zu dem höflichen Kutscher.
Er konnte gehen und ging. Er überquerte die Brücke. Späterhin sahen die Türme der Abbey in ihrer massigen Unbeweglichkeit seinen blonden Haarbüschel unter den Lampen vorüberstreichen. Auch die Lichter von Victoria und Sloane Square und die Parkgitter. Wiederum befand sich Genosse Ossipon auf einer Brücke. Der Strom, wunderbar in seinem Gemenge von ruhigen Schatten und tanzenden Lichtern, die sich weit weg in stumme Nacht verloren, nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Er stand lange da und sah über die Brüstung weg. Vom Glockenturm über seinem gebeugten Haupt hallte ein dröhnender Schlag. Er sah nach dem Zifferblatt… Halb ein Uhr, und eine stürmische Nacht im Kanal …
Genosse Ossipon ging weiter. Seine kräftige Gestalt war in dieser Nacht in verschiedenen Bezirken der ungeheuren Stadt zu sehen, die auf einem Teppich von Schmutz unter der Decke rauhen Nebels ihren bösen Schlaf schlief. Man konnte ihn sehen, wie er die Straßen ohne Leben und Lärm überquerte, oder sich zwischen den endlosen Doppelreihen schattenhafter Häuser verlor, die neben den Linien von Gaslampen leere Hauptstraßen begrenzten. Er ging über Rondelle und Plätze, durch einförmige Straßen mit unbekannten Namen, wo sich der Staub der Menschheit träge und hoffnungslos ansetzt, jenseits vom Strom des Lebens. Plötzlich bog er in einen schmalen Vorgarten mit schäbigem Graswuchs ein und betrat ein kleines, rußiges Haus, dessen Türe er mit einem Drücker geöffnet hatte.
Er warf sich ganz angezogen auf sein Bett und lag eine volle Viertelstunde reglos. Dann setzte er sich plötzlich auf, zog die Knie hoch und umklammerte seine Beine. Das erste Morgengrauen fand ihn mit offenen Augen in der gleichen Stellung. Dieser Mann, der so lange, so weit, so ziellos gehen konnte, ohne ein Zeichen von Ermüdung, konnte auch stundenlang reglos sitzen bleiben, ohne ein Glied oder auch nur ein Augenlid zu regen. Als aber die späte Sonne ihre Strahlen in das Zimmer schickte, löste er die Hände und fiel auf das Kissen zurück. Seine Augen starrten nach der Decke. Und plötzlich schlossen sie sich. Genosse Ossipon schlief im Sonnenschein.
XIII
Das ungeheure eiserne Vorhängeschloß an der Tür des Tellerschranks war der einzige Gegenstand im Raum, auf dem das Auge verweilen konnte, ohne an dem elenden Mangel an Formschönheit und an dem schäbigen Material Anstoß nehmen zu müssen. Dieser Tellerschrank hatte sich im laufenden Geschäft wegen seiner edlen Ausmaße als unverkäuflich erwiesen und war darum dem Professor von einem Matrosentrödler im Osten Londons um wenige Pence überlassen worden. Das Zimmer war groß, sauber, ehrbar und arm. Von jener Armut, die auf die Unterdrückung jeder Lebensnotdurft, bis auf das trockene Brot, schließen läßt. Die Wände zeigten die glatte Fläche der giftiggrünen Tapete mit untilgbaren Schmutzflecken da und dort, deren größte wie verschwommene Landkarten unbewohnter Erdteile aussahen.
An einem Brettertisch neben dem Fenster saß der Genosse Ossipon, den Kopf zwischen beiden Fäusten. Der Professor, in seinem einzigen, bös vertragenen Anzug, hatte die Hände tief in die überanstrengten Taschen seiner Jacke geschoben und schleppte auf dem Boden ein Paar unglaublich ausgetretener Pantoffel herum. Er erzählte seinem muskelstarken Gast von einem Besuch, den er neulich dem Apostel Michaelis abgestattet hatte. Der vollkommene Anarchist war beinahe gemütlich aufgelegt.
»Der Bursche wußte gar nichts von Verlocs Tod. Natürlich! Er liest ja keine Zeitung. Sie machen ihn zu traurig, sagt er. Doch abgesehen davon. Ich ging also in sein Landhaus. Keine Seele zu sehen. Ich mußte ein halbdutzendmal brüllen, bevor er mir antwortete. Ich dachte, er schliefe noch fest. Aber weit davon. Er hatte schon vier Stunden an seinem Buch geschrieben. Er saß in seinem engen Käfig, von Papieren eingesargt. Eine halb verzehrte, rohe Mohrrübe lag neben ihm auf dem Tisch. Sein Frühstück. Er lebt nun diät, von rohen Mohrrüben und ein wenig Milch.«
»Wie sieht er dabei aus?« fragte Ossipon zerstreut.
