Sven Elvestad

Detektiv Asbjörn Krag: Die bekanntesten Krimis und Detektivgeschichten


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bewahren. Er trank den großen Krug nachdenklich halb leer, und dann fuhr er in demselben langsamen Tempo wie früher fort:

      »Dann kam der Plan mit der ›Glücksprobe‹, der Brigg, die flotter sein sollte als irgendein anderes Schiff an der Küste. Vielleicht liegt eine Vermessenheit in einem solchen Gedanken, aber daß dieses herrliche Schiff von den Leuten rings um das Fährhaus gebaut und bemannt wurde und von keinen anderen, das war doch jedenfalls ein Zeichen des Zusammenhaltes und des Geistes, der unter uns herrschte. Jeder von uns brachte sein Bestes dar. Der Segelmacher dort drüben denkt heute noch an das feine Takelwerk, und auch der Zimmermann, der Schmied, der Schiffsbauer und all die anderen können ihre Arbeit nicht vergessen. Wir steckten alles in die Brigg, unsere Arbeit und alle unsere Sparpfennige. Und noch mehr, wir gaben unsere beste Jugend an Bord. Als dann das Schiff an jenem Tage vor zwanzig Jahren aus dem Sunde fuhr, da segelte es mit unserem Glauben an Bord. All unsere Hoffnung blieb zurück. Das Schiff kam nie wieder, wir sollten es nicht mehr sehen. Das letzte, was wir von ihm sahen, waren die Wimpel am Horizont, und dann nichts mehr. Aber die Hoffnung blieb zurück. Und diese Hoffnung und unsere Träume von dem verschwundenen Schiff haben uns allen hier den Mut genommen, und im Laufe dieser zwanzig Jahre haben sie Elend über den ganzen Ort gebracht. Ja, so ist es, Kameraden, der Mut ist euch gebrochen – ihr habt alles hingegeben und immer gewartet, daß ihr es zurückbekommt. Aber in dieser Sehnsucht kann keine Arbeitsfreude aufkommen. Mißmut, Bosheit, Armut und Mutlosigkeit schlagen über uns zusammen. Wenn wir nicht alle diese Hoffnung fahren lassen, gehen wir alle zugrunde. Wir müßten nur einmal mit uns selbst und unserem Herrgott einig werden, daß es nichts mehr zu hoffen, nichts mehr zu träumen gibt. Und dann müssen wir die Vergangenheit liegen lassen, diese Vergangenheit, die wie ein Alp über uns hängt, die müssen wir lassen, und uns dann entschließen, mit neuem Mut an der Zukunft zu arbeiten.«

      Er wurde von einem Schrei unterbrochen, einem heiseren, beinahe brüllenden Schrei, das war die alte Kaisa, die in die Schankstube gekommen war und nun mit gekrümmten Fingern vor ihm stand. Es war förmlich, als ginge ein Frostschauer des Hasses durch den Raum. Das närrische Mädchen hatte sich stumm und böse starrend auf der Schwelle niedergesetzt. In den Tabakswolken glich sie wirklich einem jener seltsamen, grauweißen Nebelvögel weit draußen auf den Schären.

       »Du hast uns gar nichts zu sagen!« zischte die Schankwirtin wütend. »Was hast du zum Schiff beigesteuert? Nichts! Aber wir haben unsere Söhne gegeben. Tobias und Elias und der Schmied und andere haben ihre Söhne gegeben. Auch ich habe meinen einzigen Sohn gegeben. Achtzehn Jahre war er damals, der jüngste Jungmann auf der ›Glücksprobe‹. Wenn er wiederkommt, dann soll er sein eigenes Schiff haben, eine neue stolze Brigg, noch schmucker als die ›Glücksprobe‹. Du darfst uns nicht die Hoffnung nehmen, Lotsenältester, dazu hast du kein Recht. Hörst du?«

      Sie ging dicht an ihn heran. Es war, als wollte sie ihn mit ihren Zigeunerkrallen an der Kehle packen. Der Lotsenälteste wich zurück, nun hatte ihn die Beherrschung verlassen:

      »Verdammte Hexe!« rief er. »Hier draußen trägst du mehr als irgendein anderer dazu bei, das Elend durch deine Hirngespinste und deinen Branntwein noch zu vergrößern.«

      In diesem Augenblick wurde die Haustür aufgerissen, und in schweren Wasserstiefeln kam der Herbergsvater Johannes herein. Er blieb stehen und warf einen prüfenden Blick über die Stube.

