Theodor Storm

Der Schimmelreiter und andere Novellen (103 Titel in einem Band)


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wieder stand der kleine Herr im blauen Frack an der Wehle, unterhalb des Deiches zu fischen. Vier Angelruten hatte er ausgelegt; die Korke mit den Federposen schwammen auf der blanken Wasserfläche, während die Stöcke in dem üppigen Marschgrase ruhten. Auch der kleine schwarze Hund saß wieder daneben, wie es schien in der Betrachtung des vor ihm liegenden Netzes versunken, das schon zur Hälfte mit Weißfischen und Aalen gefüllt war; nur zuweilen warf er den Kopf herum und schnappte nach den Schmeißfliegen, die um seine Nase schwärmten. Sein Herr hatte die ausgerauchte Meerschaumpfeife neben sich gelegt und blickte, die Hände auf den Rücken gefaltet, aus seinen kleinen runden Augen gleichgültig vor sich hin; bald auf die schwimmenden Korke, bald über die Wehle nach dem spitzen Turm der nicht gar fernen Stadt. Die Sonne blitzte in den blanken Knöpfen seines Fracks und vor ihm auf dem stillen Wasser; mitunter zog er ein blaugedrucktes Schnupftuch aus der Tasche und trocknete sich damit den Schweiß aus seinen schon ergrauten Haaren. Das Schilf duftete, es war ein heißer Septembernachmittag.

      Aus dem Häuschen, das droben auf dem Deiche lag, trat ein bejahrtes Frauenzimmer und stieg eilig an dem abwärts führenden Fußwege hinunter. Der alte Herr hatte sie nicht bemerkt; denn an der einen Angel begann eben die Federpose zu zucken. Als aber jetzt die Frau laut redend und jammernd auf ihn zukam, wandte er sich um und winkte ihr heftig mit der Hand: »Schrei Sie nicht so, alte Person!« sagte er und bückte sich nach seiner Angel. »Hat denn die Mixtur von gestern noch nicht angeschlagen?«

      Das Weib schwieg plötzlich und strich sich verlegen mit der Hand über die Schürze.

      »Ja so«, sagte er, »ich kann’s mir denken; Ihr habt wieder einmal selbst gedoktert! – Da habt Ihr mir nun auch den Fisch verjagt!«

      Indem hatte er sich aufgerichtet; und in seine kleinen Augen trat ein Ausdruck von Schelmerei, der vor Zeiten diesem unschönen Antlitz eine vorübergehende Anmut mochte verliehen haben. »Kleine Frau«, sagte er, »kennt Ihr das Gebet der Ärzte?«

      Die Frau sah ihn verdutzt an. »Nur das Vaterunser, Herr Doktor, und die hinterm Gesangbuch.«

      »Nun, so will ich es Euch sagen: Gott behüte uns vor den alten Weibern!«

      Die Alte lächelte. »Herr Doktor sind allzeit so spaßig.«

      »Und nun«, fuhr der Doktor fort, indem er seinen alten Hut aus dem Grase aufsammelte, »nun bleib Sie hier und paß Sie mir auf meine Fischerei!« – Der kleine Hund sprang gegen ihn empor. »Leg dich, Pankraz!« sagte er und bückte sich, um ihn zu streicheln, mit jener hastigen Innigkeit, womit in Gegenwart anderer einsame Menschen den an sie gewöhnten Tieren zu begegnen pflegen. Dann, während der Hund sich legte und das Weib, seinem Befehl gehorchend, sich vor den Angelruten an das Wasser stellte, stieg er langsam den Deich hinauf und verschwand in der Tür des kleinen Hauses.

       Es war tiefe Dämmerung, als der Doktor, aus seinem Meerschaumkopfe rauchend, auf dem Fahrweg des Deiches nach der Stadt zurückkehrte. Neben ihm ging die alte Frau, in der einen Hand ein Rezept, in der andern das schwergefüllte Fischnetz; der kleine Hund sprang kläffend hin und wider. – So erreichten sie die Stadt. Im Schifferhause am Hafen brannten schon die Lichter und warfen ihren Schein auf die Gassen. Der Doktor tat einen Blick in die Gaststube, wo an dem rot angestrichenen Tisch schon ein Frühgast dem Wirte gegenübersaß; dann beschleunigte er seinen Schritt und ging durch die dunkle Twiete dem Markte zu, wo er mit seiner Begleiterin in ein schmales altertümliches Haus trat, vor dem eine Linde ihre Zweige bis an die Fenster des oberen Stocks hinaufstreckte. Während noch die Hausglocke läutete, öffnete sich im Hintergrund der Diele eine Tür, und ein schon ältliches bürgerlich gekleidetes Mädchen leuchtete mit einer Schirmlampe den Kommenden entgegen. »Bist du es, Onkel?« fragte sie.

      »Freilich; nimm nur der Frau die Fische ab.«

      Dann, nachdem die Alte gute Nacht gewünscht, gingen beide in das geräumige Hinterzimmer. Das Mädchen trug ihr Spinnrad in die Ecke und setzte die Lampe auf des Onkels Schreibtisch, während dieser seine Taschen von dem mitgenommenen Angelgeräte leerte. »Ist jemand dagewesen?« fragte er.