»Engelhaft … Ich nahm eine Handvoll seiner Blätter vom Boden auf. Die Armseligkeit der Beweisgründe ist verblüffend. Er hat keine Logik. Er kann nicht zusammenhängend denken. Aber das macht nichts. Er hat seine Lebensgeschichte in drei Teile geteilt, betitelt »Glaube, Hoffnung, Mitleid«. Nun arbeitet er die Vorstellung einer Welt aus, die er sich wie ein ungeheures, sauberes Spital denkt, mit Gärten und Blumen, und in dem die Starken sich der Pflege der Schwachen zu widmen haben.«
Der Professor unterbrach sich.
»Verstehst du die Narrheit, Ossipon? Die Schwachen! Die Quelle alles Übels auf dieser Erde!« fuhr er ingrimmig fort. »Ich sagte ihm, daß ich mir eine Welt wie ein Schlachthaus erträume, wo die Schwachen der restlosen Vernichtung zugeführt würden.
Verstehst du, Ossipon? Die Quelle alles Übels! Sie sind unsere Zwingherren – die Schwachen, die Dummen, die Feigen, die Schwachherzigen und die Sklavenseelen. Sie haben Macht. Sie sind die Masse. Ihrer ist das Königtum der Erde. Vernichtung! Vernichtung! Das ist der einzige Weg zum Fortschritt. Das ist er! Folge mir, Ossipon. Erst muß die ganze Masse der Schwachen weg, dann die Menge der Halbstarken. Siehst du? Erst die Blinden, dann die Tauben und Stummen, dann die Lahmen und Bresthaften – und so weiter. Jeder Makel, jedes Laster, jedes Vorurteil und jede Bindung muß ihr Schicksal finden!«
»Und was bleibt?« fragte Ossipon gepreßt.
»Ich bleibe! Ich bin stark genug«, versicherte der schmächtige, kleine Professor, dessen große Ohren, dünn wie Membranen, weit von dem mageren Schädel abstehend, nun plötzlich tiefrote Färbung annahmen.
»Habe ich nicht genug gelitten an dieser Unterdrückung durch die Schwachen?« fuhr er angestrengt fort. Dann schlug er sich auf die Brusttasche: »Und doch bin ich die Stärke! – Aber die Zeit! Die Zeit! Gib mir Zeit! Oh, diese Masse, zu dumm, um Mitleid oder Furcht zu empfinden! Manchmal denke ich, daß sie tatsächlich alles zur Seite haben. Alles – sogar den Tod, meine eigene Waffe.«
»Komm und trinke ein Bier mit mir im Silenus«, sagte Ossipon nach einem Schweigen, das nur durch das schnelle Klappen von des Professors Pantoffeln unterbrochen worden war. Der Professor stimmte zu. Er war an diesem Tage gemütlich auf seine eigene Art. Er schlug Ossipon auf die Schulter.
»Bier! Soll’s so sein! Wir wollen eins trinken und lustig sein. Denn wir sind stark, und morgen sterben wir!«
Er zog sich die Schuhe an und sprach dabei in seiner kurzen abgerissenen Art weiter:
»Was ist mit dir los, Ossipon? Du siehst trübe aus und suchst sogar meine Gesellschaft. Ich höre, daß du fortwährend an Orten zu sehen bist, wo Männer über Schnapsgläsern Dummheiten schwatzen. Warum? Hast du deine Frauensammlung aufgegeben? Das sind die Schwachen, die die Starken füttern, wie?«
Er stampfte mit einem Fuß auf und zog den zweiten Schuh geschnürt an, einen schweren, oft geflickten Schuh, mit dicker Sohle, ungeschwärzt. Er lächelte grimmig in sich hinein.
»Sag mir, Ossipon, furchtbarer Mann, hat sich je eines deiner Opfer für dich getötet? Oder sind deine Siege in diesem Punkt unvollständig – denn Blut allein besiegelt die Größe. Blut. Tod. Sieh die Geschichte an!«
»Hol’ dich der Teufel«, sagte Ossipon, ohne den Kopf zu wenden.
»Warum? Laß das die Hoffnung der Schwachen sein, deren Gottesglaube die Hölle für die Starken erfunden hat. Ossipon, mein Gefühl für dich ist das freundschaftlicher Verachtung. Du könntest keine Fliege töten!«
Während sie aber auf dem Dach eines Omnibusses zum Abendschoppen fuhren, verlor der Professor seine gute Laune. Die Betrachtung der Massen, die sich über das Pflaster bewegten, erstickte seine Selbstsicherheit unter den drückenden Zweifeln, deren er immer nur Herr werden konnte, wenn er sich eine Zeitlang in dem Zimmer mit dem festverschlossenen Tellerschrank aufgehalten hatte.
Genosse Ossipon, der hinter ihm saß, sprach über seine Schulter: »Und so träumt also Michaelis von einer Welt wie ein schönes, barmherziges Spital?«
»Jawohl. Unendliche Barmherzigkeit für die Heilung der Schwachen«, stimmte der Professor höhnisch zu.
»Das