»Nach meiner dritten Regenzeit, als ich noch ein junger Vogel war, strich ich zum Flußdelta hinab, wo die großen Boote der Engländer einlaufen. Dreimal so groß wie das Dorf hier sind die Boote der Engländer.«
»Und bis nach Delhi kam er und erzählte dann, alle Leute dort liefen auf dem Kopf«, brüllte der Schakal. Der Mugger aber klappte das linke Auge hoch und blickte den Adjutanten scharf an.
»Es ist gewißlich wahr«, behauptete der große Vogel. »Ein Lügner lügt nur, wenn er hoffen kann, daß man ihm glaubt. Wer diese Boote nicht gesehen hat, der kann nicht glauben, daß es wahr ist.« »Das klingt schon vernünftiger«, sagte der Mugger. »Und weiter?«
»Aus dem Innern des Bootes brachten sie große Stücke eines weißen Stoffes heraus, die nach einer Weile zu Wasser wurden; viel splitterte ab und fiel auf das Ufer; den Rest trugen sie schnell in ein Haus mit dicken Mauern. Ein Schiffer nahm ein großes Stück davon, nicht größer als ein kleiner Hund, warf es mir zu und lachte dabei. Ich – mein ganzes Volk schlingt hinunter ohne Nachdenken – ich verschluckte das Stück nach unserer Gewohnheit. Gleich darauf wurde ich von einer furchtbaren Kälte gepackt, oben im Kopf fing es an und ging hinunter bis in die äußerste Zehenspitze, so kalt, daß mir die Sprache wegblieb. Der Schiffer aber lachte mich aus. Niemals habe ich eine solche Kälte gespürt! In meinem Schmerz und Entsetzen tanzte ich, bis ich wieder zu Atem kam. Und als ich wieder schnaufen konnte, da tanzte ich wieder und schrie Ach und Weh über die Falschheit der Welt; und die Schiffer lachten, bis sie umfielen. Und das Hauptwunder bei der Sache war, abgesehen von der unangenehmen Kälte, daß ich nicht das geringste im Kropf hatte, als mein Wehgeschrei zu Ende war.«
Der Adjutant hatte sein Bestes getan, um die Gefühle zu beschreiben nach Verschlingen eines sieben Pfund schweren Eisklumpens, der ihm aus einem amerikanischen, nach Kalkutta bestimmten Schiffe zugeworfen worden war in den Tagen, als Kalkutta noch nicht Maschineneis herstellte. Aber da er nicht wußte, was Eis war, der Mugger und der Schakal es noch weniger wußten, so verlor die Erzählung etwas an Glanz.
»Alles«, sagte der Mugger und klappte das linke Auge wieder zu, »alles ist möglich bei Dingen, die aus einem Boote kommen, dreimal so groß wie Muggerghat. Und nicht klein ist mein Dorf.«
Ein Pfiff ertönte von der Brücke her: Der Delhipostzug fuhr darüber hin, die Wagen waren hell erleuchtet, und ihre Schatten glitten über das Wasser hin. Der Zug donnerte über die Brücke und verschwand in der Dunkelheit; aber der Mugger und der Schakal waren so daran gewöhnt, daß sie nicht einmal die Köpfe wandten.
»Ist das etwa weniger wunderbar als ein Boot, dreimal so groß wie Muggherghat?« fragte der Adjutant und spähte zur Brücke hinauf.
»Das habe ich bauen sehen, Kind«, sagte der Mugger. »Stein kam zu Stein, und ich sah die Brückenpfeiler emporwachsen; wenn die Männer herabstürzten – merkwürdig sicher waren sie für gewöhnlich auf den Füßen –, aber wenn sie stürzten, war ich bereit. Nachdem der erste Pfeiler fertig war, dachte keiner mehr daran, den Strom abzusuchen nach der Leiche, um sie zu verbrennen. Auch damals wieder ersparte ich mir viel Mühe. Nichts Wunderbares war an dem Brückenbau.«
»Aber das, was da oben entlang läuft und die Wagen schleppt mit den Dächern, das ist doch wunderbar«, meinte der Adjutant.
»Das ist ohne Zweifel eine neue Art von Zugochsen. Es wird der Tag kommen, da verlieren sie das Gleichgewicht dort oben und werden herunterstürzen wie die Männer. Der alte Mugger wird dann bereit sein.«
Der Schakal sah den Adjutanten an. Eins wußten sie ganz gewiß: daß nämlich die Lokomotive alles andere in der Welt war als ein Ochse zum Ziehen. Der Schakal hatte das Ding oft genug beobachtet, in der Aloehecke versteckt, am Damm der Strecke; und der Adjutant kannte Lokomotiven von der Zeit an, als die erste in Indien lief. Aber der Mugger hatte immer nur tief unten hinaufgesehen und die Messingkuppel für den Buckel eines Ochsen gehalten.
»M…ja, eine neue Art von Ochsen«, wiederholte der Mugger mit Nachdruck, um sich selbst zu überzeugen.