      »Na, ist es schon wieder so weit?« murmelte er. Laut fragte er über die Köpfe der Leute:

      »Ich höre die Fähre über den Fluß kommen, wer ist ausgefahren?«

      »Sigvard«, antwortete jemand. »Man hat vom andern Ufer gerufen.«

      »Wer kann so spät kommen?« wunderte sich der Fährmann. Der Lotsenälteste sah sich um:

      »Wer fehlt heute abend hier? Der alte Gottfried?«

      »Der kann es nicht sein. Der liegt da und kämpft mit dem Tode, hieß es heute mittag.«

      »Dann vielleicht der neue Pfarrer?«

      »Auch nicht, der wird wohl bei Gottfried sein.«

      »Es kann auch ein Fremder sein«, sagte der Lotsenälteste.

      Die alte Schlaguhr begann zum Schlage auszuholen, ein langes, heiseres Röcheln, dann kamen die Schläge, eintönig und melodisch, wie die alte Uhr den Menschen nun durch mehr als zwanzig Jahre die Zeit verkündet hatte.

      III. Der Fremde

       Inhaltsverzeichnis

       Jeden Tag derselbe Streit«, sagte Johannes, der Fährmann. »In den letzten zwanzig Jahren habe ich nichts anderes mehr gehört. Ich ahnte schon unterwegs, daß es wieder losgehen würde, an den Jahrestagen ist es ja immer am schlimmsten.«

      Er wendete sich an den Lotsenältesten:

      »Daß du auch nichts anderes zu reden weißt, Lotsenältester. Du müßtest doch allerlei zu erzählen haben, du, der du so lange gelebt hast.«

      Und im Vorbeigehen zischte er:

      »Und am Rande des Grabes stehst –«

      Der Lotsenälteste zuckte zusammen.

      »Gerade deshalb, Johannes«, antwortete der Alte gelassen. »Weil ich fühle, daß ich nicht lange Zeit vor mir habe, will ich euch allen ein ernstes Wort sagen. Ihr seid ja meine alten guten Freunde ... Freunde, ja, vielleicht ist das hier nicht das richtige Wort. Es ist, als hätte sich hier nur der Haß angesammelt. Und das Mißtrauen. Was man auch tut, es wird einem im bösen Sinne ausgelegt. Alle hüten sich förmlich, etwas Gutes vom Nächsten zu glauben. Keiner verträgt, daß es einem andern besser geht. Brauche ich Beispiele zu nennen? Ich habe lange genug gelebt, um viele anführen zu können. Wie nur einer etwas unternahm, gleich waren die anderen mit ihren Munkeleien und Verleumdungen bei der Hand. Und wenn es dann schief ging, begrüßte man das Unglück gleich mit Befriedigung. Ich will nicht sagen mit Schadenfreude, aber mit Befriedigung, weil man wollte, daß alle im Sumpfe steckenbleiben sollten. Und es ist immer schief gegangen. Uns hier im Fährdorf glückt nichts mehr. Es ist ein Fluch, der auf uns ruht. Und diesen Fluch wollte ich versuchen, durch ein ernstes Manneswort zu brechen. Denn ich glaube, der Fluch ist darin begründet, daß wir das Vergangene nicht abschütteln können. Wenn wir uns ermannen könnten, einen Strich unter das Geschehene zu ziehen, dann gäbe es noch Hoffnung für die Menschen im Fährdorf. Es gilt, das Alte sein zu lassen und etwas Neues anzupacken, hört ihr es, Leute? Mit frischem Mut wieder anfangen, als ob nichts geschehen wäre. Selbst bin ich zu alt, da hast du recht, Johannes. Ich bin bald am Ende, aber wir haben doch Jugend genug.«

      Stille. Nach einer kleinen Weile sagte der Schuster:

      »Jugend, ja die, die zurückblieb. Wir können nur die, die fort ist, nicht vergessen.«

      Die Herbergsmutter fragte:

      »Was hast du der Brigg mit auf den Weg gegeben, Lotsenältester? Ich habe meinen Jungen gegeben. Soll es einer Mutter nicht erlaubt sein zu hoffen?«

      »Auch nach zwanzig Jahren?«

      »Auch nach zwanzig Jahren, ja. Man hat schon öfters Wunder gesehen.«

      Plötzlich war es, als ob ein Anfall der Härte den Lotsenältesten packte. Es war etwas von dem feindseligen Geist des Ortes in den Worten, die er hinausstieß:

      »Keiner kommt zurück. Die Brigg ist untergegangen. Und nimmermehr werden wir von ihr hören. Nimmermehr!«

       In unbändiger Raserei wollte Kaisa wieder auf ihn losstürzen, aber der Fährmann Johannes stellte sich dazwischen. Da hielt sie sich zurück. Sie murmelte einen unverständlichen Fluch zwischen den Zähnen. Dann wandte sie sich ihrem Manne zu:

      »Geh zur Brücke und hilf Sigvard«, sagte sie in befehlendem Ton.

      Johannes gehorchte, ohne zu mucksen, und ging, um die Doppeltür zu öffnen. Aber unterwegs bemerkte er das närrische Mädchen, die auf der Flurschwelle saß und geistesabwesend in das Lampenlicht