Grenze des Möglichen angekommen zu sein. Das Unglück ist nur, daß Arthur sich in den Kopf gesetzt hat, es solle kein Fremder zwischen ihn und seine Leute treten, und daß er das mit eiserner Consequenz durchführt. Ich glaube, wenn es zum Aeußersten kommt, so ist er im Staude, sich mit dem ganzen Beamtenpersonal im Hause zu verschanzen und sich dort bis auf den letzten Mann zu wehren, ehe er uns zu Hülfe ruft. Das sieht ihm ganz ähnlich!“
Hier zog Eugenie heftig ihre Hand aus der des Bruders. Sie stand plötzlich auf und ging an’s Fenster, der Baron dagegen erhob sich mit dem Ausdruck des lebhaftesten Unwillens.
„Ich weiß nicht, Curt, wie Du dazu kommst, eine einfache Frage nach dem Stande der Dinge auf Berkow’s Gütern mit einem so überschwenglichen Lobliede auf ihn zu beantworten. Es ist das eine Schonungslosigkeit gegen Deine Schwester, die ich gerade Dir, der sie stets mit so besonderer Zärtlichkeit zu lieben behauptete, am wenigsten zugetraut hätte. Wie Du Dich mit Deiner excentrischen Bewunderung für diesen Mann, die Du in Deiner Garnison ganz offen zur Schau zu tragen scheinst, später dort abfinden willst, wenn die Scheidung bekannt wird, überlasse ich Dir selber. Für jetzt bitte ich, daß dieses Gespräch ein Ende nimmt. Du siehst, wie peinlich es Eugenien berührt. Du wirst mich begleiten.“
„Nur einige Minuten noch laß mir Curt hier, Papa,“ bat die junge Frau leise. „Ich möchte ihn etwas fragen.“
Der Baron zuckte die Achseln. „Nun, dann wird er wenigstens die Güte haben, diesen Punkt nicht weiter zu berühren und Dich nicht noch mehr aufzuregen. In zehn Minuten stehen die Pferde unten, Curt; ich erwarte Dich dann bestimmt. Auf Wiedersehen!“
Die Thür hatte sich kaum geschlossen, als der junge Officier an’s Fenster zu seiner Schwester eilte und mit unverkennbarer, wenn auch etwas stürmischer Zärtlichkeit den Arm um sie legte.
„Bist Du mir auch böse, Eugenie?“ fragte er. „War ich wirklich schonungslos?“
Die junge Frau hob in leidenschaftlicher Spannung das Auge zu ihm empor. „Du bist bei Arthur gewesen – Du hast ihn öfter gesprochen, erst gestern noch beim Abschiede – hat er Dir nichts, gar nichts aufgetragen?“
Curt sah zu Boden. „Er läßt sich Dir und dem Papa empfehlen,“ sagte er etwas kleinlaut.
„In welcher Art? Was sagte er Dir?“
„Er rief mir nach, als ich schon im Wagen saß: ‚Empfiehl mich dem Herrn Baron und Deiner Schwester!‘“
„Und das war Alles?“
„Alles!“
Eugenie wandte sich ab; sie wollte dem Bruder die bittere Enttäuschung nicht zeigen, die sich in ihren Zügen malte, aber Curt hielt sie fest. Er hatte die schönen dunklen Augen seiner Schwester; nur war der Ausdruck bei ihm kecker, lebenslustiger, aber in diesem Augenblick – er beugte sich tief zu ihr hinab – verschwand dies Alles vor einem ungewohnten Ernst.
„Du mußt ihm wohl einmal sehr wehe gethan haben, Eugenie, und das in einer Weise, die er noch immer nicht verwinden kann. Ich hätte Dir so gern eine Zeile, ein Abschiedswort gebracht, aber das war von ihm nicht zu erlangen. Er wollte mir nie Rede stehen, so oft ich Deinen Namen nannte, aber todtenbleich wurde er jedesmal dabei und wandte sich ab und zog fast mit Gewalt ein anderes Thema herbei, um nur nichts mehr davon zu hören, gerade so, wie Du es machst, wenn ich Dir von ihm spreche. – Mein Gott, haßt Ihr Euch denn so sehr?“
Eugenie riß sich mit einer leidenschaftlichen Bewegung aus seinen Armen. „Laß mich, Curt! um Gotteswillen, laß mich! ich ertrage das nicht länger.“
Ein Ausdruck halben Triumphs flog über das Gesicht des jungen Officiers und es klang fast wie ein mühsam unterdrückter Jubel aus seiner Stimme.
