sie wollte Maja auf keinen Fall bedrängen.
»Ich danke dir sehr, dass du mich hierher begleitet hast, mein Schatz!«, wechselte sie folglich das Thema. »Seit fast drei Wochen war ich nicht mehr hier, obwohl diese Strecke sozusagen zu meinen Alltagsrouten gehört. Du weißt, wie sehr ich diesen Park liebe! Ohne dich säße ich in meiner Wohnung auf der oberen Terrasse und würde auf die zweifellos auch sehr schönen Dächer Münchens und seine vielen Türme starren. Da ziehe ich den Sitzplatz hier im Grünen aber doch tausendmal vor!«
Maja gab sich einen Ruck als sie Claudias Stimme neben sich hörte; und dieses Mal reagierte sie »normal«: »Du musst dich nicht bei mir bedanken, Claudia! Dafür bin ich schließlich da. Du musst dich so viel wie möglich bewegen, damit du das Gehen – ohne Gehhilfe – bald wieder so gut beherrschst wie vorher.
Erzähl’ mir doch, wie es dazu kam, dass dir deine Beine nicht mehr gehorchten. Kam das urplötzlich – oder gab es schon früher Anzeichen, dass sich vielleicht ein Schlaganfall ankündigen könnte?«
So gut sie es vermochte, schilderte Claudia, wie es sich angefühlt hatte, auf einmal hilflos und ohne jede Vorwarnung am Boden zu liegen, sich nicht mehr bewegen – ja, nicht einmal mehr sprechen zu können.
Und das ohne den geringsten vorherigen Hinweis auf einen gesundheitlichen Defekt! Erst einen Monat zuvor hatte sie ihre üblichen Vorsorgeuntersuchungen bei Doktor Kremer machen lassen.
»Der Arzt war sogar ausgesprochen zufrieden mit mir! Eigentlich bin ich vorher ja noch nie ernsthaft krank gewesen.«
»Du Ärmste!«
Maja schauderte, als sie sich ihre selbstbewusste und überaus mobile Tante vorstellte als ein Bündel unbeweglicher und stummer Hilflosigkeit.
»Meine Haushaltshilfe Sofia war bereits um 18 Uhr fortgegangen und Jens sollte erst am Abend nach Hause kommen. So bin ich über mehrere Stunden auf dem Küchenboden gelegen. Anfangs konnte ich mich gar nicht, später nur ein klein wenig bewegen. Zum Aufstehen reichte es jedenfalls nicht. Ich konnte also nicht einmal Hilfe herbeirufen. Das wäre sowieso nicht gegangen, weil mir die Stimme weggeblieben war!
Als Jens schließlich gegen 21 Uhr eintrudelte, war ich immerhin imstande, ein paar Worte hervor zu stammeln. Von da ab ging es schnell. Innerhalb kürzester Zeit kam ein Krankenwagen, der mich in die Klinik brachte.«
Maja stellte ihrer Tante noch viele Fragen zu Krankheitsverlauf, ärztlicher Erstversorgung und anschließender Therapie. Die Zeit auf der Parkbank verging wie im Flug. Plötzlich machte Claudia einen Vorschlag: »Mir geht es wieder recht gut. Das Sitzen im Freien, bei guter Luft und der Blick ins Grüne haben mir sehr gut getan. Wie wäre es, wenn wir uns jetzt auf den Weg zum »Kleinhesseloher See« machten und uns dort eine Erfrischung gönnten?«
Maja machte Bedenken geltend.
»Lass’ uns nicht übertreiben, Claudia! Der Weg zu dem Lokal am See ist von hier aus nicht gerade kurz. Ich möchte dir stattdessen folgendes Angebot machen: Spazieren wir doch zum »Chinesischen Turm«! Der liegt um einiges näher und wir bekommen dort auch alles, was wir mögen!«
Damit war Claudia natürlich einverstanden. Die imposante hölzerne Pagode mitten im Park hatte schon in ihrer Kinderzeit zu den Attraktionen im Englischen Garten gehört, zu der ihre Eltern sie einst an sonnigen Feiertagen gerne mitgenommen hatten.
*
»Immer noch keine Änderung zum Besseren, Schwester Hildegard?«
Die Stimme des jungen Mannes klang zwar niedergeschlagen, aber dennoch war ein leiser Anklang an Optimismus unüberhörbar. Der traurige Zustand dauerte bereits so lange an, aber Bernd Hoferrichter war dennoch auf keinen Fall bereit, vorschnell die Hoffnung aufzugeben. Zumindest gab er sich alle Mühe.
Die Stationsschwester, die gerade aus dem Krankenzimmer kam, sah wieder einmal in das zerquälte Gesicht des auffallend hoch gewachsenen, attraktiven Besuchers, der regelmäßig jeden Tag auftauchte und der sich schrecklich sorgte um diese ganz bestimmte Patientin, das augenblickliche »Sorgenkind« der ganzen Station. Der Ärmste konnte einem wirklich leidtun.