Rasch fiel der Schakal ein: »Sicherlich ist es ein Ochse.«
»Wiederum könnte es sein«, hob der Mugger launisch an.
»Sicherlich – o ganz sicher«, unterbrach der Schakal, ohne den andern ausreden zu lassen.
»Was?« knurrte der Mugger ärgerlich, denn er fühlte, daß die andern mehr wußten als er. »Was könnte es sein? Ich sprach den Satz nicht zu Ende. Ein Ochse – so meintet ihr?«
»Alles ist es, was dem Beschützer der Armen beliebt. Ich bin sein Sklave – nicht der Diener des Dinges, das über die Brücke fährt.«
»Was es auch sein mag«, sagte der Adjutant, »jedenfalls ist es Bleichgesichterarbeit, und was mich anbelangt, so würde ich doch lieber nicht auf einem Platz lagern, der so nahe daran ist wie diese Sandbank.«
»Du kennst die Engländer nicht, wie ich sie kenne«, sagte der Mugger. »Als die Brücke gebaut wurde, war ein Bleichgesicht hier. Abends fuhr er immer in einem Boot herum, schnurrte mit den Füßen auf den Bodenplanken und flüsterte: ,Ist er hier? Ist er da? Reiche mir die Flinte her.’ Ich vernahm ihn, noch ehe ich ihn sah – jeden Laut, den er gab, das Knarren und Schnurren und das Klappern mit der Flinte, stromauf und stromab. So sicher, wie ich ihm einen seiner Arbeiter weggeschnappt und ihm dadurch die Kosten für Holz zur Verbrennung erspart hatte, so sicher kam er abends herab an den Ghat und rief mit lauter Stimme, er werde mich jagen, werde den Strom von mir befreien – von mir, dem Mugger von Muggerghat! Kinder, ich schwamm unter dem Kiel seines Bootes Stunde für Stunde und hörte, wie er mit seiner Flinte schwimmende Holzklötze beschoß. Wußte ich dann, daß er müde geworden war, tauchte ich auf an seiner Seite und schnappte ihm den Kinnladen fast ins Gesicht. Als die Brücke fertig war, ging er fort. Alle Engländer jagen so, außer – sie werden selbst gejagt.«
»Wer jagt denn Bleichgesichter?« kläffte der Schakal erregt.
»Jetzt keiner mehr; aber zu seiner Zeit habe ich sie gejagt.«
»Ich entsinne mich noch dieser Hatz. Jung war ich damals«, sagte der Adjutant, mit dem Schnabel anzüglich klappernd.
»Ich hatte mich hier mit allen Rechten angesiedelt. Mein Dorf sollte gerade zum drittenmal neu erstehen, erinnere ich mich, als mein Vetter, der Gavial, mir Kunde brachte, daß oberhalb Benares die Wässer ungemein üppig wären. Anfangs wollte ich nicht recht dorthin wechseln, denn mein Vetter, der Fischfresser, weiß nicht immer das Gute vom Schlechten zu unterscheiden. Aber an den Abenden hörte ich mein Volk an den Ufern reden, und daraufhin beschloß ich, mich aufzumachen.«
»Und was sagten sie?« fragte der Schakal.
»Genug, um mich, den Mugger von Muggerghat, zu bestimmen, das Wasser zu verlassen und zum Fußwanderer zu werden. Ich reiste bei Nacht und benutzte unterwegs die kleinsten Flüsse, weil sie mir das Fortkommen erleichterten; aber es war zu Anfang der heißen Jahreszeit, und sehr seicht war das Wasser überall. Ich kreuzte staubige Landstraßen, kroch durch hohes Gras, erklomm Hügel im Mondlicht. Sogar Felsen erstieg ich, Kinder – bedenkt das wohl. Ich querte das Ende von Sirhind, der Wasserlosen, bis ich kleine Flüsse auffand, die zur Ganga flossen. Eine Monatsreise war ich entfernt von meinem Volk und den Ufern, die mir vertraut waren. Sehr wundersam war das!«
»Was gab es denn für Nahrung auf dem Wege?« unterbrach der Schakal, dessen Seele in seinem Magen saß und dem die Landreise des Muggers nicht wenig Eindruck machte.
»Ich fraß, was ich finden konnte, Vetter«, sagte der Mugger langsam, das letzte Wort stark betonend.
In Indien nennt man niemanden »Vetter«, wenn man nicht einen Grad von Blutsverwandtschaft nachweisen kann; und da es höchstens in Märchen vorkommt, daß der Mugger je einen Schakal heiratet, so wußte der Schakal sehr wohl, warum er plötzlich zu einem Mitglied der Muggerfamilie erhoben wurde. Wäre er mit dem Mugger allein gewesen, so hätte er sich nichts daraus gemacht; aber die Augen des Adjutanten zwinkerten vergnügt über den grausamen Witz.
»Sicherlich, Vater, ich hätte das wissen sollen«, erklärte der Schakal.
Einem Mugger liegt es nicht,