an.
»Natürlich nicht.« In ihren Augen konnte er lesen, was in ihrem Kopf vor sich ging. »Zum Glück wiederholt sich nicht immer alles. Das Schicksal schreibt viele verschiedene Bücher«, versuchte er, sie zu beruhigen.
Tatjana biss sich auf die Unterlippe und nickte. Daniels Anwesenheit beruhigte sie sichtlich.
»Es tut mir leid. Du weißt ja, dass ich normalerweise nicht so ein Weichei und schon gar nicht hysterisch bin. Aber ich hatte einfach Angst. Als meine Mutter damals …«, sie stockte, unsicher, ob sie die Wahrheit aussprechen konnte, »als meine Mutter damals ums Leben gekommen ist, sah es genauso aus. Zumindest bilde ich mir das ein.« Sie hielt inne und dachte nach. »Seltsam. Ich habe diese Bilder im Kopf, obwohl ich selbst bei dem Unfall erblindet bin. Wie kann das sein?« Erst in diesem Augenblick wurde sie dieses Rätsel gewahr.
»Möglich, dass dein Gehirn Bilder abgespeichert hat, die du in Bruchteilen von Sekunden gesehen hast, bevor du selbst verletzt wurdest.« Das war die einzige Erklärung, die Dr. Norden zu diesem Phänomen hatte, und kurz musste er an Janine und ihre Gruselgeschichte denken. Vielleicht glaubte man wirklich erst dann an diese Erscheinungen, wenn man keine passende Erklärung mehr parat hatte.
»Kann sein«, räumte Tatjana ein und konnte schon wieder lächeln.
Allmählich ging es ihr besser, und sie bot ihrem Schwiegervater in spe eine Tasse Kaffee an. Daniel überlegte kurz, entschied sich dann aber dafür, das Angebot anzunehmen, bis er ganz sicher sein konnte, dass sich Tatjana wieder gefangen hatte.
»Wie ist der Unfall überhaupt passiert?«, erkundigte er sich. »Der Regenguss war doch schon vorbei und die Sicht wieder klar. Oder?«
Die Kaffeemaschine blubberte und zischte, und Tatjana nickte.
»Marianne stand zufällig am Fenster und hat rausgeschaut. Weit und breit war niemand zu sehen. Keine Menschenseele war auf der Straße.« Sie stellte den dampfenden Kaffee auf den Tresen.
»Kein Wunder! Bei dem Wetter.« Daniel löffelte Zucker in seine Tasse und rührte um.
»Auch kein anderes Auto. Die Frau ist schnurstracks gegen den Ampelmasten gefahren. Einfach so.« Sich selbst kochte Tatjana eine heiße, extra dicke Schokolade. Süßigkeiten waren immer noch das beste Mittel, um die Nerven zu beruhigen. Davon war sie nach wie vor felsenfest überzeugt und ließ sich auch nicht mit den besten Argumenten vom Gegenteil überzeugen.
»Das heißt, dass Marianne die einzige Zeugin ist?«, fragte Dr. Norden mit Blick auf die Beamten, die sich auf den Weg zur Bäckerei machten, um dort die Zeugin zu befragen.
»Ich denke schon.« Trotz ihres eingeschränkten Sehvermögens hatte Tatjana bemerkt, dass Daniels Aufmerksamkeit für einen kurzen Moment abgelenkt worden war.
Als gleich darauf das Glöckchen über der Tür aufgeregt klingelte, ahnte sie sofort, wer sie besuchen kam.
»Aber vielleicht hat die Polizei ja andere Erkenntnisse gewonnen«, überraschte sie Daniel ein weiteres Mal mit ihrem fast unheimlichen Gespür.
»Du wirst es gleich erfahren.« Er leerte seine Tasse in einem letzten, großen Zug und stellte sie dann eigenhändig in die Spüle hinter dem Tresen. »Kann ich dich allein lassen oder soll ich bleiben? Ich würde gern in die Klinik fahren und herausfinden, wie es der Patientin geht.«
Das Lächeln, das auf Tatjanas Gesicht erschien, war dankbar.
»Danke, es geht schon wieder. Die Dosis Norden zeigt ihre Wirkung. Jetzt kann mir nichts mehr passieren!«, versprach sie und verabschiedete ihren Schwiegervater in spe mit einer Umarmung, die ihm beinahe die Luft abschnürte.
*
Unterdessen war die verunfallte Frau in der Klinik angekommen. Der Notfallarzt Dr. Weigand übernahm die Versorgung der Patientin.