„Nun, ich will mich ja nicht in Eure Geheimnisse drängen! Ich muß jetzt fort. Papa wird sonst ungeduldig; er ist so schon heut’ übler Laune. Ich soll Dich wohl jetzt allein lassen, Eugenie. Du mußt ja noch den – den Scheidungsantrag unterschreiben! Bis wir zurückkommen, wird es wohl geschehen sein. Leb’ wohl!“
Er eilte fort. Die Pferde standen in der That bereits unten im Hofe, und der Baron sah ungeduldig nach den Fenstern hinauf. Der Spazierritt gehörte diesmal nicht zu den angenehmsten, denn sowohl der älteste Sohn, als die beiden jüngeren hatten dabei die üble Laune des Vaters zu empfinden. Baron Windeg konnte es nun einmal nicht ertragen, wenn irgend etwas, das den Namen Berkow trug, in seiner Gegenwart gelobt wurde, und da er natürlich bei seiner Tochter das Gleiche voraussetzte, so fand er sie und sich beleidigt, und Curt bekam noch Verschiedenes über seine „Tactlosigkeit“ und „Rücksichtslosigkeit“ zu hören. Dieser ließ das aber sehr ruhig über sich ergehen und schien leider nicht die geringste Reue zu empfinden, dagegen bekundete er ein lebhaftes Interesse an dem Ritte selbst, oder vielmehr an der Dauer desselben. Er war so lange nicht in der Residenz gewesen, fand die äußerst belebte Promenade so unterhaltend, und brachte es denn auch wirklich dahin, die Partie so weit auszudehnen, daß die vier Herren erst mit dem Einbruch der Dunkelheit in die Stadt zurückkehrten.
Eugenie war inzwischen allein zurückgeblieben. Die Thür war abgeschlossen – sie konnte und wollte jetzt Niemand in ihrer Nähe dulden. Die Wände ihres Zimmers und die alten Familienbilder, die sie schmückten, hatten schon manche Thräne, manche bittere Stunde gesehen, damals, als es sich um die Vermählung der jungen Frau handelte, aber doch keine so schwere wie heute, denn heute galt es den Kampf mit sich selber, und der Gegner war nicht leicht zu überwinden.
Dort auf dem Schreibtisch lag das Blatt, in welchem eine Frau die gesetzliche Trennung von ihrem Manne forderte; nur die Unterschrift fehlte noch daran. War die vollzogen, so war es auch die Scheidung, denn die Einwilligung ihres Gatten, der Einfluß und die Verbindungen des Barons sicherten der Angelegenheit ein schnelles und erwünschtes Ende. Sie hatte vorhin, in Gegenwart des Vaters, den verhängnißvollen Federzug nicht thun wollen, gethan mußte er doch jetzt werden. Was half der Aufschub einer einzigen Stunde? Es galt ja gleich, ob das Unabänderliche früher oder später geschah. Aber gerade in dieser einen Stunde war Curt gekommen und hatte mit seiner Erzählung die Wunde wieder aufgerissen, die freilich noch niemals aufgehört zu bluten.
Und doch hatte ihr Bruder kein Wort, nicht einmal einen Gruß bringen können. „Empfiehl mich dem Herrn Baron und Deiner Schwester!“ das war das Ganze. Warum nicht lieber „Empfiehl mich der gnädigen Frau“? Das wäre noch eisiger, noch passender gewesen. Eugenie war an den Schreibtisch getreten, und ihr Auge irrte über die Worte des Schriftstückes hin. Auch dort klang Alles so kalt, so förmlich, und doch wurde damit der Stab gebrochen über die Zukunft zweier Menschen. Aber Arthur hatte es ja nicht anders gewollt. Er war es, der zuerst das Wort der Trennung aussprach, er, der sich zuerst und rückhaltslos in die Beschleunigung fügte, und als sie zu ihm gekommen war und sich bereit erklärte, noch zu bleiben, da hatte er sich abgewandt und sie gehen heißen. Das Blut stieg wieder heiß empor zu den Schläfen der jungen Frau, und ihre Hand griff nach der Feder. Sie war denn doch Weib genug, um zu wissen, wie ihn diese Unterschrift traf, wenn er auch darauf gefaßt sein mußte; sie verstand es denn doch, auch Blicke zu deuten und unbewachte Momente, in denen er sich verrathen hatte; aber daß er Herr über diese Schwäche geblieben war bis zum letzten Augenblick, daß er den Wink nicht verstehen wollte, mit dem sie ihm die Möglichkeit einer Versöhnung gezeigt, daß er Stolz gegen Stolz, Schroffheit gegen Schroffheit setzte, das sollte er jetzt büßen und wenn sie selbst zehnfach mitbüßte. – Lieber zwei Menschen unglücklich machen, als bekennen, daß man einmal Unrecht gehabt.
Der Dämon des Stolzes bäumte sich wieder in ihr empor mit seiner ganzen verderblichen Macht. Wie oft schon hatte er allen besseren Regungen zum Trotz das Feld behauptet, wenn auch nicht immer zum Segen für sie und Andere. Aber heute mischte sich seine Stimme doch mit einer anderen. „Arthur wehrt sich wie ein Mann gegen das Unglück, das von allen Seiten auf ihn einstürmt, aber er wird ihm doch zuletzt unterliegen!“ Und wenn er unterlag, so erlag er allein, allein wie er in dem ganzen Kampfe gestanden, er hatte keinen Freund, keinen Vertrauten, nicht einen einzigen. Wie sehr ihm auch die Beamten ergeben sein mochten, wie sehr die Fremden ihn jetzt bewunderten, nahe stand ihm Keiner; ein Herz hatte Keiner für ihn, und die Gattin, deren Platz jetzt an seiner Seite war, sie unterschrieb in diesem Augenblicke