Mary Henrietta Kingsley

Reisen in Westafrika


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auch Details, die ein Autor mit stärkerem Hang zur Angeberei vielleicht ausgelassen hätte.

      KAPITEL I

      Von Liverpool nach Sierra

      Leone und zur Goldküste

      Wie die Reisende in einem erstklassigen Schiff und in bester Gesellschaft England verlässt, und zu gegebener Zeit Gran Canaria sowie später den Hafen von Sierra Leone erreicht. Es folgen einige Anmerkungen zu jenem Ort und zur Schönheit seiner Frauen. Außerdem enthalten sind Beschreibungen Cape Coasts und Accras sowie verschiedene Beobachtungen zu den Vorräten, die man dort erwerben kann.

      Die afrikanische Westküste und die arktischen Regionen haben eines gemeinsam: Wer einmal dort war, will wieder dorthin zurück. Wie ich nun darüber nachdenke, fällt mir noch eine weitere Gemeinsamkeit ein, nämlich dass die Chancen gering sind, von dort überhaupt heimzukehren – handelt es sich doch beim einen wie beim anderen Erdteil um eine Belle Dame sans Merci, eine Schöne Dame ohne Gnade.

      Ich erlag dem Charme der Westküste, sobald ich auf meiner ersten Exkursion Sierra Leone verließ. Auf jener Reise sah ich darüber hinaus mehr als genug, um zu wissen, dass es für mich dort unten jede Menge sinnvolle Arbeit gab. Also warnte ich die Küste, ich käme wieder, doch die Küste glaubte mir nicht. Stattdessen zeigte sie bei meiner Rückkehr Anzeichen echter Überraschung und verfestigte ihre bereits bei unserer ersten Begegnung gefasste Meinung über meine Torheit – und das sagt eine Menge.

      Während jener Reise 1893 besuchte ich Old Calabar. Dessen Gouverneur, Sir Claude MacDonald, hatte geduldig meinen Ausführungen über so faszinierende Themen gelauscht wie der Bewegung des Antarktischen Kontinents oder der Wichtigkeit, Süßwasserfische zu sammeln. Als Lady MacDonald heroisch entschied, ihn in Calabar zu besuchen, fragten die beiden mich höflich, ob ich mich ihr anschließen wolle und den Beginn meiner zweiten Reise so legen könne, dass er zu ihrem Aufbruch passte. Das tat ich natürlich gerne. Ich fürchte jedoch, dass sich die sehr liebliche und freundliche Dame bei der Aussicht sehr sorgte, einen Monat an Bord eines Schiffes mit einer Person zu verbringen, die dermaßen von der Wissenschaft gefangenen war, dass sie deswegen die afrikanische Westküste besuchen wollte. Um mich zu unterhalten, wies sie mich während der ersten Tage unserer Reise wiederholt auf alle möglichen maritimen Sehenswürdigkeiten hin. Ich schaute gewöhnlich hin und dachte bei mir, wie furchtbar langweilig sie waren, während ich zugleich laut etwas erklärte wie: »Sehr interessant, aber Haeckel hat sich schon um sie gekümmert, und ich bin diesmal hinter Süßwasserfischen in einem Fluss nördlich des Kongo her.« Die ganze Zeit fürchtete ich, meine Gefährtin könne mir mangelnde Begeisterung vorwerfen, weil ich nicht über die Reling ins Meer sprang, um Proben zu sichern.

      Aber wie groß meine Qualitäten als Wissenschaftlerin auch immer sein mögen, diese Dame erkannte, dass ich letztlich nur eine sehr gewöhnliche Person bin. Dies teilte sie mir auch mit – nicht in so direkten Worten, sondern nett und höflich – woraufhin ich mich in einem Ausbruch von Dankbarkeit für ihr Verständnis meiner Person auf der Stelle zu ihrer »Flügeladjutantin ehrenhalber« erklärte. Ich werde für immer ihr ehrlicher Bewunderer bleiben und anerkennen, dass ihr Mut für die Reise nach Westafrika meinen eigenen bei Weitem überstieg – schließlich hatte sie bedeutend mehr zu verlieren, sollte sie einem Fieber erliegen. Sie war in jenen Tagen auch keineswegs dem Zauber Afrikas erlegen. Aber ich greife vor.

      Wir verließen Liverpool am 23. Dezember 1894 an Bord der Batanga, das Schiff stand wie schon auf meiner ersten Reise unter dem Kommando meines alten Freundes Kapitän Murray. Am 30. Dezember sichteten wir früh am Nachmittag den Teide, den höchsten Gipfel Teneriffas. Er zeigte sich wie gewöhnlich als reine Himmelserscheinung. Sehr viele übersehen ihn, weil sie in der Annahme, El Pico sei ein irdisches Phänomen, verzweifelt in Höhe ihrer eigenen Augen Ausschau halten und versuchen, die dichten Nebelmassen zu durchdringen, die seine Hänge am Tag meist verbergen. Dann kommt ein Freund daher und zeigt dem Neuling unbekümmert das glitzernde, weiße Dreieck nahe dem Zenit. An manchen Tagen dagegen ist der Vulkan von Meereshöhe bis hinauf zum Gipfel klar zu erkennen, imposant, wie seine 36802 Meter erwarten lassen. Die kanarischen Fischer halten dies für ein sicheres Zeichen für Regen, oder gutes Wetter, oder eine Windböe. Doch egal, ob weich und traumhaft schön in der Sonne oder melodramatisch und bizarr im Mondlicht handelt es sich um einen der schönsten Anblicke, die das menschliche Auge erblicken kann.

