Джозеф Конрад

Gesammelte Werke von Joseph Conrad


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Im Schatten vielleicht – aber sie regiert. Und alle Wissenschaft muß schließlich in der Wissenschaft des Heilens gipfeln – nicht der Schwachen, sondern der Starken. Die Menschheit will leben – leben.«

      »Menschheit«, bemerkte der Professor mit einem selbstbewußten Glitzern seiner stahlgefaßten Brillen. »Die Menschheit weiß nicht, was sie will.«

      »Aber du weißt es«, grunzte Ossipon. »Eben vorher hast du nach Zeit – Zeit gejammert. Nun gut, die Ärzte werden dir Zeit verschaffen, wenn du etwas taugst. Du nennst dich selbst einen von den Starken – weil du in deiner Tasche Sprengstoff genug herumträgst, um dich selbst und, sagen wir, zwanzig andere Leute ins Jenseits zu befördern. Aber das Jenseits ist ein verdammtes Loch. Du brauchst Zeit. Du – wenn du einen Mann träfst, der dir unter Gewähr zehn Jahre Zeit verschaffen könnte, dann würdest du ihn deinen Meister nennen.«

      »Mein Wahlspruch ist: Kein Gott! Kein Meister!« sagte der Professor gemessen, während er sich zum Aussteigen anschickte.

      Ossipon folgte ihm. »Warte nur, bis du flach auf dem Rücken liegst, nach Ablauf deiner Zeit«, gab er zurück und sprang nach dem anderen vom Trittbrett ab. »Deines elenden, schäbigen, dreckigen Bißchens Zeit«, fuhr er fort, während er die Straße überquerte und auf den Bürgersteig hüpfte.

      »Ossipon, ich glaube doch, daß du ein Schwindler bist«, sagte der Professor und stieß gewandt die Tür des Silenus auf. Als sie sich an einem kleinen Tisch eingerichtet hatten, entwickelte er diesen freundschaftlichen Gedanken weiter. »Du bist nicht einmal Arzt. Aber du bist spaßhaft. Deine Vorstellung einer Menschheit, die in ihrer Gesamtheit die Zunge herausstreckt und von Pol zu Pol auf das Geheiß einiger ernsthafter Witzbolde Pillen nimmt, ist ihres Propheten würdig! Prophet! Wozu über das nachdenken, was sein wird?« Er hob sein Glas. »Auf die Zerstörung von allem, was ist«, sagte er ruhig.

      Er trank und fiel in sein merkwürdiges Schweigen zurück. Der Gedanke an eine Menschheit, so zahlreich wie der Sand am Meer, so unzerstörbar und schwer zu behandeln, bedrückte ihn. Der Krach der platzenden Bomben verlor sich in der Unzählbarkeit der Körner ohne Widerhall. Diese Verloc-Sache zum Beispiel – wer dachte noch daran?

      Ossipon zog plötzlich, als folgte er einem geheimen Antrieb, ein kleines, zusammengelegtes Zeitungsblatt aus der Tasche. Der Professor hob bei dem Rascheln den Kopf.

      »Was ist’s mit der Zeitung? Steht etwas darin?« fragte er.

      Ossipon starrte ihn an wie ein überraschter Schlafwandler.

      »Nichts. Gar nichts. Das Ding ist zehn Tage alt. Ich habe es in meiner Tasche vergessen, glaube ich.«

      Er warf das alte Ding aber nicht weg. Bevor er es wieder in die Tasche steckte, warf er einen verstohlenen Blick auf die letzten Zeilen eines Abschnitts. Die lauteten so: »Ein undurchdringliches Geheimnis scheint für immer über dieser Tat des Irrsinns oder der Verzweiflung walten zu sollen.«

      Das waren die Schlußworte einer kurzen Nachricht mit dem Titel »Selbstmord einer Dame vom Bord eines Kanaldampfers aus.« Dem Genossen Ossipon waren die Schönheiten des Zeitungsstils wohl vertraut. »Ein undurchdringliches Geheimnis scheint für immer …« Er wußte jedes Wort auswendig. »Ein undurchdringliches Geheimnis …« Und der muskelstarke Anarchist ließ den Kopf auf die Brust hängen und verfiel in endlose Träumerei.

      Er war durch diese Sache an der Wurzel seines Daseins bedroht. Er konnte keiner seiner vielen Eroberungen, die er auf Bänken im Kensington-Garten oder nächst den Parkgittern traf, nachgehen, ohne fürchten zu müssen, daß er mit einmal in die Erzählung vom Schleier eines undurchdringlichen Geheimnisses verfallen könnte … Er fühlte sich wissenschaftlich beunruhigt bei dem Gedanken, daß der Irrsinn zwischen diesen Zeilen auf ihn lauern könnte. »Für immer über…« Es war wie eine Besessenheit, eine Marter. In letzter Zeit hatte er verschiedenen dieser Verabredungen fernbleiben müssen, die auf grenzenloses Vertrauen in die Sprache des Gefühls und der männlichen Zärtlichkeit gestimmt waren. Die Vertrauensseligkeit verschiedener Klassen von Frauen trug zur Befriedigung seiner Selbstliebe bei und verschaffte ihm einige Mittel. Er brauchte sie zum Leben. Daran lag es. Wenn er nicht länger damit fortfahren konnte, so lief er Gefahr, an Seele und Leib zu verhungern … »Diese Tat des Irrsinns oder der Verzweiflung.«