»Wir bringen Sie in den Schockraum«, entschied er, nachdem er den Bericht des Rettungsarztes entgegen genommen hatte. »Ich brauche sofort Röntgen und Ultraschall. Kommt noch ein Unfallgegner?«, wandte er sich an Schwester Elena, die den Transport der Patientin in den Schockraum begleitete.
»Nein, der Sani hat gesagt, dass weit und breit nichts zu sehen war. Nur eine Frau hat den Unfall beobachtet. Offenbar ist die Patientin ohne Not einfach in die Ampel gefahren.«
»Seltsam.« Matthias Weigand kannte und schätzte die Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ »Dabei ist die Straße vor dem Café doch ziemlich belebt.«
»Bei dem Regenguss vorhin haben es wohl die meisten vorgezogen, daheim zu bleiben«, erwiderte Elena und wartete, bis sich die automatischen Türen des Schockraums öffneten.
»Regenguss?«, wunderte sich Dr. Weigand.
Kritisch zog Elena eine Augenbraue hoch.
»Wenn Sie das Gewitter nicht mitbekommen haben, sind Sie definitiv überarbeitet«, stellte sie fest, konzentrierte sich dann aber auf die Patientin. Auf Matthias’ Kommando hoben zwei Pfleger sie von der Rollliege auf den Behandlungstisch.
Die Patientin, eine Frau in den Fünfzigern, stöhnte leise.
»Sie wacht auf!«, bemerkte Schwester Elena, und der Arzt beugte sich über sie, als sich Dr. Daniel Norden zu ihnen gesellte.
Er grüßte mit einem Lächeln in die Runde.
»Ich hab die Erstversorgung übernommen und wollte mal nach ihr sehen«, erklärte er sein Auftauchen, und Matthias nickte, ehe er sich wieder der Patientin zuwandte.
»Können Sie mich hören? Mein Name ist Dr. Weigand. Sie hatten einen Autounfall und sind jetzt in der Behnisch-Klinik.« Er sprach langsam und deutlich, um sicherzugehen, dass seine Worte auch ankamen.
Die Frau blinzelte und sah sich um, so gut es mit der Halskrause möglich war. Es war offensichtlich, dass sie Angst hatte.
»Wo sind sie? Die Männer … sie wollten mich umbringen.« Ihr Atem ging schnell, und es war klar, dass ihre Panik echt war.
Dr. Weigand, Schwester Elena und Daniel Norden tauschten vielsagende Blicke.
»Wer wollte Sie umbringen?«, erkundigte sich Daniel und trat auf die andere Seite des Tisches.
Die Augen der Frau folgten ihm.
»Die Männer. Sie haben mich verfolgt und waren direkt hinter mir.« Es war ihr anzusehen, dass sie am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. »Deshalb war ich unaufmerksam und bin gegen die Ampel gefahren.«
»Beruhigen Sie sich. Sie stehen unter Schock.« Daniel legte eine Hand auf den Arm der Patientin. In ihrem Zustand konnte jede Aufregung schaden. »Wollen Sie uns zuerst mal Ihren Namen sagen?«
»Moebius. Heike Moebius«, ließ die Antwort nicht lange auf sich warten.
»Gut, Frau Moebius, wir werden Sie jetzt untersuchen, bevor wir die Schnittwunden nähen. Mit Sicherheit werden Sie ein paar Tage hier in der Klinik verbringen«, übernahm Dr. Weigand das Wort. »Gibt es jemanden, den wir informieren sollen?«
Zuerst hatten die Ärzte den Eindruck, Frau Moebius hätte sie nicht verstanden. Fragend blickte sie von einem zum anderen, gab aber schließlich doch eine Antwort.
»Nein … niemanden. Ich … ich komme nicht aus München.«
Daniel schüttelte den Kopf.
»Das macht doch nichts. Sagen Sie einfach, wen wir verständigen sollen.«
Wieder stiegen Tränen in Heikes Augen.
»Ich habe niemanden mehr.« Sie fixierte Dr. Norden. Offenbar gehörte ihm ihr Vertrauen. »Wurden die Männer verhaftet? Ich meine die, die mich verfolgt haben?«
»Soweit ich weiß, noch nicht«, antwortete er. »Die Polizei wird sicher bald mit Ihnen sprechen wollen. Aber zuerst versorgen wir jetzt mal Ihre Wunden und machen die nötigen Untersuchungen.«
Schwester Elena bemerkte, wie der Atem der Patientin schon wieder schneller ging.
»Keine