Джозеф Конрад

Gesammelte Werke von Joseph Conrad


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es geht ihm schlecht, sehr schlecht!‹ Ich richtete mein Glas auf das Haus. Auch dort waren keine Lebenszeichen zu sehen, aber das zerstörte Dach war da und die lange Lehmmauer, die über das Gras emporragte, mit drei kleinen Fensteröffnungen darin, von denen nicht zwei von der gleichen Größe waren; all das war mir zum Greifen nahegerückt. Und dann machte ich eine hastige Bewegung, und einer der übriggebliebenen Pfosten des verschwundenen Zaunes sprang in das Sehfeld meines Glases. Ihr erinnert euch ja, daß ich euch sagte, wie mich aus der Ferne gewisse Ansätze zu Verzierungen überrascht hatten, die, angesichts der sonstigen Verkommenheit des Ortes, auffallend genug wirkten. Nun konnte ich es plötzlich aus größter Nähe sehen, und die erste Folge war, daß ich wie unter einem Schlag den Kopf zurückwarf. Dann ging ich sorgfältig mit meinem Glas einen Pfosten nach dem anderen ab und sah meinen Irrtum ein. Diese runden Kugeln waren nicht Verzierungen, sondern Wahrzeichen. Sie waren ausdrucksvoll und überwältigend, erschreckend und ergreifend – Nahrung für allerlei Gedanken und auch für die Geier, wenn irgendwelche vom Himmel heruntergesehen hätten; jedenfalls aber für alle Ameisen, die sich die Mühe nehmen wollten, den Pfosten hinaufzuklettern. Sie wären sogar noch eindrucksvoller gewesen, diese Köpfe auf den Pfählen, hätten sie die Gesichter nicht dem Haus zugekehrt. Nur einer, der erste, den ich erkannt hatte, sah zu mir her. Ich war nicht so entsetzt wie ihr wohl denken werdet. Mein Zurückzucken war weiter nichts als eine Regung der Überraschung gewesen. Ich hatte erwartet, eine geschnitzte Holzkugel dort oben zu finden. Nun wandte ich mich überlegt dem ersten der Köpfe wieder zu – und da war er also, schwarz, vertrocknet, eingesunken, mit geschlossenen Augenlidern – ein Kopf, der auf der Spitze des Zaunpfahles zu schlafen und da die verschrumpften Lippen die weißen Zähne entblößten, auch zu lächeln schien, ein unaufhörliches Lächeln über einen endlos heiteren Traum, der den ewigen Schlummer durchzog.

      Ich verrate keine Geschäftsgeheimnisse. Tatsächlich sagte der Direktor später, daß die Methoden des Herrn Kurtz den Distrikt ruiniert hätten. Sie bewiesen nur, daß es Herr Kurtz an Hemmungen bei der Befriedigung seiner verschiedenen Lüste fehlen ließ, daß ihm kurz und gut etwas abging, irgendeine Kleinigkeit, die im äußersten Notfall unter seinem wundervollen Redefluß nicht zu finden war. Ob er selbst sich des Mangels bewußt war, kann ich nicht sagen. Ich denke, das Bewußtsein kam ihm ganz zum Schluß – im letzten Augenblick. Die Wildnis aber hatte den Mangel schnell gemerkt und hatte an ihm für den verrückten Einbruch eine furchtbare Rache genommen. Ich denke mir, sie hat ihm Dinge über ihn selbst zugeflüstert, die er nicht wußte, Dinge, von denen er keinen Begriff hatte, bis er mit der großen Einsamkeit zu Rate gegangen war – und dieses Flüstern hatte sich als unwiderstehlich und bezaubernd erwiesen. Es fand lauten Widerhall in ihm, weil er innerlich hohl war … Ich setzte das Glas ab, und der Kopf, der nahe genug zu sein schien, daß ich hätte mit ihm reden können, schien im Augenblick in unerreichbare Fernen zurückzuschnellen.

      Der Bewunderer des Herrn Kurtz schien ein wenig bestürzt. Mit hastiger, deutlicher Stimme begann er mir zu versichern, er habe es nicht gewagt, diese Symbole herunterzunehmen. Die Eingeborenen fürchtete er nicht. Die Häuptlinge kamen jeden Tag, um Herrn Kurtz zu sehen. Sie krochen vor ihm … ›Ich will nichts von dem Zeremoniell wissen, das für das Erscheinen vor Herrn Kurtz vorgeschrieben ist‹, brüllte ich. Merkwürdig genug überkam mich das Gefühl, daß solche Einzelheiten unerträglicher sein mußten, als der Anblick der Köpfe, die dort auf den Zaunpfosten unter Herrn Kurtz’ Fenster dörrten. Denn schließlich war dieser Anblick nur wild, während mich die kurze Andeutung mit einem Schlag in den lichtlosen Bereich letzter Schrecken versetzt zu haben schien, wo reine, unverworrene Wildheit eine wahre Erlösung bedeutete; denn sie war ja etwas, was ganz offenbar ein Recht darauf hatte, im Sonnenschein zu bestehen. Der junge Mann sah mich überrascht an. Ich nehme an, es kam ihm nicht zum Bewußtsein, daß mir jede Verehrung für Herrn Kurtz fernlag. Er vergaß, daß ich keines der wundervollen Selbstgespräche angehört hatte, über – was war es doch –, über Liebe, Gerechtigkeit, Lebensführung und was sonst noch alles. Wenn es darauf ankam, vor Herrn Kurtz auf dem Bauch zu kriechen, dann tat er das besser als der wildeste Wilde. Ich hätte keinen Begriff von den Lebensverhältnissen, sagte er: diese Köpfe seien die Köpfe von Rebellen. Ich empörte ihn aufs äußerste, indem ich lachte. Rebellen! Was würde ich wohl noch als nächste Erklärung zu hören bekommen? Es hatte Feinde gegeben, Verbrecher, Arbeiter – und diese waren Rebellen. Diese rebellischen Köpfe sahen mir auf ihren Pfählen recht unterwürfig aus. ›Sie wissen nicht, wie ein solches Leben einen Mann wie Kurtz angreift‹, rief Kurtz’ letzter Schüler. ›Nun, und Sie?‹ sagte ich. – ›Ich bin ein einfacher Mann. Ich habe keine großen Gedanken. Ich verlange nichts von irgend jemand. Wie können Sie mich vergleichen …?‹ Seine Gefühle waren zu stark für Worte, und plötzlich klappte er zusammen. ›Ich verstehe es nicht‹, stöhnte er. ›Ich habe mein Bestes getan, um ihn am Leben zu erhalten, und das genügt. Ich hatte kein Geschick dafür, ich habe keine besonderen Fähigkeiten. Seit Monaten gibt es hier keinen Tropfen Medizin und keinen Bissen Krankenkost mehr. Man hat ihn schamlos im Stich gelassen. Einen solchen Mann, mit solchen Gedanken. Schamlos! Schamlos! Ich – ich habe die letzten zehn Nächte nicht geschlafen…‹

