zur Bucht hinab. Die Brücke des Mondspiegels streckte sich zitternd über das Wasser; das Fährboot, von der anderen Seite kommend, trat eben wie ein Schatten in den hellen Schein. Gabriel blickte nach dem jenseitigen Ufer hinab; aber er sah nur Duft und Dämmerung.
»Nicht weiter«, sagte das Mädchen, und zog ihre Hand aus der seinen; »hier über die Wiese geht der Weg zur Fähre; du kannst nicht fehlen.«
Sie selber standen noch im Schatten; aber bei der Fülle des Lichtes, die draußen webte, konnte er ihre ganze Gestalt erkennen und jedes Regen ihrer Gliedmaßen. Sie hatte im Laufen ihre Flechten aufgebunden, die nun wie ein Kranz auf ihrem Scheitel lagen. Sie erschien ihm auf einmal so stolz und jungfräulich; er konnte die Augen nicht von ihr lassen, als sie in den Mondschein hinauswies und ihm die Wege zeigte, die er gehen sollte.
»So leb denn wohl, Regine!« sagte er, und reichte ihr die Hand.
Aber sie trat vor ihm zurück und sagte zögernd: »Sag mir noch eines …; weshalb muß du in den Krieg?«
»Weißt du es nicht, Regine?«
Sie schüttelte den Kopf. »Großvater spricht nicht davon«, sagte sie, und sah wie ein Kind an ihm herauf.
Er verlor sich stumm in ihren Augen; eine Nachtigall schlug plötzlich neben ihnen aus den Büschen, die Blätter säuselten. Sie stand ihm gegenüber, ohne Regung, kaum belebt von lindem Atmen; nur in ihren Augen, im tiefsten Grunde rührte sich die Seele; er wußte nicht, was so ihn anschaute.
»Sprich nur!« sagte sie endlich.
Er ergriff einen Zweig, der ihr zu Häupten hing, und brach ein Blatt herab. »Es ist für diese Erde«, sagte er, »für dich, für diesen Wald – – – – damit hier nichts Fremdes wandle, kein Laut dir hier begegne, den du nicht verstehst, damit es hier so bleibe wie es ist, wie es sein muß, wenn wir leben sollen, – unverfälschte, süße, wunderbare Luft der Heimat!«
Sie strich mit der Hand über ihre Haare, als wenn ein Schauer sie berühre. »Geh!« sagte sie leise. »Gute Nacht!«
»Gute Nacht; – – – wo find ich dich denn wieder?«
Sie legte ihre Hände um seinen Nacken und sagte: »Ich bleibe hier zu Haus!«
Er küßte sie. »Gute Nacht, Regine!«
Sie löste ihre Hände von seinem Halse. Dann schritt er in die Mondnacht hinaus; und als er nach einer Weile am Ende der Wiese zurückblickte, da war es ihm, als stehe die schöne kindliche Gestalt noch immer an der Stelle, wo er von ihr gegangen, unbeweglich im schwärzesten Tore des Waldes.
Ich hatte das Buch zusammengelegt und sah durch die Hüttenreihe in den grauen Tag hinaus. Gabriel trat zu mir und lehnte die blank geputzte Büchse an meine Schulter. Sie blitzte mich an. Ich aber, des Gelesenen gedenkend, fragte ihn: »Und was bedeutet nun das welke Blatt?«
»Noch einmal!« rief er. »Es ist grün, so grün wie Juniblätter!
»Und du bist niemals wieder dort gewesen?«
»Pagina hundertunddreizehn!« sagte er lächelnd.
Ich schlug noch einmal nach. Schon wieder Verse!
Pagina 113.
Und webte auch auf jenen Matten
Noch jene Mondesmärchenpracht,
Und stand’ sie noch im Blätterschatten
Inmitten jener Sommernacht,
Und fänd’ ich selber wie im Traume
Den Weg zurück durch Moor und Feld –
Sie schritte doch vom Waldessaume
Niemals hinunter in die Welt.
»Und wenn sie doch hinunterschritte!« sagte ich. »Dann wollen wir die Büchse laden! Der Wald und seine Schöne sind in Feindeshänden.«
Im Sonnenschein
In den höchsten Zweigen des Ahornbaums, der an der Gartenseite des Hauses stand, trieben die Stare ihr Wesen. Sonst war es still; denn es war Sommernachmittag zwischen eins und zwei.
