Goethe und Werther: Briefe Goethe's, meistens aus seiner Jugendzeit
Sein Leben mit ihnen nennt er „eine ächt deutsche Idylle, wozu das fruchtbare Land die Prosa, und eine reine Neigung die Poesie gab;“ indem alle drei, in wechselseitig inniger Zuneigung und Großmuth, „sich an einander gewöhnt hatten, ohne es zu wollen, und nicht wußten, wie sie dazu kamen, sich nicht entbehren zu können.“
War auch jene Zeit, von welcher er hier schrieb, weit zurück, so daß in seinen Erzählungen von Einzelheiten manche Erinnerung verloschen, auch das Frühere und Spätere oft vermengt ist; so sehen wir doch sein Herz liebesjung sich lebhaft der Vergangenheit erinnern, wenn er, in dem Rückblick darauf, mit dem wehmüthigen Gefühl, sie jetzt nicht mehr genügend darstellen zu können, sagt: „Es würde der Dichter jetzt die verdüsterten Seelenkräfte vergebens anrufen, umsonst von ihnen fordern, daß sie jene lieblichen Verhältnisse vergegenwärtigen mögten, welche ihm den Aufenthalt im Lahnthale so hoch verschönten“; sich aber tröstend hinzufügt: „Glücklicherweise hatte der Genius schon früher dafür gesorgt, und ihn angetrieben, in vermögender Jugendzeit das nächst Vergangene festzuhalten, zu schildern und kühn genug zur günstigen Stunde öffentlich aufzustellen. Daß hier das Büchlein Werther gemeint sei, bedarf wohl keiner nähern Bezeichnung.“ — (S. 114 des 22. Bandes von Goethe’s sämmtl. Werken.) Wenn er dann das allbelebende Jugendvermögen der Geliebten beschreibt, so versichert er kindlich, daß damals „alle seine Tage Festtage zu sein schienen, und der ganze Kalender hätte müssen roth gedruckt werden.“
So wie nun seine Leidenschaft, so wuchs der Freunde auf Bewunderung gegründete Freundschaft für den, der bald wie ein Riese neben ihnen stand, bald ihr jugendliches Treiben in harmloser Kindlichkeit mit ihnen theilte, und den sie den größten Theil seines Selbst der Ehrfurcht vor ihrem Glücke opfern sahen. Auch der Schmerz, der ihn niederdrückte, wurde, so wie alles unter ihnen gemeinschaftlich war, ein von drei Freunden gemeinschaftlich getragener Schmerz.
Aber Goethe litt zu sehr, und nachdem er einige Zeit umsonst gekämpft hatte, faßte er den schweren und schönen Entschluß, von Wetzlar nach Frankfurt zurückzukehren. Am 11. September 1772 reiste er ab. Wie tief die Trennung die Freunde betrübte, erscheint mit den lebhaftesten Farben, in drei zusammentreffenden schriftlichen Denkmälern jener Zeit. Diese hier zusammenzustellen ist uns ein anziehendes Geschäft, bei welchem wir einen Augenblick verweilen.
Goethe hat seinen Trennungsschmerz in den Blättern niedergelegt, die er den beiden Verlobten am 11. September 1772 zurückließ, und die von den untenstehenden Briefen des abwesenden Goethe den Anfang machen. Dem Roman „Werther“ alsdann, hat er, wie wir sogleich zeigen werden, von diesem bedeutenden Lebensmoment, ein dauerndes Denkmal in einem der schönsten Briefe eingedrückt. In welcher Betrübniß er die beiden Verlobten und das ganze väterliche Haus Lottens zurückließ, sehen wir endlich aus einem Tagebuchsblatte Kestners, dessen getreuer Inhalt folgender ist:
September 10. 1772.
.... „Mittags aß Dr. Goethe bey mir im Garten; ich wußte nicht, daß es das letzte Mal war..... Abends kam Dr. Goethe nach dem deutschen Hause. Er, Lottchen und ich hatten ein merkwürdiges Gespräch von dem Zustande nach diesem Leben, vom Weggehen und Wiederkommen &c. &c., welches nicht er, sondern Lottchen anfing. Wir machten mit einander aus, wer zuerst von uns stürbe, sollte, wenn er könnte, den Lebenden Nachricht von dem Zustande jenes Lebens geben; Goethe wurde ganz niedergeschlagen, denn er wußte, daß er am andern Morgen weggehen wollte.“
September 11. 1772.
