Джозеф Конрад

Gesammelte Werke von Joseph Conrad


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bekümmertes Haupt, als wäre sie stolz auf ihren Kummer, als wollte sie sagen: ›Ich, ich allein weiß um ihn zu trauern, wie er es verdient.‹ Noch während wir uns die Hände schüttelten, kam ein Ausdruck so furchtbarer Trostlosigkeit über ihr Gesicht, daß ich sie als eines der Geschöpfe erkannte, die nicht zum Spielzeug der Zeit geboren sind. Für sie war er erst gestern gestorben – nein, in dieser selben Minute. Ich sah sie und ihn im gleichen Augenblick – seinen Tod und ihren Kummer – ich sah ihren Kummer im Augenblick seines Todes. Versteht ihr das? Ich sah sie zugleich, ich hörte sie zugleich. Sie hatte mit einem tiefen Atemzug gesagt: ›Ich bin übriggeblieben.‹ Mit dieser verzweifelten Klage vermengt, glaubten meine gespannten Ohren deutlich das letzte Flüstern zu hören, das seine ewige Verdammnis anzeigte. Ich fragte mich, was ich da tat, und hatte dabei ein Gefühl von Panik, als hätte ich mich an einen Ort gewagt, wo grausame, sinnlose Mysterien abgehalten wurden, denen kein menschliches Wesen beiwohnen durfte. Sie forderte mich auf, Platz zu nehmen. Wir setzten uns. Ich legte das Paket langsam auf den kleinen Tisch und sie legte die Hand darüber … ›Sie kannten ihn gut‹, murmelte sie nach einem kurzen und traurigen Schweigen.

      ›Die Vertrautheit bildet sich da draußen schnell heraus‹, sagte ich. ›Ich kannte ihn so gut, wie ein Mann überhaupt einen andern kennen kann.‹

      ›Und Sie bewunderten ihn‹, sagte sie. ›Es war unmöglich, ihn zu kennen, ohne ihn zu bewundern, nicht wahr?‹

      ›Er war ein hervorragender Mensch‹, sagte ich unsicher. Dann fuhr ich unter dem eindringlichen Starren ihres Blickes, der nach weiteren Worten auf den Lippen zu spähen schien, fort: ›Es war unmöglich, ihn nicht …‹

      ›Zu lieben‹, ergänzte sie hastig, so daß ich bestürzt schwieg. ›Wie wahr! wie wahr! Wenn Sie aber bedenken, daß niemand ihn so gut kannte, wie ich! Ich besaß sein kostbares Vertrauen. Ich kannte ihn am besten.‹

      ›Sie kannten ihn am besten‹, wiederholte ich. Und vielleicht tat sie das. Doch mit jedem Wort, das gesprochen wurde, verdüsterte sich der Raum mehr und mehr, und nur ihre Stirn, glatt und weiß, blieb von dem unauslöschlichen Licht von Glaube und Liebe erhellt.

      ›Sie waren sein Freund‹, fuhr sie fort. ›Sein Freund‹, wiederholte sie ein wenig lauter. ›Sie müssen es gewesen sein, wenn er Ihnen dies gegeben und Sie zu mir geschickt hat. Ich fühle, daß ich zu Ihnen sprechen kann und, oh! Ich muß sprechen. Ich möchte, daß Sie – Sie, der sein letztes Wort gehört hat, wissen, daß ich seiner wert war … Es ist nicht Stolz … Jawohl! ich bin stolz darauf, zu wissen, daß ich ihn besser verstand als sonst jemand auf der Erde – das hat er mir selbst gesagt. Und seit seine Mutter tot ist, habe ich niemand gehabt, niemand, mit dem …‹

      Ich hörte zu. Das Dunkel vertiefte sich. Ich war nicht einmal sicher, ob er mir das rechte Paket gegeben hatte. Ich glaube sogar, er wollte, daß ich auf ein ganz anderes Bündel seiner Papiere aufpassen sollte, das ich nach seinem Tode den Direktor unter der Lampe durchblättern sah. Und das Mädchen sprach, und ihr Schmerz löste sich in der Gewißheit meiner Zuneigung; sie sprach, wie durstige Menschen trinken. Ich hatte gehört, daß ihre Verlobung mit Kurtz von ihrer Familie mißbilligt worden war. Er war nicht reich genug gewesen, oder sonst etwas. Und tatsächlich weiß ich nicht, ob er nicht zeit seines Lebens arm war. Er hatte mir einigen Grund zu der Annahme gegeben, daß es die Auflehnung gegen seine verhältnismäßige Armut gewesen war, die ihn dort hinausgeführt hatte.

      ›… Wer wäre nicht sein Freund gewesen, der ihn je sprechen gehört hat‹, sagte sie. ›Er zog die Menschen durch das Beste in ihnen an sich.‹ Sie sah mir fest ins Gesicht. ›Das ist die Gabe der ganz Großen‹, fuhr sie fort, und ihre leise Stimme schien von all den anderen Klängen getragen, voll von Geheimnis, Verzweiflung und Kummer, die ich je gehört hatte – dem Rauschen des Stromes, dem Seufzen der Bäume im Sturm, dem Murmeln einer aufgeregten Menge, unverständlichen Worten, kaum noch hörbar, von weit weg gerufen, dem Flüstern einer Stimme, die von jenseits der Schwelle zur ewigen Finsternis sprach. ›Aber Sie haben ihn ja gehört! Sie wissen es!‹ rief sie.