Aus der Gartentür trat ein junger Reiteroffizier in weißer festtäglicher Uniform, den kleinen dreieckigen Federhut schief auf den Kopf gedrückt, und sah nach allen Seiten in die Gänge des Gartens hinab; dann, seinen Rohrstock zierlich zwischen den Fingern schwingend, horchte er nach einem offenstehenden Fenster im oberen Stockwerke hinauf, aus welchem sich in kleinen Pausen das Klirren holländischer Kaffeeschälchen und die Stimmen zweier alter Herren deutlich vernehmen ließen. Der junge Mann lächelte, wie jemand, dem was Liebes widerfahren soll, indem er langsam die kleine Gartentreppe hinunterstieg. Die Muscheln, mit denen der breite Steig bestreut war, knirschten an seinen breiten Sporen; bald aber trat er behutsam auf, als wolle er nicht bemerkt sein. – Gleichwohl schien es ihn nicht zu stören, als ihm aus einem Seitengange ein junger Mann in bürgerlicher Kleidung mit sauber gepuderter Frisur entgegenkam. Ein Ausdruck brüderlichen, fast zärtlichen Vertrauens zeigte sich in beider Antlitz, als sie sich schweigend die Hände reichten. »Der Syndikus ist droben; die alten Herren sitzen am Tokadilletisch«, sagte der junge Bürger, indem er eine starke goldene Uhr hervorzog, »ihr habt zwei volle Stunden! Geh nur, du kannst rechnen helfen.« Er zeigte bei diesen Worten den Steig entlang nach einem hölzernen Lusthäuschen, das auf Pfählen über den unterhalb des Gartens vorüberströmenden Fluß hinausgebaut war.
»Ich danke dir, Fritz. Du kommst doch zu uns?«
Der Angeredete schüttelte den Kopf. »Wir haben Posttag!« sagte er und ging dem Hause zu. Der junge Offizier hatte den Hut in die Hand genommen und ließ, während er den Steig hinabging, die Sonne frei auf seine hohe Stirn und seine schwarzen ungepuderten Haare scheinen. So hatte er bald den Schatten des kleinen Pavillons, der gegen Morgen lag, erreicht.
Die eine Flügeltür stand offen; er trat vorsichtig auf die Schwelle. Aber die Jalousien schienen von allen Seiten geschlossen; es war so dämmerig drinnen, daß seine noch eben des vollen Sonnenlichts gewöhnten Augen erst nach einer ganzen Weile die jugendliche Gestalt eines Mädchens aufzufassen vermochten, welche inmitten des Zimmers an einem Marmortischchen sitzend, Zahl um Zahlen mit sicherer Hand in einen vor ihr liegenden Folianten eintrug. Der junge Offizier blickte verhaltenen Atems auf das gepuderte Köpfchen, das über den Blättern schwebend, wie von dem Zuge der Feder, harmonisch hin und wider bewegt wurde. Dann, als einige Zeit vorübergegangen, zog er seinen Degen eine Handbreit aus der Scheide und ließ ihn mit einem Stoß zurückfallen, daß es einen leichten Klang gab. Ein Lächeln trat um den Mund des Mädchens, und die dunklen Augenwimpern hoben sich ein weniges von den Wangen empor; dann aber, als hätte sie sich besonnen, streifte sie nur den Ärmel der amarantfarbenen Kontusche zurück, und tauchte aufs neue die Feder ein.
Der Offizier, da sie immer nicht aufblickte, tat einen Schritt ins Zimmer und zog ihr schweigend die Feder durch die Finger, daß die Dinte auf den Nägeln blieb.
»Herr Kapitän!« rief sie und streckte ihm die Hand entgegen. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen; ein Paar tiefgraue Augen waren mit dem Ausdruck nicht allzu ernsthaften Zürnens auf ihn gerichtet.
Er pflückte ein Rebenblatt draußen vom Spalier und wischte ihr sorgfältig die Dinte von den Fingern. Sie ließ das ruhig an sich geschehen; dann aber nahm sie die Feder und fing wieder an zu arbeiten.
»Rechne ein andermal, Fränzchen!« sagte der junge Mann.
Sie schüttelte den Kopf. »Morgen ist Klosterrechnungstag; ich muß das fertigmachen.« Und sie setzte ihre Arbeit fort.
»Du bist ein Federheld!«
»Ich bin eine Kaufmannstochter!«
Er lachte.
»Lache nicht! Du weißt, wir können die Soldaten eigentlich nicht