„Morgens um 7 Uhr ist Goethe weggereiset, ohne Abschied zu nehmen. Er schickte mir ein Billet nebst Büchern. Er hatte es längst gesagt, daß er um diese Zeit nach Coblenz, wo der Kriegszahlmeister Merk ihn erwarte, eine Reise machen, und er keinen Abschied nehmen, sondern plötzlich abreisen würde. Ich hatte es also erwartet. Aber, daß ich dennoch nicht darauf vorbereitet war, das habe ich gefühlt, tief in meiner Seele gefühlt. Ich kam den Morgen von der Dictatur zu Hause. „„Herr Doctor Goethe hat dieses um 10 Uhr geschickt.““ — Ich sah die Bücher und das Billet, und dachte was dieses mir sagte: „„Er ist fort!““ und war ganz niedergeschlagen. Bald hernach kam Hans zu mir, mich zu fragen ob er gewiß weg sey? Die Geheime Räthin Langen hatte bei Gelegenheit durch eine Magd sagen lassen: „„Es wäre doch sehr ungezogen, daß Doctor Goethe so ohne Abschied zu nehmen, weggereist sey.““ Lottchen ließ wieder sagen: „„Warum sie ihren Neveu nicht besser erzogen hätte?““ Lottchen schickte, um gewiß zu seyn, einen Kasten, den sie von Goethen hatte, nach seinem Hause. Er war nicht mehr da. Um Mittag hatte die Geheime Räthin Langen wieder sagen lassen: „„Aber sie wolle es des Doctor Goethe Mutter schreiben, wie er sich aufgeführt hätte.““ — Unter den Kindern im deutschen Hause, sagte jedes: „„Doctor Goethe ist fort!““ — Mittags sprach ich mit Herrn v. Born, der ihn zu Pferde bis gegen Braunfels begleitet hatte. Goethe hatte von unserm gestrigen Abendgespräch ihm erzählt. Goethe war sehr niedergeschlagen weggereist. Nachmittags brachte ich die Billets von Goethe an Lottchen. Sie war betrübt über seine Abreise; es kamen ihr die Thränen beim Lesen in die Augen. Doch war es ihr lieb, daß er fort war, da sie ihm das nicht geben konnte, was er wünschte. Wir sprachen nur von ihm; ich konnte auch nichts anders als an ihn denken, vertheidigte die Art seiner Abreise, welche von einem Unverständigen getadelt wurde; ich that es mit vieler Heftigkeit. Nachher schrieb ich ihm, was seit seiner Abreise vorgegangen war.“[4]
Der 10. September also war, wie wir hieraus sehen, der Vorabend dieser merkwürdigen Trennung. Schlagen wir nun den „Werther“ auf, und wir sehen, daß der 10. September ebenfalls das Datum des Briefes ist, der am Ende des ersten Buchs dieses Romans den Vorabend eben dieser Trennung darstellt. Kestners Tagebuch, dessen Thatbestand des verlebten Tages dieser Brief zu einem Bilde erhebt, erläutert uns, warum aus jedem Worte desselben die Wärme einer wirklich empfundenen Freundschaft und die Gluth einer wirklich empfundenen Liebe spricht; denn es war der von dem Dichter selbst erlebte, entscheidende Moment, den im Gemälde seiner Liebe zu verewigen, ihm so sehr am Herzen lag, daß er selbst das Datum dieses in seinem Jugendleben entscheidenden Tages heilig gehalten hat.
Dieser Moment, womit das erste Buch des „Werther“ schließt, ist denn auch der, wo in dem Roman Wahrheit und Dichtung sich gänzlich scheiden. Im zweiten Buche borgt Goethe von Jerusalem einige Begebenheiten, besonders die schließliche Katastrophe; an Lottens und Kestners Stellen erscheinen neue Personen, jenen eben so fern stehend, wie ihre erdichteten Erlebnisse. Die Wirklichkeit beschränkt sich allein auf den nunmehr eintretenden Briefwechsel mit den entfernten Freunden.
Der Flucht Goethe’s, welche ihn an jenem Tage von ihnen, einen kurzen Besuch ausgenommen,[5] auf immer getrennt hat, verdanken wir diese Briefe, die wie jugendliche Zeugen zu uns reden, über einen Charakter, über Gesinnungen, die Goethe — wir erkennen es in seiner Biographie, — später kaum noch an sich gekannt hat.
Um so mehr muß uns erfreuen, die Biographie durch diese seine eigenen Zeugnisse wesentlich ergänzt und von dem Jünglinge wieder gewonnen zu sehen, was er im Alter bei der Schilderung seiner schönsten Lebensperiode, obgleich ihr manche Silberblicke nicht fehlen, sich selbst an Ruhm entzogen hat. Wer aber auch in Goethe’s späterer Zeit den Dichter, den Menschen von dem Weltmanne beeinträchtigt finden wollte, erkennt doch immer in unsern Eröffnungen den angebornen edlen Menschenstoff, der durch seine Werke fließt.
Vollständig, so weit die Briefe vorhanden — denn unverkennbar sind mehrere Lücken in der Correspondenz — und, wie sich von selbst versteht, mit Weglassung des Wenigen, was Lebende verletzen kann, sind diese Briefe unten abgedruckt. Daß nichts Wesentliches weggelassen, und bei dem Gegebenen die strengste Wahrhaftigkeit beobachtet sei, können zahlreiche Freunde und Bekannte bezeugen, denen die Briefe in ihren Originalen stets bereitwillig vorgelegt sind. So viele Zeichen der Originalität man aber in einem gedruckten Buche geben mag, ihre Reliquienanmuth kann nur beim Anblick der Originale empfunden werden: wie in Goethe’s schlanken, oft den Charakter wechselnden Schriftzügen die ganze Mannigfaltigkeit seiner wechselnden Stimmungen sich abzuspiegeln scheint. Manche derselben sind unansehnliche Blätter, groß oder klein, fein oder grob, so wie sie seiner sorglosen Hand auf dem Schreibtische, unter Entwürfen von Gedichten und Journalartikeln, oder unter dem Abfall von Briefcouverten begegnen mochten. Mit aller dieser Nichtachtung des äußerlich Herkömmlichen ermangeln dennoch wenige dieser Blätter einer gewissen Anmuth der Form, welche seine