„Der Courierzug nach M. ist schon seit einer halben Stunde fort, Papa,“ unterbrach ihn Curt lakonisch. „Und eben scheint auch der Wagen vom Bahnhofe zurückzukommen. Es ist jedenfalls zu spät.“
In der That hörte man soeben den Wagen, dessen sich die junge Frau ohne Zweifel bedient hatte, unten in das Portal einfahren. Der Baron sah jetzt auch ein, daß es zu spät war, und nun wendete sich sein ganzer Zorn gegen seinen Sohn. Er warf ihm vor, allein an Allem schuld zu sein; er habe durch seine thörichte Bewunderung für den Schwager, durch seine übertriebenen Berichte von dessen Lage Eugeniens Gewissen aufgestachelt, bis ein falsches Pflichtgefühl sie antrieb, an die Seite ihres Gatten zu eilen, nur weil sie ihn unglücklich glaubte, und war sie erst dort, wer konnte da wissen, ob es nicht am Ende zu einer vollständigen Aussöhnung kam, wenn Berkow egoistisch genug war, das ihm gebotene Opfer anzunehmen. Aber Windeg vermaß sich hoch und theuer, die Scheidung trotz alledem doch durchzusetzen. Die Sache war einmal eingeleitet, der Justizrath hatte sie bereits in Händen, und Eugenie sollte und mußte zur Vernunft zurückkehren. Er, der Baron, wollte doch einmal sehen, ob er seine väterliche Autorität nicht mehr geltend machen könne, wenn auch zwei seiner Kinder – hier traf ein niederschmetternder Blick den armen Curt, der augenblicklich allein zur Stelle war – sie so gänzlich zu mißachten schienen.
Curt ließ den ganzen Sturm über sich ergehen, ohne sich mit einer Silbe zu vertheidigen; er wußte aus Erfahrung, daß dies das beste Mittel sei. Mit tiefgesenktem Kopfe und niedergeschlagenem Blicke schien er in der That außerordentliche Reue zu empfinden über seinen Leichtsinn und über das Unheil, das er damit angerichtet. Als aber der Baron, noch immer ganz außer sich, den Salon verließ, um in seinen eigenen Zimmern über die unerhörte Geschichte weiter zu grollen, schnellte der junge Officier muthig in die Höhe, und der übermüthige Ausdruck seines hübschen Gesichtes, die lachenden Augen gaben leider den Beweis, wie wenig ihm der väterliche Zorn zu Herzen gegangen war.
„Morgen früh ist Eugenie bei ihrem Manne!“ sagte er zu seinen beiden Brüdern, die jetzt mit Fragen und Vorwürfen auf ihn einstürmten. „Und da soll Papa es einmal versuchen, mit seiner väterlichen Autorität und seinem Rechtsanwalt dazwischen zu kommen! Arthur wird sich seine Frau schon sichern, wenn er nur erst weiß, daß sie ihm gehört, bisher wußte er das noch nicht. Wir freilich“ – hier warf Curt einen etwas bedenklichen Blick auf die Thür, hinter der sein Vater verschwunden war –, „wir werden wohl noch acht Tage lang Sturm haben, und der allerärgste kommt noch, wenn Papa erst merkt, wie es eigentlich zwischen den Beiden steht, und daß da von ganz etwas Anderem die Rede ist als blos von Gewissen und Pflichtgefühl; aber dafür bekommt Arthur jetzt vollen Sonnenschein, und damit und mit Eugenie an der Seite wird er sich schon durchschlagen. Den Scheidungsproceß sind wir nun Gott sei Dank los, inclusive Gerichte und Justizräthe – und wer von Euch mir jetzt noch ein einziges Wort gegen meinen Schwager sagt, dem werde ich darauf antworten!“
15
Es war in den ersten Vormittagsstunden des nächsten Tages, als die Postchaise, die soeben den Weg von M. nach den Berkow’schen Besitzungen zurückgelegt hatte, am Eingange des Thales Halt machte, in dem die Werke lagen, deren erste Häuser man bereits in unmittelbarer Entfernung vor sich sah.
„Thun Sie das nicht, gnädige Frau!“ sagte der Kutscher, in das Innere des Wagens hineinsprechend. „Kehren Sie lieber um mit mir, wie ich Sie schon auf der letzten Station bat. Schon dort habe ich’s gehört, und der Bauer, der uns soeben begegnete, sagt es auch. Es giebt heute Mord und Todtschlag da drüben auf den Werken; von den Arbeiterdörfern sind sie heute schon in aller Frühe hinübergezogen, und nun geht es drunter und drüber. Ich kann Sie beim besten Willen nicht nach Hause fahren; ich riskire Pferde und Wagen dabei. Wenn die drüben einmal im Revoltiren sind, dann schonen sie nicht Freund, nicht Feind. Sie werden doch nicht just heute hinüber müssen; warten Sie doch bis morgen!“
Die junge Dame, welche ganz allein im Wagen saß, öffnete statt aller Antwort den Schlag und stieg aus.