      ›Jawohl, ich weiß es‹, sagte ich, etwas wie Verzweiflung im Herzen, beugte mich aber dabei vor dem Glauben, der in ihr war, vor dem großen, rettenden Trugbild, das mit unirdischer Glut durch die Dunkelheit leuchtete, durch die siegreiche Dunkelheit, vor der ich sie nicht hätte schützen können, vor der ich mich selbst nicht einmal schützen konnte.

      ›Welch ein Verlust für mich – für uns!‹ verbesserte sie sich mit herrlicher Großmut. Dann fügte sie murmelnd hinzu ›für die Welt‹. Im letzten Schimmer des Zwielichts konnte ich das Glitzern ihrer Augen sehen, die voll von Tränen waren – von Tränen, die nicht fallen wollten.

      ›Ich bin sehr glücklich gewesen – richtig begnadet – sehr stolz‹, fuhr sie fort. ›Zu glücklich, eine kleine Weile lang. Und nun bin ich unglücklich – fürs Leben.‹

      Sie stand auf; ihr blendendes Haar schien den letzten Rest von Licht in goldenem Leuchten aufzufangen. Auch ich erhob mich.

      ›Und von all dem‹, fuhr sie traurig fort, ›von allen seinen Hoffnungen, seiner Größe, seinem edlen, vornehmen Herzen bleibt nichts übrig – nichts als eine Erinnerung. Sie und ich …‹

      ›Wir werden immer an ihn denken‹, sagte ich hastig.

      ›Nein‹, rief sie. ›Es ist unmöglich, daß all dies verloren sein – daß ein solches Leben geopfert worden sein sollte, um nichts hinter sich zulassen als Trauer. Sie wissen, daß er große Pläne hatte. Auch ich wußte davon. – Ich konnte sie vielleicht nicht verstehen – doch andere wußten davon. Etwas muß übrigbleiben. Seine Worte zumindest sind nicht gestorben.‹

      ›Seine Worte werden bleiben‹, sagte ich.

      ›Und sein Beispiel‹, flüsterte sie zu sich selbst. ›Die Menschen sahen zu ihm auf, seine Güte leuchtete aus jeder seiner Handlungen, sein Beispiel …‹

      ›Das ist ›wahr‹, sagte ich, ›auch sein Beispiel. Jawohl, sein Beispiel. Ich vergesse das.‹

      ›Ich aber nicht. Ich kann es – kann es nicht glauben – jetzt noch nicht. Ich kann nicht glauben, daß ich ihn nie wieder sehen soll, daß niemand ihn je wieder sehen soll. Nie, niemals wieder.‹

      Sie streckte die Arme aus wie nach einer zurückweichenden Gestalt, streckte sie schwarz, mit gefalteten, bleichen Händen quer durch den schmalen, mattschimmernden Lichtstreifen des Fensters. Ihn nie wieder sehen! Ich sah ihn eben damals deutlich genug. Ich werde dieses beredte Gespenst sehen, solange ich lebe, werde auch sie sehen, einen tragischen, vertrauten Schatten, sie, die mich in dieser Gebärde an eine andere tragische Gestalt erinnerte; an die andere, die, mit unwirksamen Zaubermitteln bedeckt, nackte, braune Arme über das höllische Glitzern des Stromes, des Stromes der Finsternis, ausgestreckt hatte. Sie sagte plötzlich sehr leise: ›Er starb, wie er gelebt hatte.‹

      ›Sein Ende‹, sagte ich, während sich ein dumpfer Ärger in mir regte, ›war in jeder Hinsicht seines Lebens würdig.‹

      ›Und ich war nicht bei ihm‹, murmelte sie. Mein Ärger machte einem Gefühl endlosen Mitleids Platz.

      ›Alles, was getan werden konnte …‹, murmelte ich.

      ›Oh, aber ich glaubte stärker an ihn als irgend jemand sonst auf Erden – mehr als seine eigene Mutter, mehr als er selbst. Er brauchte mich! Mich! Ich hätte jeden Seufzer, jedes Wort, jedes Zeichen, jeden Blick wie einen Schatz aufbewahrt.‹

      Ich fühlte es wie eine eisige Hand auf meiner Brust. ›Nicht!‹ sagte ich mit erstickter Stimme.

      ›Vergeben Sie mir. Ich – ich – habe – lange schweigend getrauert, schweigend … Sie waren bei ihm – bis zuletzt. Ich denke an seine Einsamkeit. Niemand ihm nahe, um ihn zu verstehen, wie ich ihn verstanden hätte. Vielleicht auch niemand, um zu hören …‹

      ›Bis ganz zuletzt‹, sagte ich bebend. ›Ich hörte seine letzten Worte …‹ Damit brach ich erschreckt ab.

      ›Wiederholen Sie sie‹, sagte sie in größtem Schmerz. ›Ich will – ich will – etwas – etwas, um –