Manfred Maurenbrecher

Künstlerkolonie Wilmersdorf


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legte ich ihm ein so schlecht gekliertes Buntstiftbildchen hin, dass er sofort der Rückstellung zustimmte.

      Richtig erschrocken sah der aus.

      So konnte ich in Ruhe mein neues Zimmer entdecken. Dann den Flur. Die Loggia. Diesen tollen Hängeboden, voll mit Koffern der Erwachsenen – von dem die Oma erzählte, bei ihr zu Hause in Stuttgart hätte es auch so einen gegeben, nur dass da das Hausmädchen der Familie drin untergebracht war – eine Vorstellung, die mich nicht losließ.

      Auch der richtige Dachboden unseres Hauses wurde gern und häufig inspiziert, bald gemeinsam mit der Tochter der Nachbarin. Beatrix war zwei Jahre älter als ich, aufregend unternehmungslustig, und schaffte es, mich ein bisschen aus der Reserve zu locken.

      Da oben zog es durch die Dachschindeln, und ein verstaubter Korbschaukelstuhl stand herum und forderte die Fantasie auf zu spielen. Durch das Dachfenster schaute man noch weiter als bei uns im Vierten, über die Laubengärten nach Süden hin auf den Fichtenberg mit seinem runden Wasserturm. Das Fernheizkraftwerk Lichterfelde-Süd gab es damals noch genau so wenig wie den Steglitzer Kreisel, man blickte also auf Dächer und freie Flächen und ahnte den Teltowkanal in der Ferne, so wie am anderen Ende des Daches den Grunewald.

      Manchmal im Sommer roch es sogar nach Wasser, von der Havel her, von den Seen und Mooren. Man hörte das Kreischen der D-Züge in ihren Gleisen und das Aufheulen der Motoren von Autos, die nachts die Avus entlang rasten. Man verhielt sich einfach nur ganz leise und träumte sich weg in die Ferne.

      Beatrix war mehr nach Rollenspielen zumute als nach Verharren und Träumen. Manchmal kommandierte man uns barsch zurück nach unten, wo es dann hieß, der Einfluss des Mädchens auf den kleinen braven Jungen sei wohl nicht der beste.

      In diesem Alter tat ich noch gern, was ich sollte. Beim Friseur am Laubenheimer Platz, Salon Donath, konnte ich so lange still sitzen, dass der feminine Haarschneider in ein bewunderndes Kicksen ausbrach und laut fragte, warum denn nicht alle Kinder so sein könnten? Die Reaktionen der Mitkunden zeigten mir, dass sie froh waren über ihre eigenen, ungezogeneren Sprösslinge.

      Natürlich war der Friseursalon ein Umschlagsplatz für Klatsch und Tratsch aus der Kolonie. Im Warteflur schwieg man, in dem großen Eckzimmer, in dem gewaschen, geschoren und unter den Hauben gewellt wurde, zog man dann platzübergreifend laut über gescheiterte Bekanntheiten her, besprach die Premieren und Festivals, bewunderte anwesende Elevinnen, die ihr erstes Bild im Programmheft herumzeigten. Ich saß als Mäuschen dabei und sog alles ein. Ich kannte die Namen Barlog, Wölffer und Spira von zu Hause, wusste, dass einige bekannte Theaterleute um die Ecke wohnten – so wie Frau Karin Evans in unserem Haus, zu der Großvater sich achtungsvoll distanziert verhielt. Während er die bejahrte grellgeschminkte Dame, die im Parterre rechts wohnte und offensichtlich einen Kontakt zu beleben versuchte, der wohl einmal in irgendeiner gemeinsamen Bühnenzeit bestanden hatte, brüsk abwies.

      Ich liebte es, bei den Erwachsenengesprächen Mäuschen zu spielen. Wenn die verrentete Kollegenschar meiner Großeltern aufkreuzte, zugleich übermütig und verbittert, tarnte ich mich mit einem Spielzeug sitzend auf dem Teppich und tat beschäftigt. Ich durfte nur nicht auffällig lachen bei ihren Anekdoten über Dernierenstreiche oder den Wortwechseln, wann wer wo was gespielt hatte. Und wer (von den Abwesenden natürlich) wo mit wem was gehabt. Und wenn sie dann laut geworden vom Cognac und in richtiges Streiten ausgebrochen waren, musste ich leise verschwinden. Da wollte ich keiner Seite mehr Sympathien ausdrücken.

      Nachkriegsleben in der Küko

      Es wohnten nicht nur Künstler und Bühnenangestellte in der Kolonie. Die senatseigene Wohnungsgesellschaft GEHAG vermittelte freigewordene Wohnungen, wenn die GDBA keine Mieter gefunden hatte – eine Praxis, die bis heute gilt. In unserem Haus wohnte zum Beispiel unten parterre links das Ehepaar Rogge, die einen Elektrohandel betrieben und zeitweise ein Kellergelass als kleinen Verkaufsladen nutzten. Ihr Sohn wurde später ein bekannter Kinderpsychologe. Im ersten Stock dann Schneidermeister Killmann mit Frau, ein besonders herzliches, immer wie aus dem Ei gepelltes älteres Paar aus Augsburg. Im Dritten rechts Frau Metzner, eine schnodderige West-Berlinerin reinsten Wassers, stets auf dem Weg zum KaDeWe oder ins Café Kranzler, um Stunden später mit Einkaufstüten beladen zurück aus einem Taxi zu steigen. Bei dieser Dame kippte die Eleganz ins Karikaturhafte – und später, als sie die Achtzig hinter sich gelassen hatte, verlor sich ihr knorriger Mutterwitz in Alterswirrnis. Und direkt unter uns im dritten Stock Siemens-Direktor Gregor mit Familie – heutzutage würde sich keine Führungskraft mehr in solch einem normalen Mietshaus länger aufhalten als ein paar Stunden.