      »Ein undurchdringliches Geheimnis« mußte allerdings »für immer walten«, soweit die Menschheit in Betracht kam. Wie aber, wenn er allein von allen Menschen das verfluchte Wissen nie loswerden konnte? Und das Wissen des Genossen Ossipon war so gründlich, wie es der Zeitungsmann nur liefern konnte, bis zur Schwelle des »undurchdringlichen Geheimnisses«, das »für immer…«

      Genosse Ossipon war gut unterrichtet. Er wußte, was der Matrose vom Deckdienst gesehen hatte: »Eine Dame in schwarzem Kleid und schwarzem Schleier wanderte um Mitternacht am Kai entlang. ›Fahren Sie mit, Madame?‹ hatte er sie aufmunternd gefragt. ›Hier, bitte!‹ Sie schien nicht zu wissen, was sie tun sollte. Er half ihr an Bord. Sie schien schwach zu sein.«

      Er wußte auch, was die Aufwärterin gesehen hatte: Eine Dame in Schwarz, mit weißem Gesicht, die mitten in der leeren Damenkajüte stand. Die Aufwärterin redete ihr zu, sich niederzulegen. Die Dame schien jedem Gespräch durchaus abgeneigt und schwer bekümmert. Als nächstes stellte die Aufwärterin fest, daß die Dame die Kajüte verlassen hatte. Die Aufwärterin ging dann an Deck, um nach ihr zu sehen, und Genosse Ossipon war unterrichtet, daß die gute Frau die unglückliche Dame in einem der Liegestühle fand. Ihre Augen waren offen, doch antwortete sie auf nichts von alledem, was man ihr sagte. Sie schien sehr krank. Die Aufwärterin holte den Oberwärter, und die beiden Leute standen zu Seiten des Liegestuhls und berieten über den außergewöhnlichen Fahrgast. Sie unterhielten sich in hörbarem Flüsterton (denn sie schien nichts zu hören) von St. Malo und dem Konsul dort und davon, daß man ihre Familie in England verständigen würde. Dann gingen sie an die Vorbereitungen, um die Frau hinunterzuschaffen, denn soviel man an ihrem Gesicht sehen konnte, lag sie tatsächlich im Sterben. Genosse Ossipon aber wußte, daß hinter jener weißen Maske der Verzweiflung eine starke Lebenskraft gegen Schrecken und Verzweiflung stritt, eine Liebe zum Leben, die der wütenden Angst widerstehen konnte, die zum Mord treibt, und der blinden, irren Angst vor dem Galgen. Er wußte das. Die Aufwärterin aber und der Oberwärter wußten nichts, als daß die Dame in Schwarz, als sie sie nach kaum fünf Minuten holen kamen, nicht mehr in dem Deckstuhl lag. Sie war nirgends. Sie war fort. Es war fünf Uhr morgens, und es war auch kein Unfall. Eine Stunde später fand einer der Matrosen einen Ehering, der auf dem Stuhl gelegen hatte. Er war an einer feuchten Stelle des Holzes haften geblieben und war durch seinen Glanz dem Mann aufgefallen. Auf der Innenseite war ein Datum eingraviert: 24. Juni 1..9. »Ein undurchdringliches Geheimnis scheint für immer über dieser Tat des Irrsinns oder der Verzweiflung walten zu sollen…«

      Und Genosse Ossipon hob sein gebeugtes Haupt, so heiß geliebt von vielen schlichten Frauen dieser Insel, apollogleich im Glänze seines Haarbusches.

      Der Professor war inzwischen unruhig geworden. Er erhob sich.

      »Bleib«, sagte Ossipon hastig. »Hör’ einmal. Was weißt du von Irrsinn und Verzweiflung?«

      Der Professor fuhr mit der Zungenspitze über seine trockenen Lippen und sagte lehrhaft:

      »So etwas gibt’s nicht! Mit aller Leidenschaft ist es jetzt vorbei! Die Welt ist mittelmäßig, lahm, ohne Kraft. Und Irrsinn und Verzweiflung sind eine Kraft. Und Kraft ist ein Verbrechen in den Augen der Narren, der Schwachen und Dummen, die die Welt regieren. Du bist mittelmäßig. Verloc, dessen Angelegenheit die Polizei so geschickt niedergeschlagen hat, war mittelmäßig. Die Polizei hat ihn umgebracht. Er war mittelmäßig. Alle sind mittelmäßig. Irrsinn und Verzweiflung! Gib mir die als Hebel, und ich will die Welt bewegen. Ossipon, ich verachte dich von Herzen. Du bist sogar unfähig, das zu begreifen, was die Fettgemästeten ein Verbrechen nennen würden. Du hast keine Kraft.« Er brach ab und lächelte höhnisch unter dem stolzen, wilden Glitzern seiner Brillengläser hervor.

      »Und laß dir sagen, daß die kleine Erbschaft, die du angeblich gemacht hast, deinen Verstand nicht geschärft hat. Du sitzest bei deinem Bier wie eine Vogelscheuche. Leb’ wohl.«