinstimmung der rechten Maße, Alles Gemüth, Alles arglose Jugend war; in deren Anschauung Goethe’s edle Leidenschaft, zugleich mit seiner Hochachtung, täglichen Wachsthum erhielt.
Mit diesen Seelenzuständen der trefflichsten Art, in welche Goethe sich hineinlebte, übereinstimmend, sahen die Verlobten in seinem stets offenen Herzen, daß es edel war. In solchem, von ihnen Allen getheilten Selbstgefühl konnte es unter solchen Menschen geschehen, daß er das Bekenntniß jeder seiner Empfindungen zum Gegenstand des freiesten Verkehres mit beiden Verlobten machte. Unter ihnen gab es keine argwöhnische Eifersucht, die den Nebenbuhler ängstlich bewacht, und ihm die Thür der Geliebten versperrt; unter ihnen keinen Stolz des Siegers, keinen Groll des minder Begünstigten, keine Eitelkeit der Angebeteten, die in ihrem Triumphe sich gefiele. Denn kein Gedanke war von einem dieser drei redlichen Freunde gedacht, keine Empfindung gefühlt, die nicht das gemeinschaftliche Eigenthum aller drei war, eine Harmonie, zuvor von zweien, jetzt von dreien gebildet, ein Verhältniß, wovon wohl selten ein ähnliches Beispiel in der Geschichte der Menschheit erscheinen mögte. Was wir hier entwickelten, ist die Auslegung des in Goethe’s „Wahrheit und Dichtung“ S. 115 und