Hildegard Pleitgen schüttelte bedauernd den Kopf und der zaghaft hoffnungsvolle Blick des Mannes erlosch, um stumpfer Resignation Platz zu machen.
»Leider nein! Aber noch besteht durchaus Zuversicht«, beeilte sie sich, dem sichtlich enttäuschten Besucher zu versichern. »Sowohl der Chefarzt, wie der Stationsoberarzt sind zuversichtlich, dass eine spontane Besserung jederzeit eintreten kann.«
Das hörte er bereits seit einer guten Woche jedes Mal, so oft er nach seiner Liebsten sah. Von Natur aus ein Mensch, der vor Optimismus und Lebensfreude geradezu strotzte und den nichts so leicht aus der Fassung brachte, ging die Situation doch allmählich an seine Substanz, da er jeden Tag aufs Neue mit Hiobsbotschaften konfrontiert, bzw. mit illusorischen Vertröstungen abgespeist wurde.
»Ach, Frau Pleitgen«, seufzte der junge Mann vernehmlich. »Ich will ja keinen Pessimismus verbreiten, ich klammere mich an jeden Strohhalm – und sei es auch nur die Nachricht, dass sich ihr Zustand nicht verschlimmert hat – aber allmählich verliere ich die Zuversicht, dass meine Verlobte jemals wieder gesund werden wird!«
»So dürfen Sie auf keinen Fall denken!«, protestierte »Schwester« Hildegard. Mit diesem Titel sprachen die meisten Patienten und Besucher sie üblicherweise an. »Auch wenn unser Sorgenkind immer noch sehr oft ohne Bewusstsein ist, spürt sie trotzdem jeweils im Unterbewusstsein, wenn ein ihr nahestehender Besucher sie insgeheim aufgegeben hat.
Sie müssen unbedingt Hoffnung und Zuversicht ausstrahlen, wenn Sie ins Zimmer und an ihr Bett treten. Das ist ganz wichtig!«
Damit gab Hildegard Pleitgen die Tür zum Patientenzimmer frei, damit er eintreten konnte. Bangen Herzens näherte Bernd sich zögernd dem Krankenbett, in dem das Unfallopfer unbeweglich und mit geschlossenen Augen lag.
Wie stets beim Eintritt in Majas Zimmer wurde er sich des merkwürdigen Umstands bewusst, dass in diesem Raum, sobald er ihn betrat, er eine seltsam negative Aura zu verspüren meinte, die sich zu seiner Erleichterung nach einiger Zeit seiner Anwesenheit jedoch verflüchtigte. Was ihn zu der Ansicht verleitete, er bilde sich das Ganze nur ein.
Auch heute fiel ihm die geradezu feindselige Stimmung, die ihm entgegen zu schlagen schien, wieder unangenehm auf. Beinahe gewaltsam schob er seine Gedanken an bösartige Strömungen im Zimmer beiseite.
»Wie schön du bist, mein Herz«, murmelte er erschüttert, indem sein Blick die Bewusstlose umfasste, von der nur Gesicht und die auf der Bettdecke liegenden Hände zu sehen waren. Stirn, Hinterkopf, Hals und Nacken waren unter einem leichten Verband verborgen.
Immerhin hatte man Maja von dem voluminösen Turban aus weißem Mull befreit, den sie bis vor kurzem hatte tragen müssen, während ihre beiden Beine nach wie vor im Streckverband in die Höhe ragten und ihre bandagierten Arme bis zu den Fingerspitzen in den weiten Ärmeln eines eleganten, cremefarbenen Seidennachthemds steckten.
Das Nachthemd hatte er ihr am vergangenen Tag gebracht. Bisher hatte sie immer noch das obligate, kurze, am Rücken offene Operationshemd angehabt, da man immer noch damit hatte rechnen müssen, sie erneut schleunigst in den OP-Saal zu fahren. Zumindest die Gefahr von Blutgerinnseln im Gehirn schien gebannt …
Er beabsichtigte nicht, Majas Schlaf zu stören und sie zu wecken. Sie würde ihn ohnehin nicht erkennen. Eine Tatsache, die ihm jedes Mal Tränen in die Augen trieb, so oft er ihre leise Stimme hörte, die von Dingen sprach, die sich irgendwo zu ereignen schienen, an einem Ort, den er entweder gar nicht oder nicht genau kannte.
Er wünschte sich so sehr, dass sie ihn wieder erkannte und sich endlich danach erkundigte, was eigentlich mit ihr los sei – und wann sie wieder gesund sein würde …
»Herrgott im Himmel«, flüsterte er unwillkürlich. »Kann es denn nicht wieder so werden wie früher? Warum um alles in der Welt musste es ausgerechnet dich, mein Liebling, so hart treffen? Und das gleich noch doppelt?«
Nach einer kurzen Phase einer gewissen Besserung ihrer Gehirnfunktionen, die ihn geradezu euphorisch hatten