      Seine Stimme verlor sich in dem stillen Abend. Während wir sprachen, waren die langen Schatten des Waldes über den Himmel herabgeglitten, hatten sich weit über die verfallene Wohnstätte und über die Reihe der Zaunpfähle mit ihren Wahrzeichen erstreckt. Alles das lag im Düstern, während wir unten am Strom noch Sonne hatten und die Stromstrecke von der Lichtung abwärts sich grell glitzernd gegen die Schattenmassen oben und unten abhob. Keine lebende Seele war am Ufer zu sehen. Die Büsche regten sich nicht.

      Plötzlich tauchte um die Ecke des Hauses herum eine Gruppe von Leuten auf, als wären sie aus der Erde emporgewachsen. Sie wateten bis zur Hüfte durch das Gras, in einem gedrängten Haufen, und trugen eine notdürftig zurechtgezimmerte Bahre in ihrer Mitte. Augenblicklich gellte ein Schrei durch die leere Landschaft, dessen Schrille die Luft zerriß wie ein scharfer Pfeil, der mitten ins Herz der Landschaft flog; und wie durch Zauberschlag ergossen sich Ströme menschlicher Wesen – nackter menschlicher Wesen – mit Speeren in den Händen, mit Bogen, Schilden, mit wilden Blicken und heftigen Bewegungen aus dem dunkelblickenden, nachdenklichen Wald in die Lichtung. Die Büsche rauschten, das Gras wallte eine Zeitlang, und dann stand alles achtsam und unbeweglich still. ›Nun, wenn er ihnen jetzt nicht das rechte Wort sagt, dann ist es um uns alle geschehen‹, sagte der Russe an meinem Ellbogen. Die paar Leute mit der Tragbahre waren auch wie versteinert auf dem halben Wege zum Dampfer stehengeblieben. Ich sah, wie der Mann auf der Bahre sich mühsam aufsetzte und über die Schultern der Träger den Arm emporstreckte. ›Hoffen wir, daß der Mann, der so gut über Liebe im allgemeinen zu reden versteht, einen besonderen Beweisgrund finden wird, um uns diesmal zu retten‹, sagte ich. Ich litt schwer unter der unsinnigen Gefahr unserer Lage, als wäre es eine entehrende Notwendigkeit gewesen, von der Gnade dieses grausamen Gespenstes abhängig zu sein. Ich konnte keinen Ton hören, sah aber durch mein Glas den dünnen Arm befehlend ausgestreckt, sah den Unterkiefer, der sich bewegte und die Augen des Gespenstes, die tief aus dem knochigen, ruckweise nickenden Kopf leuchteten. Kurtz – Kurtz – das ist im Deutschen ein Name, wie auch ein Eigenschaftswort, nicht wahr? Nun also, der Name war so wahr, wie alles sonst in seinem Leben – und seinem Sterben. Der Mann schien mindestens sieben Fuß lang zu sein. Seine Decke war abgeglitten, und der Körper bot sich erbarmungswürdig dar, wie aus einem Leichentuch herausgeschält. Ich konnte sehen, wie heftig seine Rippen zitterten, seine Armknochen bebten. Es sah aus, als schüttelte ein beseeltes Bildnis des Todes, aus altem Elfenbein, gespenstisch drohend die Hand gegen eine reglose Menge von Menschen, die aus dunkler, glänzender Bronze gegossen waren. Ich sah ihn weit den Mund öffnen – es gab ihm einen unheimlichen, gefräßigen Ausdruck, als hätte er die ganze Luft, die ganze Erde, alle die Männer vor ihm verschlingen wollen. Eine tiefe Stimme klang schwach bis zu mir. Offenbar brüllte er. Plötzlich fiel er zurück. Die Bahre schwankte, während die Träger wieder vorwärtsschritten, und fast zur gleichen Zeit bemerkte ich, daß die Schar der Wilden fast ohne sichtbare Rückzugsbewegung verschwand, als hätte der Urwald, der diese Wesen so plötzlich ausgeworfen hatte, sie auch wieder eingesogen, so wie man die Luft in einem tiefen Zuge einatmet.

      Einige der Pilger hinter der Bahre trugen seine Waffen – zwei Schrotflinten, eine schwere Büchse und einen leichten Repetierkarabiner – die Donnerkeile dieses kläglichen Zeus.