trat eine secundenlange Pause ein, aber der sichtbare Kampf in Arthur’s Zügen wich allmählich dem Ausdruck einer finsteren Entschlossenheit.
„Ich werden nach M. schreiben! Der Brief soll noch heute dorthin – es muß sein!“
„Endlich!“ sagte der Oberingenieur halblaut und wie mit halbem Vorwurf. „Es war auch hohe Zeit.“
Arthur wandte sich zu seinem Schreibtische. „Gehen Sie jetzt und sorgen Sie dafür, daß der Director und die übrigen Herren auf den Posten bleiben, die ich ihnen angewiesen habe, als ich vorhin auf den Werken war. Sie sollen sich nicht rühren, bis ich selbst komme. Heute Morgen wäre es nutzlos gewesen, in das Toben dort einzugreifen; vielleicht ist das jetzt möglich. In einer halben Stunde bin ich bei Ihnen. Fällt inzwischen etwas Besonderes vor, so senden Sie mir sofort Nachricht herüber!“
Der Beamte, im Begriff sich zu entfernen, trat noch einmal an die Seite seines Chefs. „Ich weiß, was der Entschluß Sie kostet, Herr Berkow,“ sagte er ernst, „und leicht nimmt gewiß Keiner von uns die Sache, aber man braucht doch nicht immer das Aergste zu fürchten. Vielleicht geht es dennoch ab ohne Blutvergießen.“
Der Oberingenieur war, als er mit kurzem Gruße das Zimmer verließ, viel zu eilig und hatte den Kopf zu voll von anderen Dingen, als daß er die junge Frau hätte bemerken sollen, die sich bei seinem Nahen noch tiefer in den Schutz der Portière flüchtete. Ohne auch nur einen Blick seitwärts zu werfen, durchschritt er das anstoßende Gemach und schloß die Thür hinter sich. Die beiden Gatten waren allein.
Arthur hatte nur ein bitteres Lächeln gehabt für die letzten Worte seines Beamten. „Es ist zu spät!“ sagte er jetzt dumpf vor sich hin. „Sie werden nicht weichen ohne Blut – ich werde ernten müssen, was mein Vater gesäet hat!“
Er warf sich auf den Sessel nieder und stützte den Kopf in die Hand. Jetzt, wo er nicht mehr den fremden Augen Rede zu stehen, wo er nicht mehr den Chef zu vertreten hatte, von dessen Entschlossenheit die aller Uebrigen abhing, jetzt wich die Energie aus seinen Zügen, um dem Ausdruck jener tödtlichen Erschöpfung Platz zu machen, der auch der Stärkste unterliegt, wenn er wochenlang all seine Geistes- und Körperkräfte bis an die äußerste Grenze des Möglichen hin angespannt und überreizt hat. Es war ein Augenblick tiefer verzweifelter Muthlosigkeit, wie sie wohl einem Manne nahen konnte, der immer und immer wieder vergebens ankämpft gegen den Fluch einer Vergangenheit, gegen die er nichts verschuldet, als ein gleichgültiges Fernhalten von ihren Aufgaben, und deren verhängnißvolles Erbe doch mit seiner ganzen erdrückenden Last auf ihn allein fällt. Die schwere Anklage gegen den Vater, die sich unwillkürlich seinen Lippen entwand, verstummte zwar in dem gleichen Augenblick vor den furchtbaren Andeutungen, die er soeben über die Todesstunde dieses Vaters erhalten hatte, und doch hatte der allein es verschuldet, wenn der Sohn jetzt nach all dem verzweifelten Ringen doch endlich der letzten schrecklichen Nothwendigkeit gegenüberstand, wenn er, seinen Ruin vor Augen, verlassen von seinem Weibe, aufgegeben von all seinen ehemaligen Freunden, zum letzten Mittel griff, um sich und das, was er für den Augenblick noch sein nannte, vor einem Hasse zu sichern, der, jahrelang gesäet und genährt, ihm jetzt seine volle bittere Frucht zu kosten gab. Arthur schloß wie todtmüde die Augen und lehnte den Kopf an die Lehne des Armsessels – er konnte nicht mehr.
Eugenie hatte leise ihr Versteck verlassen und war auf die Schwelle getreten. Vergessen war die vorhin überstandene Gefahr, vergessen die Anklage des Beamten, die sie eben noch mit solchem Entsetzen durchschauert, vergessen auch Der, dem sie galt, und Alles, was sich an ihn knüpfte; jetzt, wo sie ihrem Gatten nahte, sah und dachte sie nichts weiter, als nur ihn allein. Der Schleier, der so lang und dicht zwischen ihnen Beiden gelegen, sollte jetzt endlich zerreißen. Es mußte klar werden, und doch bebte sie vor der Entscheidung, als solle ihr Todesurtheil damit gesprochen werden. Wenn sie sich täuschte, wenn sie nicht so empfangen wurde, wie sie empfangen werden wollte und mußte nach diesem Opfer, das sie ihrem Stolze abgerungen – das Blut drängte mit stürmischer Gewalt zum Herzen der jungen Frau, und dieses Herz pochte in namenloser Angst – an der nächsten Minute hing für sie Alles.