„Ich kann nicht warten,“ sagte sie ernst; „aber ich will Sie und Ihr Fuhrwerk auch nicht in Gefahr bringen. Die Viertelstunde werde ich wohl zu Fuß zurücklegen können. Kehren Sie um!“
Der Kutscher erschöpfte sich noch einmal in Warnungen und Vorstellungen; er fand es gar zu seltsam, daß die fremde, vornehm aussehende Dame, die ihn mit einem überreichlichen Trinkgelde zu möglichst schneller Fahrt bewogen hatte, sich so ganz allein in den Tumult wagen wollte; aber er erreichte nichts damit, als einen etwas ungeduldigen Abschiedswink, und mußte sich endlich achselzuckend zur Umkehr entschließen.
Eugenie hatte einen Fußpfad betreten, der, ohne die Werke selbst zu berühren, über die Wiesen nach dem Ausgange des Parkes führte und der voraussichtlich noch sicher war. Im schlimmsten Falle fand sie in den nach jener Richtung hin gelegenen Beamtenwohnungen Schutz und Begleitung. Wie nothwendig hier Beides war, hatte sie freilich nicht gewußt, als sie, nur der Eingebung des Augenblickes folgend, ganz allein die Reise und die Fahrt hierher unternahm, und auch jetzt kannte sie noch nicht den ganzen Umfang der Gefahr, der sie sich mit diesem Gange aussetzte. Die Möglichkeit einer Gefahr war es nicht, die ihren Wangen diese erhöhte Farbe, ihren Augen dieses unruhige Leuchten gab und ihre Brust so heftig pochen machte, daß sie bisweilen stehen bleiben mußte, um Athem zu schöpfen; es war die Furcht vor der Entscheidung. Der schwere Traum, der sich auf sie niedergesenkt, als sie das Haus ihres Gatten verließ, er hatte nicht weichen wollen während der ganzen Zeit der Trennung. Nicht die Heimath und die Liebe der Ihrigen, nicht all’ die Stimmen eines neuen Lebens und Glückes hatten sie daraus erwecken können; der Traum war geblieben mit seinem dumpfen Schmerz und seinem dunklen Sehnen. Jetzt endlich sollte das Erwachen kommen, und alle Empfindungen, alle Gedanken der jungen Frau drängten sich zusammen in der einen Frage: „Wie wird er Dich empfangen?“
Sie hatte soeben ein kleines einzelnstehendes Haus erreicht, das gleichsam den äußersten Vorposten der Werke bildete, als ihr von dort her eilig ein Mann entgegenkam, der bei ihrem Anblick mit dem Ausdrucke sichtbaren Schreckens zurückfuhr.
„Gnädige Frau! Um Gotteswillen, wie kommen Sie hierher, und das gerade heute?“
„Ah, Schichtmeister Hartmann, Sie sind es!“ sagte Eugenie ihm entgegentretend. „Gott sei Dank, daß ich gerade Ihnen begegne! Es sind Unruhen auf den Werken ausgebrochen, wie ich höre. Ich habe meinen Wagen dort drüben gelassen; der Kutscher wagte nicht weiter zu fahren. Ich will jetzt zu Fuß hinüber nach dem Hause.“
Der Schichtmeister machte eine heftig abwehrende Bewegung.
„Das können Sie nicht, gnädige Frau; das geht jetzt nicht. Vielleicht morgen, vielleicht gegen Abend, nur jetzt nicht.“
„Weshalb nicht?“ fuhr Eugenie erbleichend auf. „Ist unser Haus bedroht? Mein Gatte –“
„Nein, nein, Herrn Berkow gilt es heute nicht; der ist im Hause mit den Beamten. Diesmal ist’s unter uns selber losgebrochen. Ein Theil der Knappschaft hat heute Morgen die Arbeit wieder aufnehmen wollen; mein Sohn –“ hier zuckte es schmerzlich über das Gesicht des alten Mannes, „nun, Sie werden ja am Ende auch wissen, wie er zu der Geschichte steht – Ulrich wüthet darüber. Er und sein Anhang haben die Leute mit Gewalt zurückgetrieben und halten nun die Schachte besetzt. Die Anderen wollen sich das nicht gefallen lassen und rotten sich nun auch zusammen; die ganzen Werke sind in Revolte, ein Camerad ist gegen den andern! O du barmherziger Gott, was wird das noch geben!“
Der Schichtmeister rang die Hände. Die junge Frau vernahm jetzt von drüben her wüstes Lärmen und Toben, das trotz der Entfernung deutlich zu ihr herüberdrang.
„Ich beabsichtige auch die Werke zu vermeiden,“ entgegnete Eugenie. „Ich wollte über die Wiesen nach dem Parke zu gelangen suchen und von dort –“
„Um Himmelswillen, nur da nicht!“ fiel der Alte ein. „Da ist der Ulrich mit seiner ganzen Partei; sie halten Rath auf der Wiese. Ich wollte eben hinüber und ihn noch einmal bitten, doch endlich Vernunft anzunehmen und wenigstens die Schachte freizugeben; es