      Was die Geselligkeiten betraf, hielt man sich zurück, aber die Mieter teilten sich ein paar Gemeinschaftseinrichtungen, über die man sich verständigen musste. Der ganze Block, neunzehn Häuser a zehn Wohnungen, wurde durch einen leistungsstarken zentralen Kohleofen beheizt, der in einem Arbeitskeller untergebracht und für die Lastwagen durch eine hohe Tordurchfahrt erreichbar war. Einmal pro Woche kullerten dort Tonnen Koks auf einer Rutsche donnernd nach unten. Es muss einen oder mehrere Heizer gegeben haben, ich erinnere mich an rußverschmierte Männer bei ihrer Mittagspause im Innenhof. Ab wann, wie lange und wie stark geheizt werden sollte, war ein Anlass zu beständiger Diskussion.

      Hofblick

      Einen Hausmeister gab es ebenfalls, er achtete unter anderem auf die Einhaltung der Teppichklopfzeiten bzw. der Mittagsruhe, die sich natürlich auch auf ein Spielverbot für uns Kinder bezog.

      Es gab sogar einen auf die Wohnblöcke der Gartenstadt spezialisierten ausführenden Architekten, der bei der GEHAG angestellt war. Ich bilde mir ein, er hieß John. Ein hochgewachsener, langmantelig-ernster Herr, immer von einem Tross Handwerker umgeben, so zog er durch die Straßen und besprach die nötigen Reparaturen und Bauergänzungen. Meine Mutter pflegte einen besonderen Draht zu ihm.

      Wir Kinder spielten in den Innenhöfen kaum. Dort war es langweilig, bei den zwei Müllhäuschen stank es, an den Teppichstangen durfte man nicht klettern, die Heizer und Handwerker scheuchten einen weiter, und wegen der vielen zum Hof gehenden Balkons kam man sich auch beobachtet vor. Laut sein ging schon gar nicht.

      Zum Spielen bot sich der Laubenheimer Platz dagegen prima an. Noch spannender waren natürlich die Ruinenreste zur Schildhornstraße hin, die erst abgetragen wurden, als man die Schrebergartensiedlung beseitigte und Neubauten samt Sportplatz dort hinsetzte.

      An der Sterilität der drei Innenhöfe der Künstlerkolonie hat sich bis heute nichts geändert. Von ihren Architekten einmal gedacht als Treffpunkte und grüne Lungen im Stein, bepflanzt mit Kastanie und Trauerweide und damit typisch für Architektur und Zeitgeist der Zwanziger, waren sie entworfen worden für Sport, Spiel, Entspannung. Man sollte denken, für künstlerisch veranlagte Menschen eine Wunschvorlage. Möglicherweise haben die ersten Mieter das Angebot ja auch genutzt – ein paar Berichte von Zeitzeugen klingen so. Seit den Fünfzigern aber nahm der Gebrauchswert dieser Höfe immer nur ab, und als sich einmal Mitte der Neunziger (wir waren gerade in die alte Wohnung eingezogen) tatsächlich ein paar junge Leute bei warmem Sommerwetter auf dem Innenrasen lagerten, gab es allen Ernstes anschließend einen Aushang der Hausverwaltung, man möge doch bitte die Mittagsruhe einhalten.

      In den Fünfzigern, als ich klein war, bewegte man sich zeitgeistig und in der Mode vom Kollektiven der Vorkriegszeit weg. Es wurde modern, sich zu vereinzeln. Staubsauger anstatt Teppichklopfer, individuelle Wärmequelle anstatt Kollektivheizung, Fernseher anstatt Theater, Waschmaschine in der Küche statt der Gemeinschaftswaschküche – so ging der Trend.

      Die Gemeinschaftswaschküche gab es tatsächlich, sie befand sich in unserem Block im Keller der Bonner Straße Nummer 1a. Man musste sich zur Benutzung anmelden, bekam vom Hausmeister einen Schlüssel und hatte dann 24 Stunden die riesigen Waschgerätschaften zur freien Verfügung. Obwohl ich meiner Mutter gern half und eigentlich das Waschen und Mangeln dort in den feuchtwarmen Räumen aufregend fand, war es mir andererseits auch mordspeinlich, dass wir die Wäsche in Körben über die ganze Hoflänge schleppten, in monströse Waschautomaten steckten, vorher eingetauschte Coupons einwerfen mussten, später die nassen Plünnen auswrangen, zum Trocknen aufhängten, dann mangelten, die vollen Körbe wieder zurück und vier Stockwerke hoch schleppten – Mutter und ich. Den Eltern