„Arthur!“ sagte sie leise.
Arthur fuhr auf, als habe eine Geisterstimme sein Ohr berührt, und blickte um sich. Dort auf der Schwelle, wo sie ihm Lebewohl gesagt für immer, stand sein Weib und in dem Moment, wo er sie erkannte, schwand Besinnung und Ueberlegung. Er machte eine Bewegung, ihr entgegen zu stürzen, und der Aufschrei des Glückes, der sich seinen Lippen entrang, das Aufleuchten seiner Augen verrieth alles, was eine mondenlange Selbstbeherrschung ihr bis auf diese Stunde abgeleugnet.
„Eugenie!“
Die junge Frau athmete auf, als sei eine Bergeslast von ihrer Brust gesunken. Der Blick, der Ton, mit dem er ihren Namen rief, gaben ihr endlich die so lang bezweifelte Gewißheit, und wenn er auch mitten in seiner stürmischen Bewegung inne hielt, wenn er wie zum Schutze gegen sich selbst die alte Maske wieder vorzunehmen strebte und den verrätherischen Blick verschleierte, es war zu spät, sie hatte zu viel gesehen!
„Wo kommst Du her?“ fragte er endlich, sich mühsam fassend, „so plötzlich – so unerwartet – und wie gelangtest Du in’s Haus? Die Werke sind noch in vollem Aufruhr. Du kannst sie unmöglich passirt haben.“
Eugenie näherte sich langsam. „Ich bin erst vor wenigen Minuten angekommen. Den Zugang habe ich mir freilich erst erzwingen müssen; frage mich jetzt nicht wie – genug daß ich ihn erzwang. Ich wollte zu Dir, ehe die Gefahr Dich erreichte.“
Arthur machte einen Versuch, sich abzuwenden. „Was soll das, Eugenie? Was willst Du mit diesem Tone? Curt wird Dich geängstigt haben mit seinen Berichten, trotz meiner Bitte, trotz meines ausdrücklichen Verbotes. Ich will kein Opfer der Pflicht und Großmuth. Du weißt es.“
„Ja, ich weiß es!“ entgegnete die junge Frau fest. „Du hast mich ja schon einmal damit von Dir gewiesen. Du konntest es mir nicht verzeihen, daß ich Dir einmal Unrecht gethan, und der Rache dafür hättest Du beinahe mich und Dich geopfert. Arthur, wer war der Schroffste, der Härteste von uns beiden?“
„Es war keine Rache,“ sagte er leise. „Ich gab Dich frei – Du hast es selbst gewollt.“
Eugenie stand jetzt dicht vor ihm; das Wort, das einst um keinen Preis der Welt seinen Weg über ihre Lippen gefunden hätte, es wurde ihr jetzt so leicht, seit sie sich geliebt wußte. Sie hob das dunkle thränenfeuchte Auge voll zu ihm empor.
„Und wenn ich nun meinem Manne sage, daß ich die Freiheit nicht will ohne ihn, daß ich zurückgekommen bin, um alles mit ihm zu theilen, was uns auch treffen mag, daß ich ihn – lieben gelernt habe: wird er mich dann zum zweiten Male gehen heißen?“
Sie erhielt keine Antwort, wenigstens in Worten nicht, aber sie lag bereits in seinen Armen, und in diesen Armen, die sie so heiß und fest umschlossen, als wollten sie das endlich Errungene nie wieder von sich lassen, unter den leidenschaftlichen Liebkosungen, mit denen er sie überströmte, fühlte Eugenie, wie tief ihn einst ihr Verlust getroffen und was ihre Rückkehr ihm war in solchem Augenblick. Sie sah das Aufstrahlen der großen braunen Augen in einem Glanze, wie sie ihn trotz alles blitzähnlichen Leuchtens darin doch noch nie gesehen. Die gebannte, versunkene Welt war herauf gestiegen aus ihrer Tiefe zum hellsten Sonnenlicht, und die junge Frau mußte doch wohl eine Ahnung haben von all den Schätzen, die sie ihr verhieß, denn sie legte mit dem Ausdruck des hingebendsten Vertrauens ihr Haupt an die Brust des Gatten, als er sich zu ihr herabbeugend leise sagte:
„Mein Weib! Mein Alles.“
Durch das offene Fenster wehte es herein wie ein Rauschen und Grüßen von den grünen Waldbergen drüben. Die Stimme mußte doch auch mitflüstern in dem neu erstandenen Glück; sie hatte es ja mit erbauen helfen. Sie hatte die Beiden längst erkannt, als sie sich selbst noch nicht kannten, als sie noch im herben Trotz und Kampf gegen einander standen und das Trennungswort aussprachen, gerade da, wo ihre Herzen sich fanden. Aber es nützt nichts, dieses Kämpfen und Trotzen der Menschenkinder, wenn sie mit ihrem Lieben und Hoffen in den Bann gerathen, den der Berggeist über sein Reich legt im wallenden Nebel der ersten Frühlingsstunde – und was sich da findet, das gehört zusammen für immer!