      »Ja, Onkel, die arme Frau, der du das Kleid von selig Tante schenktest.«

      »Sonst wer?«

      »Die alte Kammerherrin hat geschickt, sie hat wieder ihren Zufall.«

      Der Doktor setzte sich auf den harten lederbezogenen Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. »So?« sagte er. »Schicken die feinen Leute auch noch! Nun«, fügte er brummend hinzu, »der andere wird nicht um den Weg gewesen sein. – Wann war der Diener hier?«

      »Du warst nur eben fort.«

      »So – nun da brauchen Ihro Gnaden mich schon nicht mehr.«

      »Der Justizrat«, sagte das Mädchen, »ist auch dagewesen; du hättest doch nicht vergessen, daß es heute der Geburtstag seiner Frau sei.«

      Der Doktor schwieg eine Weile. – »Es ist gut«, sagte er, »bring nur die Fische in die Küche!«

      Das Mädchen ging; der Doktor blieb auf seinem Stuhle sitzen und streichelte mit der Hand den kleinen Hund, der ihm auf den Schoß gesprungen war. Seine Augen hafteten an der Messingklinke der nach dem Flur hinausgehenden Tür, als denke er, sie werde sich im nächsten Augenblick bewegen, und jemand, den er erwarte, in das dürftig ausgestattete Gemach hereintreten. Aber es kam niemand; er blieb allein. Endlich, nachdem er das Tier behutsam auf den Fußboden gesetzt hatte, stand er auf und nahm aus dem Repositorium des Schreibtisches einen der Quartbände, welche seine ärztliche Buchführung enthielten. Das Blatt, welches er aufschlug, trug eine Jahreszahl, die der ersten Zeit seiner Praxis angehörte. – »Handlungsdiener Friedeberg« stand darüber; darunter waren viele Visiten eingetragen, sie folgten sich fast Tag um Tag; zum Schluß aber war die Rechnung mit einer verhältnismäßig sehr geringen Summe abgeschlossen.

      Der alte Friedberg war längst begraben; aber der Doktor sah ihn noch vor sich, den kleinen Mann im leberfarbenen Rock, wie er an sonnigen Sonntagnachmittagen drüben am Markt vor der Tür des großen Giebelhauses stand und ihm, wenn er vorüberging, sein »Servus, Herr Doktor!« zurief. – Der alte Friedeberg war es jedoch nicht, um dessenwillen die kleine runde Hand des Doktors nach diesem Folium zurückgeblättert hatte. Er war nur der Diener gewesen; das große Giebelhaus hatte derzeit dem zweiten Bürgermeister, seinem Prinzipal, gehört; der alte Friedeberg führte nur das kleine Ladengeschäft, das der reiche Kaufherr zugleich mit jenem treuen Mann nach seinen Eltern überkommen hatte. Auch der stattliche Bürgermeister wohnte seit lange nicht mehr in seinem sonnigen Hause; er lag nicht weit davon auf dem Klosterkirchhof in der Familiengruft, die er selbst hatte bauen lassen. – Es war aber auch nicht sein Gedächtnis, das die Hand des Doktors geleitet hatte; der Doktor war nicht einmal sein Hausarzt gewesen; denn der Bürgermeister hatte sich wie alle Honoratioren des Physikus bedient. Aber der Physikus war einmal über Land gewesen, und – der Herr Bürgermeister hatte eine Tochter gehabt.

      Das war es. – –

      Der Doktor hatte sich umgewandt. Seine Augen ruhten auf dem leeren Polsterstuhl, der ihm gegenüber zwischen dem Ofen und dem Tassenschränkchen stand. – Spät an einem Februarabend war es gewesen. Dort hatte seine Mutter, die alte Schneiderswitwe, gesessen, mit gefalteten Händen, das Spinnrad neben sich. Sie war schon ein wenig eingenickt gewesen, wie es ihr vor dem Schlafengehen zu geschehen pflegte; aber sie war wieder munter geworden und saß nun nach ihrer Gewohnheit aufrecht und ohne sich anzulehnen. »Und du willst ein Doktor sein«, sagte sie, »und weißt nicht, daß alte Leute nicht mehr jung sind!« – Der Doktor zog seine silberne Taschenuhr auf und hing sie an die Wand. »Es wird Schlafenszeit, Mutter!« sagte er lächelnd; denn er wußte alles, was noch folgen würde. Aber die Alte ließ nicht ab; sie schenkte ihm nichts, er mußte alles hören: ihr Alter und das seinige, dann alle Mühen des kleinen Haushalts und das gesamte Inventar an Leinen und Bettstücken, das droben in den beiden eichenen Schränken lagerte. »Denn«, sagte sie, »wir sind immer auskömmliche Leute gewesen, ich und dein seliger Vater; und das Notwendige wäre schon beisammen, wenn die junge Frau ins Haus käme.« – Der Doktor hatte schon fast ein wenig ungeduldig werden wollen; da plötzlich hatte die Hausglocke geschellt, und da nach einigen Augenblicken war sie hereingetreten. Sie hatte das blonde