      Kurze Zeit später zeigte sich erst Lanzarote und schließlich Gran Canaria. Teneriffa mag die schönste der Inseln sein, aber von See aus betrachtet fällt die Entscheidung zwischen ihr und Gran Canaria schwer. An jenem Nachmittag zeichnete sich der prächtige Vulkankegel im tiefen Purpurrot bis Violett gegen einen olivgrünen Himmel ab, den ein Gürtel rosafarbener und goldglänzender Kumuluswolken vom blau glitzernden Ozean trennte. Zugleich wirkten Gran Canaria und Lanzarote am Horizont, als seien sie aus bizarren im Abendrot glänzenden Wolkenbänken geformt, die sich auf magische Weise verfestigt hatten. Die vorherrschende Farbe der Berge Gran Canarias, die sich Gipfel um Gipfel bis zum rund 1830 Meter hohen Pico de las Nieves3 aufreihen, ist gelblich-rot, und die Luft, die ihre steinigen Klüften füllt und sanfteren Hänge einhüllt, ist von strahlendem Blau.

      Unmittelbar vor der plötzlich hereinbrechenden Dunkelheit, als die Sonne eine Kurve entlang des Horizonts beschrieb, ballten sich die Wolken um die drei Inseln und gaben einen violetten Himmel frei. Als Gutenachtgruß zeichnete die Sonne ihre Konturen in glänzendem Gold nach und ließ den schneebedeckten Gipfel des Teide in sternenweißem Licht aufleuchten. Wenige Minuten später kam die Dämmerung, und als wir uns Gran Canaria näherten, schimmerte der rote Blitz des Leuchtturms auf der Isleta durch den Dunst. Noch einige Minuten später glitzerten auf Meereshöhe die unregelmäßig auf rund acht Kilometer verteilten Lichter des Hafens Puerto de la Luz und der Stadt Las Palmas.

      Wir erreichten Freetown in Sierra Leone am 7. Januar 1895 um neun Uhr morgens. Da dieser Ort der allgemeinen Öffentlichkeit lange nicht so bekannt sein dürfte wie die Kanaren4, kann ich es vielleicht riskieren, bei seiner Beschreibung etwas mehr ins Detail zu gehen. Der Hafen ist im Norden von einem langen Streifen Land geformt, der Bullamküste, und im Süden von einer Halbinsel, deren äußerster Punkt das Kap von Sierra Leone markiert. Es ist ein sandiger Sporn, an dessen Ende sich ein Leuchtturm mit unregelmäßigem Benehmen befindet. Niedrige, mit tropischem Regenwald bewachsene Hügel erheben sich über den sandigen Ufern des Kaps und entlang seiner Küste reihen sich drei Buchten aneinander, durch deren enge Einfahrten man sanfte Strände mit gelbfarbenem Sand sehen kann, die landeinwärts von Wäldern aus Baumwollgewächsen und Palmen begrenzt werden. Hier und dort erhebt sich ein riesiger Affenbrotbaum.

      Die erste dieser Buchten nennt man die Piratenbucht, die nächste ist die Englische Bucht und die dritte die Kru Bucht. Nach dem Passieren der Kru Bucht werden die bewaldeten Hügel höher und mausern sich zu den Ausläufern eines Berges, dem etwa 760 Meter hohen Sierra Leone selbst. Außer dem Sierra Leone gibt es hier aber noch einige andere Berge, am auffälligsten einen »Zuckerhut« genannten Gipfel. Von See aus betrachtet sind diese Berge wunderschön, von prächtiger Form und von einer üppigen tropischen Vegetation bedeckt. Endlos in ihren Variationen und lückenlos in ihrer Fläche wie ein Meer, scheint sie über die Hänge hinab zur Küste zu fließen, wo sie hier und dort in einer Welle aus Blüten bricht.

      Diejenigen, die es wissen sollten, sind sich denn auch einig, dass Sierra Leone am schönsten ist, wenn man es von See aus betrachtet, insbesondere wenn man dessen Hafen Richtung Heimat verlässt, und dass an dieser Stelle der Reiz des Landes – seiner Kunst, seiner Sitten wie seiner Wohnkultur – abrupt endet. Doch nach den Erfahrungen, die ich dort sammeln konnte, zögere ich nicht zu erklären, dass ich kaum irgendwo ein besseres Mittagessen genossen habe als dort. Auch dürfte es schwerfallen, auf eine angenehmere und abwechslungsreichere Art den Nachmittag zu verbringen, als in Begleitung eines gewissen irischen Proviantmeisters, der bei den kolosshaften alten schwarzen Frauen gleichermaßen bekannt wie respektiert ist, einen Spaziergang durch Freetown zu unternehmen. Man muss aber zugeben, dass es ziemlich heiß ist.

      Freetown liegt am nördlichen Fuß des Berges und zieht sich mit sehr schlichten Anlegeplätzen, Kais und Lagerhallen die Küste entlang. Die Stadt wird auch das »Liverpool Westafrikas«5